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Der russische Regisseur Andrej Tarkovskij ist wohl eine der bislang am meisten unterschätzten Größen der Filmgeschichte. Obwohl man seine 8 Filme - er starb mit 54 Jahren viel zu früh an Krebs - qualitativ ausnahmslos zu den ganz großen Meisterwerken der Filmkunst zählen darf, ist er mitsamt seinen Werken bis heute nur einem relativ kleinen Kreis spezieller Liebhaber bekannt geworden.

Mit dem äußerst anspruchsvollen, philosophischen Science-Fiction-Roman "Solaris" von Stanislaw Lem wagte sich Tarkovskij an einen Stoff, dessen Verfilmung dem Kenner dieses Buches eigentlich gänzlich unmöglich erscheinen muß - zumal unter den in jeder Beziehung beschränkten Möglichkeiten in der Sowjetunion der 70er Jahre. Das schier Unmögliche gelang aber tatsächlich: der Film bringt dem faszinierten Zuschauer die wichtigsten Kernaussagen des Romans auch weit jenseits der oberflächlichen Handlungslinie nahe, wenn er auch dabei nicht so kühn und frei in universalphilosophische Weiten ausschweifen kann wie das literarische Vorbild. Was einem Film an Reichweite der Fantasie zwangsläufig fehlen muß, gleicht Tarkovskij mit der Intensität seiner ruhigen, schlichten Bildersprache und mit sorgfältigst gesetzten, geistig wie emotional außerordentlich tief gründenden Dialogen aus, in denen jedes einzelne Wort für ganze Welten steht. Eine durchweg grandiose, schauspielerische Leistung aller beteiligten Akteure tut das Übrige zu einem Filmkunstwerk, das den anspruchsvollen Zuschauer schon beim ersten Anschauen überzeugt und mit jedem weiteren Mal mit immer neuen Facetten zunehmend begeistert.

Der Planet Solaris ist schon seit Generationen von Forschern ein ungelöstes Rätsel geblieben: sein den Planeten fast gänzlich bedeckender, aus organischer Materie bestehender Ozean scheint eine dem Menschen weit überlegene Intelligenz mit kaum vorstellbaren Fähigkeiten zu bergen. Aber über mehr als hundert Jahre hinweg scheitert jeder Versuch, mit dieser Intelligenz in Verbindung zu treten: so offensichtlich der Ozean auch auf einer oberflächlichen Ebene auf seine menschlichen Besucher reagiert, und so sehr seine unbeschreiblich komplizierten, mathematisch wie künstlerisch beeindruckenden Ausformungen immer wieder faszinieren - es gelingt den Menschen nicht, in all dem irgendeinen konkreten Sinn zu begreifen.

In einer in geringer Höhe über dem rätselhaften Ozean schwebenden Forschungsstation sind nach Jahrzehnten von ursprünglich 85 Menschen nur noch drei Männer verblieben: der Physiker Dr. Sartorius, der Biochemiker Dr. Snaut und der Psychologe Kris Kelvin. Letzterer wurde von seinem Freund und ehemaligen Chef Dr. Gibarian zu der Station gerufen, um der Besatzung aus einer bedrohlichen, psychischen Krise zu helfen. Für Gibarian selber kommt die Hilfe zu spät; einen Tag vor Kelvins Eintreffen hat er Selbstmord verübt. Die beiden anderen Wissenschaftler sind sichtlich verstört und einem Nervenzusammenbruch nahe, die ganze Station befindet sich in einem chaotischen, verwahrlosten Zustand.

Den Anlass für die Krise liefert das Erscheinen menschlich wirkender "Gäste" in der Station, die offenbar Solaris aus Erinnerungen und Assoziationen der Besatzungsmitglieder kreiert hat. Es sind keine wirklichen Menschen; auf subatomarer Ebene scheinen sie aus Neutrino-Strukturen zu bestehen, die nur im Umfeld und unter dem Einfluß der Solaris stabil sein können. Geistig verfügen sie anfangs ausschließlich über Erinnerungen, die aus dem Kopf des jeweiligen Wissenschaftlers stammen; sie lernen aber schnell hinzu und entwickeln sich zu selbständigen Persönlichkeiten. Nur eines ist ihnen gemeinsam: es sind Abbilder derjenigen Personen, mit denen der Mensch, aus dem sie kreiert wurden, seine tiefsten, aufwühlendsten Emotionen verbindet - als ob Solaris die Wissenschaftler mit ihren eigenen, verdrängten Gefühlen buchstäblich persönlich konfrontieren wollte.

Ihrer unterschiedlichen Weltsicht entsprechend, reagieren die Wissenschaftler auch sehr unterschiedlich auf die ungebetenen Gäste. Dr. Sartorius versucht seinen "Gast" so weit wie nur irgend möglich einzugrenzen und zu verstecken, er sieht ihn rein rational als bloßen Störfaktor seiner Arbeit und versucht eine Apparatur zu entwickeln, die die seltsame Erscheinung zerstören könnte. Dr. Snaut läßt sich von seinem Gast grundlegend verunsichern und beginnt in der Folge an sich und am Sinn und Wert der ganzen Forschungsmission zu zweifeln. Kris Kelvin schließlich - eigentlich auf die Station gekommen, um der Besatzung aus dieser Krise zu helfen - wird von seinem persönlichen "Gast" emotional völlig in Beschlag genommen und überwältigt: es ist seine schon vor vielen Jahren verstorbene, junge Ehefrau, an deren Suizid er sich schuldig fühlt.

Die schauspielerische Leistung Natalya Bondarchuks als "Kopie" von Kelvins Ehefrau Hari verdient spezielle Würdigung. In einer der vielen Schlüsselszenen treffen sich die drei Männer und Hari zu einer Geburtagsfeier Snauts, der selbst - offenbar aufgehalten von seinem eigenen "Gast" - mit zerrissenem Anzug erst anderthalb Stunden verspätet zu seiner eigenen Feier kommt. In dem sich dabei entwickelnden, philosophischen Gespräch liest Hari Dr. Sartorius wütend und unter Tränen die Leviten: weil sie - obwohl sie sich inzwischen durchaus ihrer eigenen Natur als bloße, unvollständige "Kopie" eines Menschen, als eine Art leere Matrix bewußt ist - bereits weit mehr originär Menschliches in sich fühlt, als Sartorius in seinem rationalen Forschungsdrang an der menschlichen Spezies überhaupt wahrhaben und wertschätzen will.

In solch ausdrucksstarken Filmszenen verdichtet Starkovskij Stanislaw Lems ontologische Sinn-, Bedeutungs- und Identitätssuche als das eigentliche Thema des Romans zu unmittelbar erfahrbaren, tief berührenden Erlebnissen. Das Trio der drei Männer, die drei grundlegend unterschiedliche Weltsichten repräsentieren, und die Frau als emotionaler Gegenpol kehren in Starkovskijs späterem Meisterwerk "Stalker" wieder - teilweise sogar mit denselben, exzellenten Schauspielern: Jüri Järvet, in "Solaris" als Kris Kelvins Vater eine Schlüsselfigur der Rahmenhandlung, spielt in "Stalker" den Wissenschaftler, und Anatoli Solonitsyn, der in "Solaris" den rationalen Physiker verkörpert, vertritt in "Stalker" als Schriftsteller menschliche Leidenschaften.

Starkovskijs Filme gehören zu den wenigen, die man trotz epischer Länge immer wieder ansehen kann: ohne jede Langeweile, und jedesmal wieder mit neuen Erkenntnissen.

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