Morgiana (1972)
Die Filmzensur in der Tschechoslowakei war in der Folge der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 berüchtigt, da viele Filme aus der Tauwetterzeit auf Jahrzehnte unter Verschluß blieben. Auch in der Normalisierungsphase der frühen 1970er Jahre wurden selbst unpolitische Drehbücher entweder abgelehnt oder zurechtgestutzt. So ging es auch dem Regisseur Juraj Herz, dessen exaltierter Kostümfilm „Morgiana“ zwar am 1. September 1972 in die Kinos kam, aber eigentlich eine ganz andere Geschichte hätte erzählen sollen.
„Morgiana“ basiert auf der literarischen Vorlage „Jessy und Morgiana“ des russischen Schriftstellers Alexander Grin (1880–1932), der sowohl im zaristischen als auch im postrevolutionären Literaturbertrieb ein Außenseiter war und ist hierzulande kaum bekannt ist. In Osteuropa jedoch erfreuten sich seine (schauer-)romantischen Erzählungen und Romane großer Beliebtheit und wurden vielfach verfilmt. „Jessy und Morgiana“ ist eine recht schlichte Erzählung im fiktiven europäischen Adelsmilieu, in der die häßliche, böse Schwester Morgiana ihre liebreizende, gutherzige Schwester Jessy vergiftet, jedoch nach einigen Verwicklungen ihrer gerechten Strafe nicht entkommt, während Jessy überlebt und einen adretten Offizier heiratet. Wie Juraj Herz später in Interviews berichtete, sollte Grins Trivialroman lediglich den Rahmen bilden für die Geschichte einer persönlichkeitsgespaltenen Frau, die sich ihre böse Schwester nur einbildet. Jedoch wurde das Konzept von der staatlichen Filmverwaltung abgelehnt, und Herz mußte sich relativ eng an Grins Romanvorlage halten. Es bleiben jedoch in „Morgiana“ viele Elemente erhalten, die auf die ursprüngliche Ausrichtung als Schizo-Thriller verweisen: Beide Schwestern werden von Iva Janzurová gespielt, Makeup und Kostüme wirken künstlich übertrieben und wie die Karikatur eines der seinerzeit beliebten Ausstattungsfilme über das 19. Jahrhundert. Die böse Schwester, die hier Viktoria heißt, ist der klare Mittelpunkt des Films, in ihren Szenen setzt Herz dissoziierende Schnitte und extreme Weitwinkelaufnahmen ein. Die entfesselte Handkamera nimmt oft die Perspektive einer Siamkatze namens Morgiana ein, und Klaras durch die Vergiftung zunehmend verzerrte Wahrnehmung spiegelt sich in photochemischen Verfremdungseffekten. Die Handlung ist sprunghaft und teilweise schwer nachzuvollziehen (und ergibt nur Sinn, wenn man die Vorlage von Grin kennt) – „Morgiana“ wirkt wie ein wilder, unbändiger Film, der in den Käfig einer konventionellen Erzählung gezwängt wurde, diesen jedoch immer wieder zu sprengen droht.
Herz' Interesse für psychisch auffällige Antihelden hatte sich schon in „Spalovac mrtvol“ (1968, Anniversary-Text) niedergeschlagen, und man kann nur spekulieren, wie in „Morgiana“ eine unzuverlässige Erzählerin (wie man sie von E.T.A. Hoffmann kennt) den Zuschauer in die Irre geführt und der Film die Abgründe einer wahnhaften Psyche erforscht hätte... Und doch ist „Morgiana“ über die Jahre auch im Westen immer bekannter geworden und genießt inzwischen einen Ruf als Geheimtip, da die erotischen, vampiresken Aspekte und das Doppelgängermotiv mit ähnlich gelagerten Gothic-Horror-Filmen von z.B. Jean Rollin korrespondieren. Ostalgica hat den Film auf Blu-ray bei uns herausgebracht (Fassungseintrag), die Kritik von Ännchen von Tharau schildert eindrücklich, wie stark der Film wirkt, auch wenn man weder die Vorlage noch die ursprüngliche Absicht von Juraj Herz kennt.
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