Vorsicht - es folgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Film! Wer das Ende nicht erfahren möchte, sollte diesen Beitrag nicht lesen.
Carrie White (gespielt von der 26-jährigen Sissy Spacek) ist das Mauerblümchen schlechthin - völlig verschüchtert und zurückgezogen, von ihren Mitschülern verstoßen und verlacht. Ursache ist ihre religiös-fanatische Mutter, die ihr zu Hause das Leben zur Hölle macht. Mit Tommys Einladung zum Abschlußball geht ein Traum für sie in Erfüllung, und urplötzlich glaubt sie sich von ihren Klassenkameraden akzeptiert. Was sie nicht weiß: Diese haben einen gemeinen Plan ausgeheckt, mit dem Carrie endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll. Mit gefälschten Abstimmungszetteln wird sie zur Abschlußkönigin gekürt, woraufhin sich auf der Bühne ein Eimer voll Schweineblut über sie ergießt. Doch die Täter ahnen nichts von den übersinnlichen Fähigkeiten, die Carrie besitzt: Sie kann mit Kraft ihrer Gedanken Gegenstände bewegen und somit Rache üben an ihren Peinigern...
Brian De Palma hat sich mit einem verhältnismäßig niedrigen Budget als erster Regisseur an einen Roman von Stephen King herangewagt und ein sehr beachtliches Werk geschaffen. Mit zweieinhalb Millionen Dollar konnte er das noch deftigere Ende der Vorlage nicht verwirklichen, in der die Hauptfigur die ganze Stadt in Schutt und Asche legte, sondern beschränkte sich auf die High School. Das Resultat bleibt dennoch lange Zeit im Gedächtnis des Zuschauers manifestiert. Angenehm zu vermerken ist bei diesem filmischen Beitrag, daß der Regisseur über weite Strecken auf die genreüblichen Effekte verzichtet und auch kaum Blut fließen läßt. Auch das Inferno, das Carrie im Ballsaal auf die Schüler und Lehrer losläßt, bewegt sich - technisch gesehen - auf einem vergleichsweise wenig effekthascherischen Niveau. Dennoch nimmt der Film enorm mit - auf psychologischer Ebene.
Behutsam schildert De Palma eine Stunde lang den “scheinbaren” Aufstieg des ungeliebten Mauerblümchens, das zu der Schönheitskönigin des Abschlußballs aufblüht. Das sechzehnjährige Mädchen, das den gesamten Film über nicht einmal gelächelt hat, sieht sich auf dem lange Zeit für sie erfolgreichen Ball neu geboren und glaubt urplötzlich an das Gute im Leben, weil sie mit Tommy einen sympathischen Begleiter hat und von ihren Mitschülern akzeptiert zu werden scheint. Am letzten Tag ihrer Schulzeit! Carrie schwebt im siebten Himmel, weil ihr so viel Freundlichkeit entgegengebracht wird wie nie zuvor in ihrem Leben. Visuell macht das die Kamera von Mario Tosi in einer Szene deutlich, als Carrie und Tommy gemeinsam tanzen. Während beide miteinander tanzen und sich unterhalten, wird Carries Gesichtsausdruck immer fröhlicher, in einem Kuß mündend. Dabei dreht sich die Kamera immer wieder um das Paar herum, mit jeder Runde immer schneller, bis irgendwann der Zuschauer nicht mehr das Tanzen und den Hintergrund wahrnimmt, sondern nur noch die beiden Tänzer, die sich umarmen. Genauso geht es Carrie. Mit der Zeit hat sie ganz vergessen, daß sie tanzt und sieht nur noch ihren Partner Tommy. Kurz: Sie schwebt mit ihm im siebten Himmel.
