1971 war es endlich soweit: Hitchcock kehrte nach England zurück, in seine Heimat, dorthin, wo seine Erfolgskarriere begonnen hatte. Mit „Frenzy“ gelang ihm nach drei finanziellen Flops hintereinander („Marnie“, „Der zerrissene Vorhang“, „Topas“) dann auch sein letzter großer Streich, ein spannender Thriller, in dem Richard Blaney (Jon Finch) unversehens in eine aussichtslose Lage gerät: Man hält ihn für einen Serienmörder, der das London der frühen 70er unsicher macht, indem er Frauen aufsucht, sie vergewaltigt und abschließend mit einer Krawatte stranguliert. Daß Blaney in Wirklichkeit nichts mit den Verbrechen zu tun hat und der gesuchte Psychopath woanders zu suchen ist, weiß praktisch jeder, der ein wenig mit dem Oeuvre des Regisseurs vertraut ist. Richtig - zum ich-weiß-nicht-wievielten-Mal geht es in einem Hitchcock-Film um das Thema des unschuldig Verdächtigten. Das mache es dem Publikum schließlich schier unmöglich, NICHT mit der Hauptfigur mitzufiebern, wie Hitchcock sich sinngemäß auszudrücken pflegte.
Doch obwohl das grobe Handlungsgerüst einmal mehr dasselbe wie in so vielen früheren Hitchcocks ist, ist doch gleichzeitig so vieles anders. Wohl niemals zuvor haben wir von Hitchcock solch eine unsympathische Hauptfigur vorgesetzt bekommen wie in „Frenzy“. Sich mit dem Helden zu identifizieren, ist einem selten so schwer gefallen. Blaney ist ein als Verlierer geborener Taugenichts, der sein armseliges Einkommen überwiegend in Kneipen auf den Kopf haut, der gegen seine Ex-Frau in der Vergangenheit sicherlich nicht nur einmal handgreiflich geworden ist und der überdies bei jeder Kleinigkeit, die ihm nicht paßt, impulsiv reagiert. Sonderlich intelligent erscheint er auch nicht. Der hat nichts von dem Witz und der Eleganz eines Roger Thornhill aus „Der unsichtbare Dritte“ oder Richard Hannay aus „Die 39 Stufen“, dies ist ein rundum unbequemer Zeitgenosse, den sich wohl nur wenige in seinem Bekanntenkreis wünschen würden. Allein an dieser Tatsache mag sich so mancher Hitchcock-Fan empfindlich stoßen, wohingegen ich sie als eine Stärke des Films ansehe, nachdem bereits in „Der zerrissene Vorhang“ die alte Erfolgsformel nicht mehr taufrisch wirkte. Es hilft alles nichts, wir müssen dem Kerl wohl oder übel die Daumen drücken, ob wir wollen oder nicht – und tatsächlich ist es ohne weiteres möglich, sich im Laufe der Handlung auf Blaneys Seite zu schlagen, letzten Endes ist er trotz seines negativen Charakters immer noch unschuldig und Unschuldige gehören per se nicht ins Gefängnis, während der wahre Mörder frei herumläuft, das sagt uns automatisch unser Rechtsempfinden – und das wußte auch Hitchcock, weshalb er sich diesmal womöglich für diese Variante entschied.
