Fährt man die Interstate 10, die von Florida quer durch die USA bis nach Kalifornien führt, von Louisiana weiter nach Westen, betritt man Texas. Den berühmt-berüchtigten Ort, an dem viele bewaffnet sind, kaum jemand liberal wählt, prozentual die meisten Delinquenten auf dem elektrischen Stuhl landen und den George W. Bush seine Heimat nennt. Das ist die eine Seite dieses vielen Europäern unheimlichen, zweitgrößten Bundesstaats der USA. Aber es gibt noch eine weitere. Texas, das zweieinhalbmal so groß ist wie Deutschland, erstreckt sich mit seinen Flusstälern, Wäldern, Prärien, Niederungen und herrlichen Stränden 1300 Kilometer in West-Ost-Richtung, durch mehrere Klimazonen, von den Rocky Mountains bis an den Golf von Mexiko. Man trifft dort kaum Ausländer oder Touristen, denn der Staat liegt zu weit entfernt von den Sehenswürdigkeiten des Westens und den Metropolen des Ostens - was ihn zu einer Art Tipp von und für Reiseprofis macht. 90 Prozent der Texaner leben in den Städten und haben damit das Frontier-Leben ihrer Vorfahren hinter sich gelassen. Doch die verbleibenden 10 Prozent der halsstarrigen, einstigen Pioniere fristen ihr Dasein auf dem Land. Auf den umzäunten, viehbestandenen Ebenen, die nur alle zwei Autostunden von einer kleinen Ortschaft zivilisiert werden. Es ist dort alles fast wie einst. Selbst die Outlaws treiben hier noch ihr Unwesen. Und die setzt nun ein schottischer Regisseur gekonnt in Szene.
„Neo-Western". Das klingt wehmütig. Und riecht nach Freiheit. Nach der Abwesenheit von zivilisatorischen Zwängen. Nach der Suche und der Sucht nach Vergangenem. Nach staubigem Kontrast zur modernen, Anzug tragenden Wirtschaftskrise der Wolkenkratzer der Ostküste. Und genau diesen Gegensatz nimmt der bisher recht unauffällige Filmemacher David Mackenzie zum Anlass, eine Ode an den so (un)einladenden Bundesstaat des südlichen Mittleren Westens vorzutragen. Er unternimmt eine Fahrt durch Trailerparks und Wellblechhäuser, durch das Open Range des einstigen Grenzlands, und er stattet der ländlichen Unterschicht dieses Nirgendwo einen Besuch ab. Dabei entwickeln die von ihm eingefangenen, eigentlich nüchtern unromantischen Bilder einen unwiderstehlichen Reiz. Obwohl sie ohne Politur, ohne Glanz und ohne rettende Fassade auf die Leinwand geworfen werden. Und dafür gibt es einen Grund. Der Schotte will nämlich nichts anderes, als die Authentizität des Western-Genres sozusagen apodiktisch und ein für alle Mal ins neue Jahrtausend hinüberretten. Und nichts weniger gelingt ihm.
Wie in längst vergangenen Tagen machen sich zwei Räuber daran, eine Bank nach der nächsten auszunehmen. Dreist, draufgängerisch und ohne jeden Gedanken an das Morgen. Der eine ist der gut aussehende Chris Pine. Der andere ist der stets bedrohlich wirkende Ben Foster, sein Film-Bruder. Als Prototypen des von der Weltwirtschaftskrise getroffenen, vom Establishment zurückgelassenen und von den Banken düpierten ländlichen Prekariats, lernen wir die beiden näher kennen. Und zwar innerhalb weniger Filmminuten so gut, dass wir mit ihnen mitfühlen, mitfiebern und an ihren Verbrechen mitschuldig werden. Dabei sind die beiden keine Robin Hoods, sondern handeln allein im Familieninteresse. Dass man dabei die verhasste, fiktive Texas Midlands Bank um ihr ergaunertes Geld erleichtert, ist nur ein willkommener Nebeneffekt und kein wesentlicher Antrieb. Erwartungsgemäß kommt es, wie es kommen muss, und unschuldige Menschen sterben. Doch wir halten den beiden kriminellen Geschwistern, denen wir längst das Erreichen ihrer Ziele wünschen, die Treue. Wie Marionetten in den Händen einer exzellenten Regie. Und naiv dazu - wissen wir doch, dass ein Drama oft im Drama endet.
Doch auch die Gegenseite weckt Sympathien. Jeff Bridges und sein indianischer Kollege (Gil Birmingham) repräsentieren die Polizei, den Staat, das Recht und das moralische Korrektiv. Auch diese beiden kauzigen Typen wachsen bald ans Herz, und es wird uns zunehmend mulmig, wenn wir daran denken, dass ein Showdown nicht nur Sieger kennt. Die beiden Sheriffs wirken nicht zufällig wie die Relikte einer Zeit, in der John Wayne und Randolph Scott als amerikanische Haudegen und kernige Musterknaben gehandelt wurden. Nur das gegenseitige Necken, das das einst problematische Verhältnis mit den amerikanischen Ureinwohnern und das ihnen zugefügte Leid wieder und wieder zum Thema macht und humorvoll kommentiert, verrät den wahren zeitlichen Hintergrund der beiden in die Jahre gekommenen Männer. Mit viel Fingerspitzengefühl werden also die traditionellen Elemente des klassischen Western so neujustiert, dass sie mit dem Geschmack des modernen Zuschauers kompatibel sind, ohne dem Genre untreu zu werden.
„Hell or High Water", das auf Deutsch etwa so viel bedeutet, wie „Auf Biegen und Brechen", ist ein Film über Männerfreundschaft, über unerfüllte Sehnsüchte und den nicht immer begrüßenswerten Wandel der Zeit. Er ist - trotz der sporadischen Schusswechsel - eine Charakterstudie, eine Ortsbegehung, aber kein Actionfilm. Der intensive Kontakt mit dem glaubwürdigen Lokalkolorit verkommt jedoch nie zur Überdosis, sondern wird zum Erlebnis. Ungeachtet der Tatsache, dass Mackenzies Film zum großen Teil im benachbarten New Mexico gedreht wurde, stimmt „Hell or High Water" eine Hymne an auf das Amerikanische Outback und seine „Don't mess with Texas Attitüde" und geriert sich dabei als Schwanengesang der Schnelllebigkeit. Ein unkonventionell getaktetes Drehbuch und eine famos zu Ende gedachte Dramaturgie sichern diesem Juwel einen Sonderstatus im Genre. Im Westerngenre.