Da stehe ich nackt auf einem Eisberg irgendwo in einer weißen Wüste. Ganz klar - dies muss ein Traum sein. Ein nicht besonders angenehmer Traum, zumal mir ziemlich kalt ist. Aber schauen wir mal weiter.
Ein Schnüffelgeräusch zu meiner Linken. Ich drehe mich um und erhasche ein Urzeithörnchen neben mir, das eine Eichel vor sich herschiebt. Ich kichere, denn das könnte doch noch ein lustiger Traum werden. Das Urzeithörnchen wird unvermittelt vom Blitz getroffen. Ich hatte Recht: das IST ein lustiger Traum.
Rechts von mir trabt eine kleine Herde an. Sehe ich da richtig? Das sind ein.... Mammut? Genau. Und da... ein Säbelzahntiger? Was zum... und zu allem Überfluss auch noch ein Faultier. Das lispelt die ganze Zeit “Ich schmelze! Ich schmelze!” Das Mammut entgegnet: “Nicht schon wieder! Zwei! Teil Zwei!” Oh Mann, und ich krieg mich nicht mehr ein: wie genial psychedelisch ist das denn?
Doch abrupt wird die Atmosphäre zerstört, als ein paar schwarze Vögel angeflogen kommen... und eine Varieté aufführen. Die krasse Herde beginnt zu singen, und auf einmal rollen sich mir die Zehennägel auf. Nein! Hilfe! Was soll das! Warum singt ihr? Wieso macht ihr alles kaputt? Warum unterbrecht ihr die Geschichte? Und schließlich bin ich es, der schreit: Ich schmelze! Ich schmelze! Nur ist das inzwischen alles andere als lustig. Im Gegensatz zum Faultier schmelze ich nämlich wirklich.
Ich wache auf.
Doch ich stehe schon wieder auf einem Eisberg irgendwo an einer Polkappe unseres schönen Erdenrunds. Nackt natürlich, wie es sich gehört. Ist das eine von diesen vermaledeiten Ich-wache-aus-einem-Traum-auf-und-lande-prompt-in-einem-zweiten-Traum-Situationen?
Mir fällt auf, ich bin nicht allein. Mir zu Füßen stehen Tausende von schwarzen Anzügen und glotzen mich an. Jip - der Fall ist klar, das ist ja wohl der klassischste aller Träume. Nackt vor einem seriösen, konservativen Publikum zu stehen, das größer nicht sein könnte, wie auf einem Präsentierteller die Spitze des Berges zu verdecken - sowas kann dir nur die eigene Fantasie einschenken. Angenehm ist was anderes.
Ich erkenne aber, dass es sich bei dem Publikum um Pinguine handelt. So weit, so gut.
Da vorne steht ein kleiner Knirps, noch ganz grau und buschig, wie frisch geschlüpft. Er beginnt zaghaft, mit den Füßen zu tapsen. Oh weia, Tanz.
Die größeren Pinguine beginnen zu summen. Oh schreck, Gesang!
Tanz und Gesang vereinen sich zu einer großen Party. Ich bin in einem Musical. Mein größter Alptraum ist wahr geworden und ich erlebe ihn in schärfstem Fotorealismus. Eingebettet in das Streben nach größtmöglicher animationstechnischer Perfektion bin ich gelandet, wo ich niemals landen wollte, was ich mein Lebtag meiden wollte.
Doch als ich aufwache, merke ich: Ich möchte wieder zurück in diesen Traum. Er war schön. Was ist jetzt los? Hat man mich einer Gehirnwäsche unterzogen?
Mitnichten. “Happy Feet” ist ganz einfach nur einer der besten Animationsfilme, die mir seit Jahren untergekommen sind, und in mir hat er es geschafft, selbst einen scharfen Kritiker von Gesangs- und Tanzeinlagen zu überzeugen. Dabei war dazu gar nicht viel nötig: Man hat es lediglich endlich mal verstanden, die musikalischen Einlagen so zu integrieren, dass sie sich auf die Story nicht wie ein Türstopper auswirken, sondern sie im Gegenteil sogar antreiben und letztlich sogar der einzige Grund für die Existenz des Filmes sind.