Weiterhin ungewohnt für einen Hitchcock ist der hohe Realitätsanspruch, den „Frenzy“ innehat. So oft hetzte der Regisseur in der Vergangenheit seine Helden durch die unmöglichsten lebensgefährlichen Aktionen, aus denen sie sich meist doch immer durch einen glücklichen Zufall irgendwie unversehrt befreien konnten. Darauf muß der Zuschauer hier gänzlich verzichten. Sobald Blaney nach der Ermordung seiner ehemaligen Frau ins Visier der Londoner Polizei gerät, startet er nicht etwa einen aberwitzigen Fluchtversuch quer durchs Land, nein, er tut etwas, was du und ich voraussichtlich auch tun würden, wenn wir aus Angst vor umgehender Verhaftung nicht zur Polizei gehen wollten: Er sucht sich Verbündete, Personen, denen er vertrauen kann, die ihn nicht gleich verraten, bei denen er sich verstecken, mit deren Hilfe er vielleicht einen Weg aus der Misere finden kann. Die findet er in seiner aktuellen Freundin Babs (Anna Massey), einer Bardame und Kollegin, bevor er wegen Unterschlagung aus der Kneipe rausgeschmissen wurde, danach gemeinsam mit ihr, wie es scheint, in einem alten Schulfreund, den er seit Jahren nicht getroffen hat, und noch später in seinem Freund Bob Rusk (Barry Foster), völlig ahnungslos, daß dieser der gesuchte Verbrecher ist, was dem Zuschauer in alter Tradition aus Gründen des Suspense bereits im ersten Drittel enthüllt wird, und das auf ungewohnt drastische Weise.
In einer der grausamsten Szenen (wenn es nicht sogar die grausamste ist), die Hitchcock jemals inszeniert hat, wird Blaneys Ex-Gemahlin Brenda (Barbara Leigh-Hunt) von Rusk erst vergewaltigt und dann mit seiner Krawatte erwürgt – in einer Ausführlichkeit, wie wir sie vorher noch nie zuvor in einem Hitchcock-Film erleben durften. Mit seinen extremen Großaufnahmen des sich in Todesangst vergeblich zu wehren versuchenden Opfers und seiner rasanten Schnittfolge scheint der Gewaltausbruch kein Ende nehmen zu wollen (die Rückkehr ins wesentlich weniger prüde Großbritannien erlaubte es Hitchcock in diesem Film sogar, zum ersten und zum letzten Mal in seiner langen Karriere nackte Brüste auf die Leinwand zu bringen) und wenn er dann irgendwann doch endlich beendet ist, schneidet Hitchcock völlig unerwartet noch einen sekundenkurzen Augenblick lang bildschirmfüllend die Tote mit starren offenen Augen und heraushängender Zunge ein, um auch ja den letzten Zuschauer vor Schreck aus dem Sessel zu jagen (in der Tat hatte mir das Bild in Jugendzeiten gewaltig zu schaffen gemacht). Später wird eine andere Figur das gleiche Schicksal wie Brenda erleiden, nur ist Hitchcock clever genug, auf weitere schreckliche Details zu verzichten. Anstatt erneut voll draufzuhalten, wie es wahrscheinlich viele seiner Kollegen getan hätten, stoppt die Kamera vor dem Zimmer des Mörders und unternimmt, wie es scheint, in einer einzigen berühmten Einstellung (Jahre später in „Taxi Driver“ zitiert) eine Fahrt rückwärts die Treppe hinunter hinaus auf die Straße, wo der Alltagslärm die Schreie, die die Frau vermutlich von sich gibt, ungehört verschluckt. Die abscheulichen Einzelheiten der Tat geschehen erst in unserer Phantasie. Wir wissen bereits, wie brutal Rusk vorgeht, das muß man uns nicht erneut zeigen.
Umso unglaublicher, daß es Hitchcock selbst bei diesem kranken Serienkiller in einer Szene gelingt, daß man sich auf dessen Seite schlägt. Vor Preisgabe seines dunklen Geheimnisses ohnehin nicht gänzlich unsympathisch (wenn auch nicht wirklich sympathisch) ertappt man sich unvermittelt dabei, ihm die Daumen zu drücken, als er mit größter Kraftanstrengung seine Krawattennadel mit dem verräterischen „R“ für Rusk aus der verkrampften Hand eines seiner Opfer befreien muß – mit den zu erwartenden makabren Folgen.
