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Denkt man an große Mafia-Epen, dann scheint das US-Kino konkurrenzlos dazustehen. Coppola und Scorsese mögen italienische Wurzeln haben, aber ihre Filme sind amerikanisches Gangsterkino in Reinkultur. Im Ursprungsland der Mafia tut man sich da erstaunlicherweise deutlich schwerer. Wirklich Herausragendes zum Thema hat dort eigentlich nur das Fernsehen hervor gebracht und das vor über 30 Jahren („Allein gegen die Mafia"). Seit kurzem besteht allerdings berechtigte Hoffnung, dass dieser aus italienischer Sicht mehr als unbefriedigende Zustand ein dauerhaftes Ende finden könnte. Der weltweite Siegeszug des neuen Qualitäts-Fernsehens, das aufgrund seiner finanziellen Strukturen (Pay-TV) und neuen Vertriebsmöglichkeiten (Streaming) aus den Zwängen des PC-Mainstreams und der Familientauglichkeit problemlos ausbrechen kann, eröffnet auch dem Mafiafilm ganz neue Möglichkeiten. Das hat man auch in Italien erkannt und mit der äußerst finsteren und brutalen „Sky Cinema"-Serie „Gomorrah" sehr erfolgreich genutzt. Der dafür engagierte Hauptregisseur Stafano Sollima nutzte die Gunst der Stunde und legte mit dem ebenfalls aus TV-Geldern (Netflix und RAI) finanzierten Kinofilm „Suburra" eindrucksvoll nach.

In ungemein stilisierten Bildern seziert Sollima die ewige Stadt als von mafiösen Strukturen durchzogenen Moloch, der alle Beteiligten gnadenlos und unaufhaltsam in den Abgrund zieht. In einer anhand der inhaltlichen Komplexität fast schon knappen Laufzeit von gut zweieinhalb Stunden entwirft er ein gleichermaßen faszinierendes wie abstoßendes Kaleidoskop aus Macht, Gier, Geld und Sex, das sämtliche Bereiche der römischen Gesellschaft gleich einem tödlichen Virus infiziert hat. Vom Vatikan, über die Politik-Elite, die Hochfinanz, einflussreiche Geschäftsleute bis hin zu diversen kriminellen Vereinigungen scheint alles und jeder beim Tanz auf der Rasierklinge mitzumischen.
Sollima setzt dabei nicht auf klare Protagonisten, oder gar Sympathieträger, sondern führt zunächst eine Vielzahl an Situationen und Personen ein, bei denen sich erst nach und nach die Bezugspunkte und gegenseitigen Abhängigkeiten heraus kristallisieren, bis im großen Finale alles an seinen Platz rückt und ein an Nihlismus und Pessimismus kaum mehr zu überbietendes Panoramabild frei legt.

Auf diese unkonventionelle Erzählstruktur muss man sich einlassen können, zumal „Suburra" nicht mit den gängigen Erklär-Einschüben aufwartet, sondern den Zuschauer sogar geistig fordert. Dafür bekommt man aber auch die heute kaum mehr erteilten Privilegien eines intelligenten Skripts und einer kunstvoll arrangierten Dramaturgie. Die Kombination aus erlesenen Bildern der Tiber-Metropole, eines hypnotischen Elektro-Scores und der inhaltichen Abgründigkeit erinnert an die ähnlich stilisierten Gangster-Epen  Michael Manns (v.a. „Heat", „Collateral" und „Miami Vice"), der nicht minder virtuos sämtliche Sinneskanäle anpeilt. Und das trotz eines im direkten Vergleich deutlich geringeren Actionanteils und eines völligen Verzichts auf einen finalen Hoffnungsschimmer. So gesehen steht Sollima fast noch mehr in der Tradition des kompromisslosen Polit- und Gangsterkinos der 1970er Jahre, als Hollywood eine seiner seltenen Phasen der Unangepasstheit, des Mutes und der Erwachsenenorientierung durchlief.

„Suburra" ist wie „Gomorrah" die Verfilmung eines Tatsachenromans, was die gelungene Verdichtung der vielschichtigen Handlung auf Spielfilmlänge noch beeindruckender macht. Entscheidend für diesen Erfolg ist eine dramaturgische „Doppel-Klammer". Zwar verzichtet Sollima bewusst auf klassische Hauptdarsteller-Arrangements, aber dennoch dienen der Parlamentsabgeordnete Filippo Malgradi (Pierfranesco Favino) sowie der von allen nur ehrfürchtig „Der Samurai" genannte mafiöse Strippenzieher (Claudio Amendola) gewissermaßen als Orientierungspunkte. Beide sind Schlüsselfiguren in einem millionenschweren Immobiliendeal, der sämtliche Figuren und Bereiche des Films verbindet. Und während wegen der Unbedachtheit und Überreaktion Malgradis die unheilvolle Kaskade aus Rache und Mord erst in Gang kommt, versucht „Der Samurai" die sich immer mehr verselbstständigenden Kollateralschäden zu begrenzen.
Unabhängig vom Figurenkarussell durchzieht den Plot das metaphorische Bild einer bevorstehenden Apokalypse, auf die der Film im Tagesrhythmus runter zählt. Sollima visualisiert dieses Szenario durch einen ungewöhnlich starken, nächtlichen Regen, der parallel zur inhaltlichen Zuspitzung immer intensiver wird, bis er schließlich sintflutartige Ausmaße annimmt.

Am Ende entlässt „Suburra" den Zuschauer mit einem schonungslosen und radikal-pessimistischen Blick in eine hoffnungslos korrumpierte und amoralische Gesellschaft ohne Aussicht auf Besserung. Hier gibt es keine Verklärung, keine Mafia-Romantik, keine insgeheime Bewunderung für den Glamour des Verbrechens. Momentan arbeitet Sollima an einem Serienformat des Stoffes, angesichts der bereits vorhandenen dramaturgischen, visuellen und inhaltlichen Brillianz der Filmversion schüren die in diesen Bereichen noch größeren Möglichkeiten des Fernsehens aber eine fast schon utopische Erwartungshaltung. Da ist das Sequel zu Denis Villeneuves Drogen-Thriller „Sicario" ja beinahe ein Selbstläufer, schließlich war das auch „nur" ein Kinofilm. Eines aber ist sicher, Italien ist auf dem besten Weg die Hollywoodsche Dominanz beim großen Gangsterkino zu brechen. Und zwar mit Stil.

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