„Der Rattenfänger von Hameln" ist eine der populärsten deutschen Sagen überhaupt: Die Gebrüder Grimm datierten sie im Jahr 1284, als ein seltsam gekleideter Mann die Stadt Hameln mit seinem Flötenspiel, dem die Tiere nachfolgten, von einer Rattenplage befreite. Doch als ihm die Bewohner dafür die versprochene Entlohnung verweigerten, kam er später zurück und lockte mit seinem Flötenspiel ebenfalls die Kinder der Stadt weg, welche - bis auf ein blindes und ein stummes - nicht zurückkehrten. Dieses Erzählung wurde häufig variiert und bis heute in 30 Sprachen übersetzt. Eine der wohl bekanntesten Interpretationen stellt Robert Brownings Gedicht The Pied Piper of Hamelin dar, welches 1889 erschien. Auf den Motiven Brownings basiert lose „Das süße Jenseits" von Atom Egoyan nach dem gleichnamigen Roman von Russell Banks.
Der Alltag einer Kleinstadt wird durch ein folgenschweres Unglück maßgeblich verändert: Der Schulbus mit den Kindern der Gemeinde kommt im tiefsten Winter von der Fahrbahn ab und stürzt die Böschung hinunter auf einen zugefrorenen See. Unter dem Gewicht des Busses bricht das Eis ein, nur die Busfahrerin Dolores (Gabrielle Rose) und Nicole (Sarah Polley), eines der älteren Kinder überleben, alle anderen Insassen des Busses, alles Kinder, sterben. Einige Zeit nach dem Unglück taucht der Anwalt Mitchell Stephens (Ian Holm) auf, dessen Tochter drogenabhängig ist. Er will die trauernden Eltern zu einer Sammelklage gegen den Hersteller des Busses bewegen. Doch der scheinbar einfache Job wir im Angesicht von aufgeladenen Emotionen zu einem schwierigen Unterfangen...
„Es ist eine Geschichte über das Heilen tiefer seelischer Wunden und die moralischen Entscheidungen, die bei diesem Heilungsprozess getroffen werden müssen" hat Atom Egoyan über seinen Film gesagt. Dabei stellt allerdings der Heilungsprozess einen schwierigen, langwierigen Gang dar in der Allgegenwart von aufgestauten Emotionen um Verlust, Trauer, Zorn und Rachsucht. Jede Figur, jeder Charakter im Film hat seine eigene, traurige Geschichte zu erzählen, bei der Verbitterung sowohl als Ausgangspunkt als auch als Konsequenz einer Tragödie um das Busunglück fungiert, bedenkt man die zermürbenden Folgen, die zwar nicht den Weg in den Film fanden, wohl aber in Banks´ Vorlage dargelegt sind. Der Gerichtsprozess kocht all die alten Erinnerungen wieder hoch; es folgen weitere Klagen und Verhandlungen, die sich so lange hinziehen, bis die trauernde Gemeinde auseinander bricht und jeder jeden verklagt.
Mitchell Stephens, ein vordergründig energisch auftretender, aber tief verbitterter Anwalt wird zum Rattenfänger für die Erwachsenen. Er „sammelt" die Erwachsenen für die Klage ein, wobei er sie nicht mit seiner Musik, sondern mit seinen Worten verführt: Er gibt vor, dem Zorn der Eltern eine Richtung zu geben, als Ventil zu dienen, doch führt dieser ungerichtete Aktionismus letztendlich nur dazu, dass alte Wunden, die nie richtig verheilt waren, wieder aufreißen. In Anbetracht seiner eigenen Tragödie um die drogensüchtige Tochter, die ihn immer nur per R-Gespräch anruft, um Geld zu erbitten, kocht in ihm die Wut. Was hat er nicht alles versucht, sie aus den mörderischen Klauen der Drogen zu befreien mit Therapien und Krankenhausaufenthalten, wie viel Mühe hat er sich mit der Erziehung von ihr gegeben, alles umsonst. Er frisst den Ärger in sich hinein, um ihn bei seinem potenziellen Fall um die Schadensersatzklage und bei einer Zufallsbekanntschaft im Flugzeug, welche vorgibt, die Jugendfreundin seiner Tochter zu sein, zu entladen. Diese Kanalisierung seiner aufgestauten Aggression gehört zu den packendsten Momenten dieses Films der leisen Töne. Auf drei Zeitebenen rekonstruiert „Das süße Jenseits" die Vergangenheit des Anwalts und der Eltern vor dem Busunglück, das Busunglück selbst sowie die Zeit danach (und alternierend die Sorgen des Anwalts), ohne je verwirrend oder kompliziert überfrachtet zu wirken.