Sie ist blind vor Glück. Sie ist zu naiv, um die Hintergedanken ihrer gemeinen Mitschüler zu erraten. Sie genießt diesen Augenblick des Anerkanntwerdens in vollen Zügen. Carrie kannte bisher kein Glück; sie kannte nur die Schattenseiten des Lebens: Ihre streng-religiöse Mutter, von der sie nicht die Liebe bekommt, die sie als junge Frau braucht; das dunkle Haus, das von innen wie ein Gefängnis erscheint und von einer geheimnisvollen Aura umgeben zu sein scheint (die Außenansichten des Hauses sind vernebelt); ihre Mitschüler, die sie nicht ernst nehmen, vielmehr nur auslachen und zum krassen Außenseiter abstempeln. Auf der Party hat sie jeden Bezug zur Realität verloren, da sie alle drei Sachen besiegt hat. Das ist zuviel Glück auf einmal für Carrie. Wenn sie dann mit einem Eimer Schweineblut übergossen wird, sieht sie wieder klar - doch da ist es schon zu spät. Sie hat sich wieder einmal zum Gespött der Schüler gemacht. Alles Glück ist in weite Ferne gerückt. Doch jetzt ist es doppelt bitter für die arme Carrie, da sie in den vorigen Minuten eine Art Aufstieg verbuchen konnte. War sie vorher auf der untersten Stufe, so war sie doch auf diesem Ball ein paar Treppen nach oben geklettert. Mit dieser Aktion ist sie wieder ganz unten angekommen. Der schlimmste Moment ihres Lebens folgte auf den schönsten. Den schönsten Moment hatte De Palma vorher noch besonders detailliert dargestellt. Er zeigt Carries erlöstes Lächeln und den Gang zur Bühne, wo sie zur Schönheitskönigin gekürt wird, minutenlang in Zeitlupe. Immer wieder zeigt die Kamera das geheuchelte Applaudieren ihrer Mitschüler und das Gesicht von Carrie, das vor Freude nur so strahlt. Immer wieder fängt die Kamera den Eimer ein, der auf einem Podest über der Bühne steht. Mit Zeitlupe und Kamerafahrten - einfachsten technischen Mitteln - dehnt De Palma die Sequenz beinahe endlos aus und erreicht grandiose Hochspannung. Ein Effekt, der uns hinlänglich aus vielen Hitchcockfilmen bekannt ist, der Suspense.
So läuft hier alles auf die Frage heraus: Wie reagiert Carrie, wenn der Eimer ihren Körper mit Blut besudelt? Oder ist das Unglück noch zu verhindern?
In “Carrie” macht sich De Palma einen Ruf als Hitchcock-Epigonen. Einige Szenen kann man als Hommage an den Altmeister sehen. So geht Carrie beispielsweise auf die “Bates High School” - wer kennt nicht Norman Bates aus dem Hitchcock-Klassiker “Psycho”? Später soll Brian De Palma noch mit “Dressed to Kill” (1980) einen Film drehen, in dem allein in wenigen Sekunden vier Hitchcock-Filme Verwendung finden (die Fahrstuhl-Szene, in der eine Frau von einer Blondine erstochen wird).
Und so ahnungslos die arme Frau unter der Dusche in “Psycho” ob des baldigen Todes ist, so ahnungslos ist Carrie hinsichtlich der drohenden Schmach.