Schließlich dokumentieren sie in “Happy Feet” das Balzverhalten der torkeligen Südpolbewohner und die erste knappe Stunde lang ist der Animationsfilm so etwas wie die vermenschlichte, theatralisierte Variante einer Naturdokumentation. Exemplarisch dafür der Einstieg: Die erste Dialogzeile ist bereits die Reaktion eines Weibchens auf die Balzversuche der Männchen. Es gibt keinen künstlichen narrativen Rahmen, der unbedingt das Gebiet abstecken müsste, bevor man sich unter das Pinguinvolk mischen kann; nur ein sich stark zurückhaltender Off-Kommentator gibt hier und da Hilfestellungen dabei, die Szenen in eine Rahmenhandlung zu setzen.
Dem noch vollkommen menschenfreien Treiben wird dadurch der Appeal eines Dokumentationsfilms zuteil und die Verwandtschaft zur Realdokumentation “Die Reise der Pinguine” ist damit näher, als man durch die thematischen Überschneidungen ohnehin schon annehmen würde. Die Anthropomorphismen - die Fähigkeit der Tiere zu sprechen, ihre menschlichen Verhaltensweisen, die zum Musical umfunktionierte Balzprozedur, die Darstellung eines eigenen Mikrokosmos dadurch, dass man etwa Spuren von menschlichem Leben mit Alien-Besuchen gleichsetzt oder die Robbe, in Dokumentationen nicht selten selbst in der Opferfunktion, zum monströsen Killer stilisiert wird - all dies ist im übertragenen Sinne zu verstehen und gibt im Grunde nur auf höchst realistische Weise den abgegrenzten Lebensraum der Pinguine wieder.
Dass die Animation in der Darstellung von Wasser, Eis und Lebensformen wieder so extrem auf höchstmöglichen Realismus setzt, würde einem - und das Wort ist im Kontrast zu “Happy Feet” mit Bedacht gewählt - “normalen” CGI-Film umgehend das Genick brechen, hat doch vor allem Pixar bewiesen, dass es nicht Ziel des computeranimierten Films sein kann, die Wirklichkeit detailgetreu abzubilden. Doch “Happy Feet” ist in seiner Ausrichtung so grundlegend anders als alles bisher Dagewesene, dass sich der Fotorealismus unterstützend auf das Resultat auswirkt. Die gezeigte Animation wäre von einer absolut grässlichen und unangemessenen Genauigkeit geprägt, wäre der zugrundeliegende Gegenstand ähnlich wie die Autos in “Cars”, die Roboter in “Robots” oder die Monster in “Monsters Inc.” einfach nur eine sozialkritische Parabel auf unsere eigene Spezies. Die Tatsache, dass aber - zumindest in der ersten Stunde - bloß das Leben der Pinguine veranschaulicht werden soll, macht den Fotorealismus zu einem perfekten Begleiter, der obendrein noch die animationstechnische Referenz bedeutet. Wenn Aurora Borealis seinen hypnotisierenden Schein über die unzähligen verschiedenen Eisvarianten legt und einen Tanz der Farben mit dem der Pinguine in Einklang bringt, scheint das maximal Erstrebenswerte in der digitalen Animation nahezu erreicht. Dass die Gesichter der Pinguine dabei wenig expressionistisch dreinblicken, stört nicht im geringsten; im Gegenteil, es ist faszinierend, wie ein kaum erkennbarer Hauch des Femininen anzeigt, welcher der Pinguine weiblich ist und welcher männlich... und nicht nur das: mit welch zarten Nuancen man als Zuschauer sogar die einzelnen Pinguine als Individuen voneinander zu unterscheiden weiß. Ein Triumph der Computeranimation im Kampf mit dem traditionellen Trickfilm; ein Kampf, der eigentlich nicht nötig sein müsste, da es Platz für beides geben könnte, doch das Publikum hat ihn scheinbar gefordert.