Apropos makaber: Überhaupt zieht sich durch den kompletten Film Hitchcocks so geliebter schwarzer Humor, so düster und teilweise richtiggehend unbequem „Frenzy“ auch sein mag. Schon in der Einleitung berichtet ein Politiker einer Menschenmenge stolz über die sauberen Gewässer, bis im nächsten Moment eine nackte Frauenleiche ans Themse-Ufer getrieben wird, oder das Durchbrechen einer krossen Brotstange erzeugt das gleiche Geräusch wie das Brechen eines Fingers. Weiterhin läßt uns Hitchcock dann in einem Nebenstrang an den wahrhaft ekelerregenden „Kostbarkeiten“ der französischen Küche teilhaben, die die Frau des in der Mordsache ermittelnden Inspektors Oxford (Alex McCowen) ihrem Gatten allabendlich auftischt, ein fraglos amüsantes und nicht unwillkommenes Zwischengeplänkel, von Hitchcock genüßlich und sehr ausführlich zelebriert, aber für den Fortgang der Geschichte selbst eher die Funktion eines Bremsklotzes einnehmend.
Man könnte also von einem nahezu perfekten Hitchcock sprechen, doch wird das Sehrvergnügen durch ein in diesem Fall wirklich unangenehm auffallendes Hindernis getrübt: „Frenzy“ trägt misogyne Züge, die sich nicht so einfach wegdiskutieren lassen. Schon in der Vergangenheit war Hitchcock nicht selten wenig zimperlich im Umgang mit seinen weiblichen Figuren. Daß starke Frauenrollen in seinem Oeuvre kaum vorkommen und er bevorzugt blonde Love Interests einsetzte, die sich hin und wieder auch vom Helden retten lassen müssen, das habe ich ihm nie als Negativpunkt angelastet, geschweige denn als störend empfunden. Ich hatte mir auch zu keiner Zeit jemals ernsthaft Gedanken darüber gemacht. Wenn in „Frenzy“ jedoch gleich zu Beginn in einer Kneipe zwei Männer verächtlich über die weiblichen Opfer des Krawattenmörders reden, die ja eh Huren gewesen seien und darum keinen Verlust darstellen würden, und Rusk – zugegebenermaßen der Killer, aber trotzdem – dieses fragwürdige Statement einem Polizisten gegenüber später noch einmal äußert, was dann unwidersprochen im Filmverlauf im Raum stehen bleibt; wenn Hitchcock uns hier zwei echte Drachen vorführt, gegen die selbst Claude Rains’ monströse Filmmutter Leopoldine Konstantin aus „Berüchtigt“ den Kürzeren ziehen würde; wenn alle freundlichen und hilfsbereiten Frauen in die Fänge des Killers geraten – dann gibt einem das hinterher doch zu denken. Am wenigsten Negatives kann man noch über Mrs. Oxford sagen, die wiederum allerdings so übertrieben fürsorglich und aufgedreht gezeichnet ist, daß wohl jeder Alpträume oder wenigstens Schweißausbrüche bekommen würde, der sich eh schon immer vor den alle paar Monate absolvierten Besuchen bei Oma und ihrem „Oooh, laß dich ansehen, du bist aber groß geworden“ und übermütigen Gesichtsgetätschele gefürchtet hat. Man muß also konstatieren, daß die Frauenwelt in „Frenzy“ auffallend schlecht wegkommt, und das kann man nur schwerlich ignorieren.
Wie dem auch sei: „Frenzy“ wurde seinerzeit von der Kritik gefeiert und auch von den Zuschauern wohlwollend aufgenommen, und in der Tat handelt es sich, wenn man eben diesen fetten Wermutstropfen ausklammert, um einen ganz hervorragenden, für Hitchcock-Verhältnisse sogar ziemlich unkonventionellen und streckenweise erstaunlich harten Thriller, der überdies mit einer wunderbar ungewöhnlichen Schlußszene punkten kann. Allein daran teilhaben zu dürfen, wie blanker Zufall und Glück Blaney, der wohl sein ganzes verkorkstes Leben lang fast nur Pech hatte, zu Hilfe eilen, lohnt den Film. Der letzte starke Hitchcock kommt aus Großbritannien. 8/10.