“Live and let die”
Selbstjustiz ist ein Thema, an das sich nur wenige Filmemacher herantrauen. Zu einem solch brisanten Komplex Stellung zu beziehen, führt unweigerlich zu Diskussionen, Kontroversen bis hin zu Skandalen. Gerade wenn Selbstjustiz nicht eindeutig verurteilt wird und/oder in irgendeiner Form gerechtfertigt erscheint, ist der Aufschrei der Öffentlichkeit groß und das Rauschen im Blätterwald gleicht einem Orkan mittlerer Stärke. Die Filmemacher werden in die äußerste rechte Ecke gestellt und als reaktionär abgewatscht. Obwohl die wenigsten Menschen (zum Glück) traumatische Erfahrungen wie sie häufig den gewalttätigen Rachereaktionen vorausgehen vorweisen können, so hat doch beinahe jeder eine feste Meinung zu der brisanten Thematik. Natürlich bringt das den jeweiligen Film schnell in die Schlagzeilen, trotzdem scheint diese Form der Werbung keine magische Anziehungskraft auf Produzenten und Studios auszuüben.
In den USA geht man mit dem Thema Selbstjustiz unverkrampfter um als in Europa, was in erster Linie historische Gründe hat. Mit der Waffe selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, ist Teil des Frontier-Mythos und fest im US-amerikanischen Bewusstsein verankert. Es ist die extremste Ausformung des vermeintlichen Rechts auf Selbstverteidigung, wenn es auch in den heutigen USA bereits viele Stimmen gibt, die diese Grenze im Zusammenhang mit Selbstjustiz klar und weit überschritten sehen.
Trotz des oben beschriebenen Gefahrenpotentials hat sich Regisseur Neil Jordan (The Crying Game) an das explosive Thema gewagt und zum Aufhänger seines neuen Films gemacht. Produziert von einem Majorstudio (Warner) und mit einem A-List-Star in der Hauptrolle (Jodie Foster), zielt Die Fremde in Dir klar auf ein breiteres Publikum und „droht“ daher auch genauer unter die Lupe genommen zu werden.
Aber ist dies wirklich rein ein Film über Selbstjustiz, nur weil die Protagonistin zur Waffe greift und die Mörder ihres Verlobten richtet? Auf den ersten Blick scheint es sich jedenfalls tatsächlich um eine weibliche Variante der „Ein Mann sieht Rot- Geschichte“ zu handeln.
Jodie Foster spielt die New Yorker Radiomoderatorin Erica Bain. Bei einem abendlichen Spaziergang im Central Park wird sie mit ihrem Verlobten von einer Bande junger Männer brutalst zusammengeschlagen. Als sie 3 Wochen später aus dem Koma erwacht, muss sie erfahren, dass ihr Freund seinen Verletzungen erlegen ist.
Erica erholt sich nur körperlich von dem traumatischen Erlebnis. Von Angstzuständen und einer unbeschreiblichen inneren Leere gepeinigt, schleicht sie durch die Straßen von New York. Foster spielt diese Szenen mit einer unglaublichen Intensität und porträtiert die sich immer mehr von sich selbst entfernende Erica beängstigend authentisch. Als diese endlich die Kraft findet, auf der Polizeistation nach dem Ermittlungsstand in ihrem Fall zu fragen, wird sie wie eine Nummer auf dem Führerscheinamt behandelt. Der aufnehmende Beamte empfängt jeden Ankömmling mit exakt den gleichen Phrasen („Das muss sehr schwer für Sie sein.“) und schiebt ihn in den Warteraum ab. Hin und her gerissen zwischen Wut, Trauer und Hilflosigkeit verlässt Erica die Streife und landet in einem Waffengeschäft. Auf illegalem Weg ersteht sie schließlich eine Pistole.
Aus Ericas Sicht ist das noch kein Entschluss zur Selbstjustiz. Oder vielleicht doch? Inzwischen hat eine Fremde - wie sie selbst erkennt - von ihr Besitz ergriffen, jemand der ihr Angst macht und mit dem sie im Spiegel kommuniziert. Dieser jemand ist hart, brutal und verspürt keinerlei Ängste.