Nüchtern und kalt, ebenso wie die winterliche Berglandschaft, wird das frostige emotionale Klima der Protagonisten porträtiert. Es ist diese psychosoziale Plausibilität und Intensität, die dafür sorgte, dass „Das süße Jenseits" in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Mit den Kindern ist in der verschneiten Kleinstadt auch der Glaube an die Zukunft gegangen. Der Mikrokosmos Kleinstadt steht ebenso am Abgrund, wie dies gut neun Jahre später Alfonso Cuarón in seinem beeindruckenden Film „Children of Men" für alle Gesellschaften der Welt voraussagte, welche aufgrund des Verlusts der Kinder (allerdings dort durch allgemeine Unfruchtbarkeit) jegliche Kitts verloren hat und Trauer oder Hoffnungslosigkeit umschlägt in Aggression.
Atom Egoyan, der auch das Skript zu seinem Film schrieb, greift dabei in „Das süße Jenseits" denkbar ungemütliche Themen und Fragestellungen auf: Kann eine finanzielle Entschädigung seelische Wunden heilen? Ein Elternteil, Billy (Bruce Greenwood), ist bei dieser Fragestellung das personifizierte Gewissen, das bei den klagewilligen Eltern des einzigen überlebenden Kindes auftritt, vermag aber nicht die Mauer der Trauer und die ungezielte Suche nach Wiedergutmachung, die sich im Streben nach Geld niederschlägt, zu überwinden.
Wie weit dürfen Kinderliebe (Thema: Inzest) und Trauer gehen? Der Film liefert keine eindeutigen Antworten, was aber zwecks Objektivität auch gut so ist. Die ruhige, aber pulsierend-brodelnde Musik und die kargen Bilder der Winterlandschaft verstärken dabei diesen Eindruck.
Und selten hat Ian Holm so beklemmend gespielt wie hier: Geistesabwesend, nahezu besessen, kanalisiert allein schon sein trauriger, aber gleichwohl auch zorniger Blick seine tiefe Verbitterung, die erst das Sterben des Falles durch eine ungünstige Zeugenaussage der Wind aus den Segeln genommen wird. Saulus wurde filmisch selten glaubwürdiger geläutert.
„Im süßen Jenseits" - so heißt es in einem Negro Spiritual, einem Vorläufer des Gospels aus den Zeiten der Sklaverei in den USA - „werden wir alle zusammenleben." Schmerz und Zuversicht können manchmal so eng beieinander liegen. Alles kann sich verändern, doch der Glaube bleibt - wenn die Hoffnung obsiegt.
Fazit: Beklemmend intensives Psychodrama, dass sich unterschwellig zu einer Tragödie biblisches Ausmaßes entfaltet. „Das süße Jenseits" ist die weitgehend nüchterne, aber dennoch sehr persönliche Studie Atom Egoyans zu den Themen Trauer, Zorn, Verlustangst und der Ambivalenz menschlicher Beziehungen. Ian Holm spielt dabei grandios zwischen Pflicht und Arbeit (Objektivität) und persönlicher Kompensation von Wut (Subjektivität). Ein Meisterwerk der leisen Töne.