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Das es sich bei "Un flic" (Der Chef) um Jean-Pierre Melvilles letzten Film handelt, ist seinem frühen Tod mit 55 Jahren geschuldet. Trotzdem wirkt der dritte mit Alain Delon in der Hauptrolle gedrehte Gangsterfilm schon wie sein Abgesang - ein Werk, das scheinbar nicht mehr die Qualität von "Le samouraï" (Der eiskalte Engel, 1967) oder "Le cercle rouge" (Vier im roten Kreis, 1970) erreichte.

Zudem wiederholt sich eine Vielzahl von Elementen, die prägend für seine späten Kriminalfilme wurden. Der Zusammenschluss einzelner Männer zu einer Gang, deren professionell geplanter, in Echtzeit ablaufender Raubüberfall und der ihnen hartnäckig folgende, intelligent vorgehende Kommissar waren schon Bestandteil von "Le deuxième souffle" (Der zweite Atem, 1966), wurde in "Le samouraï" mit einem Einzelgänger variiert, bevor es in "Le cercle rouge" zur Auseinandersetzung zwischen drei Männern und einem Polizisten kam, die sich in ihrer Einsamkeit und Perspektivlosigkeit sehr ähnlich waren. Begleitet wurden diese Szenarien von klar komponierten, graphischen Bildern, ruhigen Handlungsabläufen und sparsamen Dialogen, die sich auf das Wesentliche beschränkten.

Die Auflistung dieser Charakteristika an Hand seiner späten Filme - zu denen noch "L'armée des ombres" (Armee der Schatten, 1969) gehört, der sich zwar dem französischen Widerstand während des 2.Weltkriegs widmete, dabei aber ähnliche Mechanismen anwendete - vermittelt in der oberflächlichen Zusammenfassung eine inhaltliche Homogenität, die Melvilles Filme nicht haben. Trotz der stilistischen Verwandtschaft entwickelte Melville bei jedem Film eine individuelle Intention, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führte. Das gilt besonders für "Un flic", der eine thematische Umkehr zu seinem Vorgängerfilm "Le cercle rouge" bedeutete und kaum noch Ähnlichkeiten mit Melvilles früheren Filmen aufweist.

Der Beginn ist äußerlich noch typisch. Mit einem perspektivisch weiten Blickwinkel erfasst die Kamera den amerikanischen Straßenkreuzer - für den USA - Fan Melville ein klassisches Element - der entlang einer einsamen Strandpromenade fährt, über die starker Wind und Regen fegt. Das Fahrzeug hält in der Nähe einer Bank, die sich in einem Gebäude der ausgestorben wirkenden Gegend befindet. Drei seriös gekleidete Männer steigen aus und betreten die Filiale, während der Fahrer freien Blick auf die weitläufigen, leeren Straßen hat. Der Raub verläuft nach Plan, außer das ein Angestellter noch den Helden spielt und einen der Bankräuber bei einem Schusswechsel verletzt. Unabhängig davon, gelingt die Flucht wie geplant und die vier Männer erreichen Paris unbehelligt mit der Beute.

Wie gewohnt schildert Melville die Abläufe detailliert in Echtzeit, aber er verzichtet erstmals auf eine Vorgeschichte. Die genaue Planung, die sehr viel über die beteiligten Charaktere ausgesagt hätte, entfällt, was zur Konsequenz hat, das das angeschossene Bandenmitglied anonym bleibt. Da sein Zustand lebensgefährlich ist, wird er von den Kameraden in ein Krankenhaus gebracht. Seine Ermordung, um bei dem Bewusstlosen eine spätere Aussage zu verhindern, wird von den drei anderen Bandenmitgliedern Simon (Richard Crenna), Louis Costa (Michael Conrad) und Paul Weber (Riccardo Cucciolla) mit Hilfe von Cathy (Catherine Deneuve) ausgeführt, die als verkleidete Krankenschwester einen Herzinfarkt auslöst. So nüchtern und in der Sache konsequent diese Aktion von Melville gezeigt wird, bricht er damit die Regeln, die in seinen früheren Filmen noch galten.