Bereits der erste Mord ist nur teilweise im Bereich der Notwehr anzusiedeln. Erica wird Zeuge eines Raubüberfalls und erschießt den Eindringling, bevor dieser sie bedrohen kann. Nach anfänglichem Entsetzen über sich selbst, beschließt sie ihren „neuen“ Charakter anzunehmen. Sie wirkt nun völlig kalt, auch ihre Ängste scheinen verschwunden. Es folgen zwei weitere Morde, bei denen sie ohne den tödlichen Schuss ausgekommen wäre. Zunehmend entfernt sich Erica von ihrem früheren Charakter und damit auch langsam aber zunehmend von der Sympathie des Zuschauers.
Anders als viele Filme mit einer vergleichbaren Thematik biedert sich Die Fremde in Dir nicht damit beim Zuschauer an, dass er die Täter zu verabscheuungswürdigen Monstern aufbaut (Ericas Peiniger haben sehr wenig Screentime) und das Opfer zum Empathiezentrum der Geschichte macht. Fosters Erica Bain ist dem Zuschauer spätesten mit dem zweiten Mord so fremd wie die Figur sich selbst. Der deutsche Titel - Die Fremde in Dir - passt weit besser als der originale (The Brave One), der (fälschlicherweise) einen Actionreißer vermuten lässt.
Obgleich Erica am Ende brutale und blutige Rache übt, ist Jordans Film kein reines Selbstjustizvehicel. Es geht vielmehr ebenso um die psychischen Auswirkungen eines traumatischen Gewalterlebnisses. Es geht darum, dass Menschen innerlich völlig absterben können, aber äußerlich scheinbar (halbwegs) normal weiterleben. Mann kann sogar so weit gehen zu sagen, dass Erica erst durch das Töten wieder lebendig wird - vorher schlich sie wie ein Geist umher - und auch weiterlebt. Das Töten macht sie zu einer anderen Person, die auch wieder von ihren Mitmenschen wahrgenommen wird.
Der die Morde untersuchende Polizist (Terence Howard) gerät in ihren Bann und baut langsam eine emotionale Beziehung zu der traumatisierten Frau auf. Auch als er zu ahnen beginnt, dass Erica der Täter ist, fühlt er sich weiter zu ihr hingezogen. Der zutiefst moralische und gesetzestreue Polizist wird in seinem gesamten Wertekanon durch Erica erschüttert. Am Ende trifft er eine Entscheidung, die völlig überrascht, allerdings auch etwas unglaubwürdig ist. Der vermeintliche "Clou" wirkt wie eine angeklebte Konzession an das übliche "Revenge-Publikum". Eine der wenigen Schwächen des Films.
Der Schluss lässt manches offen. Auch ein eindeutiges Plädoyer für oder gegen Selbstjustiz lässt sich nicht klar feststellen. Ganz so leicht macht es Jordan dem Zuschauer nicht.
Fazit:
Die Fremde in Dir ist ein zutiefst verstörendes aber dennoch faszinierendes Psychodrama, das Einblicke in eine traumatisierte Seele gewährt ohne zu moralisieren. Der Film ist brutal, düster, beklemmend und entbehrt simpler bzw. bequemer Antworten. Foster spielt den keineswegs sympathischen Charakter mit einer Eindringlichkeit, die den Zuschauer trotz fehlenden Identifikationsangebots förmlich in den Film hineinsaugt. Auch Terrence Howard bietet als ein langsam sein Wertesystem hinterfragender Polizist eine Meisterleistung.
Der Film wird zu Unrecht als reiner Selbstjustizreißer besprochen und beworben. Ähnlich wie in Cronenbergs A History of Violence geht es mindestens im gleichen Maße um die Erfahrung von und mit extremer Gewalt und was diese bewirkt bzw. bewirken kann. Eine klare, wertende Stellungnahme bleibt Jordan (bewusst) schuldig.
Lediglich der etwas aufgesetzt wirkende Schluss will nicht so recht zum ansonsten starken Gesamteindruck passen. Hier schlägt der Film (unverständlicherweise) eine Richtung ein, die ihn wieder näher an die simpleren Vorbilder (Death Wish oder Death Sentence) heranbringt. Keinesfalls ein Film zur samstäglichen Abendunterhaltung. Dennoch, oder gerade deswegen aber absolut sehenswert.
(8,5/ 10 Punkten)