Freilich wird bei der ausführlichen Nachzeichnung einer Pinguin-Gemeinschaft recht offensichtlich eine Sympathie aufgebaut, die der Zuschauer für die Vögel empfinden soll, damit der zweite Teil funktioniert. Der besteht nämlich aus streckenweise scharfer Kritik an der Umweltpolitik derjenigen Lebensform, die im Film von den Pinguinen - im Subtext fast schon zynisch - als die “intelligenteste Spezies” bezeichnet wird. Wenn also ein Ungetüm von Schiff die Eisscholle entzwei teilt und ohne Rücksicht auf die dort lebende Pinguinbevölkerung die Meere leer fischt, entfaltet die im ersten Teil aufgebaute Sympathie ihre Wirkung und im Umkehrschluss richtet sich die Antipathie gegen die Eindringlinge in das Reich des ewigen Eises. Diesbezüglich unterscheidet sich “Happy Feet” mit seinem moralischen Zieleinlauf keinen Deut von der Konkurrenz, werden doch einmal mehr kindgerecht Idealwerte propagiert und deutlich Stellung bezogen. Obwohl die Botschaft aber wieder mit dem Vorschlaghammer kommt, muss man “Happy Feet” zugute halten, dass er zu vielschichtig ist, als dass alle Wege auf diese eine Umweltbotschaft hinauslaufen würden. Der Werdegang des kleinen Protagonisten, der nicht singen, sondern nur tanzen kann, spricht ganz andere Dinge an, konzentriert sich auf die Toleranz von Minderheiten; die mit eindrucksvollen Kamerafahrten eingefangenen Kämpfe gegen Seevögel, Robben und Killerwale nehmen Bezug auf das darwinistische Prinzip des Fressens und Gefressenwerdens. Der von Hugo Weaving eingesprochene Anführer der Pinguine wiederum gleicht dem Anführer einer Sekte, vielleicht eines religiösen Oberhauptes, was heruntergebrochen auf die Realität möglicherweise eine Kritik an der Institution Kirche ist, in jedem Falle aber an den blinden Glauben.
Durch das Bewahren von Optionalismen dieser Art bleibt zugleich die Chance zur eigenen Meinungsbildung gewahrt, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Im optimalen Fall wäre jeder der angerissenen Aspekte mit mehr Neutralität vorgetragen worden, so dass man sich vollkommen befreit von äußeren Einflüssen seine Meinung hätte bilden können und nicht nur terminierte Optionen geboten bekäme. Andererseits zeigen die Szenen im Zoo auch, welche Ausdrucksstärke man durch deutlichen Stellungsbezug erreichen kann. Wäre die Geschichte hier beendet gewesen, sie wäre als kraftvolles, markerschütterndes und aufrüttelndes Ausrufezeichen für den Tier- und Umweltschutz in die Geschichte eingegangen, das man von der emotionalen Wirkung her einem Kind eigentlich kaum hätte zumuten können.
Ungeachtet der fehlenden Konsequenz im Abschluss - das nihilistische Ende wird dann doch noch zugunsten eines Happy Ends verlängert - gehört “Happy Feet” aufgrund seiner Darstellungsvielfalt und der punktgenau sitzenden Präsentation der Pinguingemeinschaft zu den besten Animationsfilmen überhaupt. Als einer der wenigen Musikfilme, bei denen sich die Geschichte tatsächlich über die Musikeinlagen entfaltet anstatt von ihnen behindert zu werden, weiß das technisch makellose Werk die üblichen Standards gängiger Konkurrenten zu umgehen und etwas ganz Eigenes zu erschaffen, das so vorher noch nicht zu sehen war. Das gilt zwar leider nicht für den erneut erhobenen Zeigefinger, jedoch stützt man sich erfreulicherweise nicht nur auf ein einzelnes eindimensionales Schema, sondern auf mehrere, so dass unter dem Strich doch wieder Mehrdimensionalität gewährt ist. Und nun hat man endlich wieder eine Ahnung davon, dass der CGI-Film in seinen Möglichkeiten vielleicht doch nicht ganz so beschränkt ist wie man nach den ewig gleichen Rezepten bislang glauben musste.
8.5/10