Die Protagonisten seiner Filme konnten demoralisiert und ohne Zukunftsaussicht sein, doch galten für sie noch immer die Regeln der persönlichen Ehre. Diese auch unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen, besonders innerhalb des Kreises ihrer Kameraden, blieb in Melvilles Kriminalfilmen immer die wichtigste Motivation. Selbst der Profi-Killer Jef Costello in "Le samouraï", fälschlicherweise als „Der eiskalte Engel“ im deutschen Filmtitel bezeichnet, handelte nach dieser Maxime. Während Melvilles Sympathien in seinen früheren Filmen den Kriminellen galten, deren Charaktere er vielschichtig ausarbeitete, verliert die Bande um Simon schon zu Beginn ihre Unschuld. Das diese Gewichtung nicht unmittelbar auffällt, liegt an der Rolle Alain Delons als Kommissar Edouard Coleman, die in ihrem kompromisslosen Ehrgeiz weder Ähnlichkeiten zu seinen früheren Rollen unter Melville, noch zu den bisherigen Polizisten aufweist, die mit psychologischen Methoden Zeugen und Verfolgte zu überführen versuchten.

Auffällig bleibt in „Un flic“, das sich Melville, anders als in seinen bisherigen Filmen, nicht um die Vertiefung der Charaktere kümmert. Außer über den bürgerlichen Paul Weber, der seiner Frau nichts von seiner kriminellen Karriere erzählt, sondern vorgaukelt, sich weiterhin um einen neuen Job zu bewerben – offensichtlich ein aussichtsloses Unterfangen für den über 50jährigen – erfährt der Betrachter keine Hintergründe oder Motive. Doch Weber bleibt eine Randfigur, während das Dreiecksverhältnis zwischen dem Meisterdieb Simon, dem Kommissar und der schönen Cathy eine Konstruktion bleibt, die Melville nicht mit Leben erfüllt. Offensichtlich variiert Melville in „Un flic“ seinen eigenen Stil, indem er Typen in den Mittelpunkt stellt, die in ihrer Optik und im Gestus seinen früheren Protagonisten ähneln, deren Handeln er aber von menschlichen Gefühlen endgültig befreit hat.

Das Bild von Kommissar Coleman bleibt in Erinnerung, wenn er teilnahmslos in seinem Auto herumfährt, darauf wartend, das ein Telefonanruf ihn zum nächsten Tatort beordert. Ein Privatleben existiert nicht mehr und die Aufklärung eines Verbrechens wird zum einzigen Lebensinhalt. Ähnliches lässt sich auch über seinen Gegenspieler und Nachtclub-Besitzer Simon sagen, dessen Intention, geniale Verbrechen zu begehen – wie der Raub von einem Hubschrauber aus – nur in der Aktion selbst zu liegen scheint, dem Kameradschaft aber nichts bedeutet. Von einer Freundschaft zwischen den Männern zu sprechen oder von deren Liebe zu Cathy, die sich als kaltblütige Mörderin erwiesen hatte und auch im Umgang mit ihren Liebhabern emotionslos bleibt, wäre deshalb nur ein Versuch, Gefühle in Melvilles Film zu transportieren, die nicht vorhanden sind.

Deutlich wird das auch an der Gesamtanlage des Films, der trotz zweier detailliert gezeigter Verbrechen nicht über die epische Breite seiner früheren Filme verfügt. Den Interaktionen und Gesprächen zwischen den Protagonisten wird nur wenig Raum gegeben, längere Dialoge finden nicht statt. Wie sehr Melville jede Emotion reduziert, wird daran deutlich, das er das Polizeiverhör von Louis Costa gar nicht erst zeigt. Der Versuch der Polizei, Kriminelle zum Sprechen zu bringen, war immer ein wesentlicher Bestandteil seiner Filme, signifikant für den Charakter beider Seiten. Hier wird nur das Ergebnis gezeigt, gibt der Film Costa keine Chance zur Relativierung. Auch die Interpretation, durch Delons Wechsel auf die Polizeiseite, hätte Melville die Ähnlichkeit beider Seiten betonen wollen, greift zu kurz, denn die von Delon zuvor gespielten kriminellen Charaktere blieben trotz ihrer Coolness immer emotional nachvollziehbar.

In dieser Sichtweise wird die Irritation deutlich, die Melville mit „Un flic“ erzeugte, der eine konsequente Weiterführung seiner fatalistischen Sichtweise auf die menschlichen Verhaltensweisen wurde. Trotz des Pessimismus in seinen früheren Filmen, lag noch eine gewisse Romantik in den engagiert geplanten Raubzügen und dem respektvollen gegenseitigen Umgang, war noch eine Identifizierung mit den Protagonisten möglich. Davon blieb in „Un flic“ nichts mehr übrig, weshalb dem Film die verdiente Anerkennung oft vorenthalten wurde. Leider konnte Jean-Pierre Melville seinen Weg nicht mehr weiter gehen (9,5/10).

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