De Palma läßt die Szene mit der blutübergossenen Carrie eindeutig als Höhepunkt des gesamten Films erkennen. Der ganze Film läuft auf diesen gemeinen Streich hinaus. Je näher dann dieser Streich zu gelingen droht, umso mehr verlangsamt der Regisseur die Handlung. Wie quälend langsam die Zeit bis zur Ausführung der Demütigung vergeht, ist für den Zuschauer fast unerträglich. Im Hinterkopf immer die Frage: Wie wird Carrie reagieren, wenn sie auf der Bühne steht und von allen ausgelacht wird? Das steigert die Spannung auf ein Maximum. Man hofft, daß noch irgendetwas dazwischen kommt, daß der Plan nicht aufgeht. Die darauffolgenden Minuten, in denen Carrie das Inferno heraufbeschwört, gehören visuell zu den eindrucksvollsten, die ich je gesehen habe. Sobald sie sich wie ein - im wahrsten Sinne des Wortes - begossener Pudel vor Schmerz windet, hört der Zuschauer zunächst nichts. Das Lachen eines einzelnen Mädchens sowie Tommys entsetzter Ruf: “What’s that?” bleibt vom Betrachter ungehört. Nur das Geräusch des Eimers, als er daraufhin auf Tommys Kopf kracht, nimmt der Zuschauer wahr. Zudem dreht De Palma immer noch in Zeitlupe. Das ungläubige und zugleich angstvolle Gesicht der Sportlehrerin, die sich plötzlich Vorwürfe macht, daß sie Carrie dazu überredet hat, zum Ball zu gehen. Dazu die zunächst orientierungslos schauenden staunenden Schüler, die erst einmal kein Lachen herausbekommen. Dann wieder ein Schnitt auf Carrie, die nicht weiß, was sie machen soll. Die letzten Worte der Mutter werden hörbar, die sie sagte, als Carrie das Haus verließ: “Alle werden dich auslachen.” Zusätzlich ertönt die Stimme von ihrer Sportlehrerin: “Du kannst mir vertrauen!” und die des Schulleiters: “Uns allen tut der Vorfall sehr leid!” - alle drei Stimmen immer abwechselnd. Der Zuschauer sieht die Umgebung mit den Augen und Ohren von Carrie. Ihre gesamte, bisher immer heruntergeschluckte Wut hat sich so sehr aufgestaut, daß sie die jetzt loswerden möchte. All ihre Peiniger sollen aufs Grausamste bestraft werden, das zurückbekommen, was man ihr in diesem Moment angetan hat. Carrie setzt ihre übersinnlichen Kräfte ein und schließt alle Fenster und Türen. Da aber De Palma keineswegs so großen Wert auf das eigentliche Massaker legt, sondern nur die große Bedeutung dieser Szene herausheben möchte, zieht er alle Register seines Könnens: Zweigeteilte Bilder, die hin und wieder die Positionen tauschen und die die aufkommende Massenpanik symbolisieren; deutliche Brauntöne im Bild mit dunkler brummender Musik untermalt; dazu immer wieder der Schnitt auf Carrie, die ohne mit der Wimper zu zucken wie angenagelt auf der Bühne steht und weder zufrieden noch schockiert das Szenario lenkt. Ein mit ihren Kräften sich bewegender Wasserschlauch setzt den gesamten Saal unter Wasser, Mikrophone unter Strom und schließlich entsteht Feuer. Keiner wird verschont, und Carrie im Vordergrund vor riesigen Feuerflammen lassen sie als Tochter des Satan erkennen (was wenigstens ansatzweise den schwachsinnigen deutschen Nebentitel begründet). Mit gewaltigen Bildern hat De Palma das Inferno kunstvoll untermauert und dieses eindeutig in den Hintergrund gestellt. Bildlich mag diese nur wenige Minuten dauernde Szene wohl bis heute einmalig sein (abgesehen vom geteilten Bildschirm, den derselbe Regisseur noch einmal in “Dressed to Kill” anwandte). Allein diese Bilder verzeihen, daß das Ende nicht ganz so furios ausfallen konnte wie im erfolgreichen King-Roman.
Nun hat der Film ein kleines Loch. Carrie hat sich an allen Mitschülern gerächt: Was kann jetzt noch passieren? Der Höhepunkt des Films ist erreicht worden. Die letzten 15 Minuten scheinen nur noch ein kleines Zubrot zu sein.
Schlafwandlerisch schleicht Carrie reumütig nach Hause, um ihre Mutter um Verzeihung zu bitten, weil diese mit ihrer Meinung so recht hatte. Als Carrie zuhause angekommen ist, hat ihre Mutter schon überall Kerzen aufgestellt, die schon Böses erahnen lassen. Wenn ihre Mutter dann tatsächlich mit dem Messer auf ihre Tochter einsticht, ist es für den Zuschauer selbst wie ein Stich ins Herz. Die arme Carrie, lebenslang nur gehänselt und gedemütigt, soll eine Hexe sein. So schwer man es sich eingestehen mag, aber die grausame Rache an den Schülern war absolut nachvollziehbar. Auch wenn diese dabei ihr Leben gelassen haben, tut es keinem für einen dieser Menschen leid. Sie haben es verdient. Und nun sticht Carries Mutter ihr einfach ein Messer in den Rücken - vom Wahnsinn befallen und im Glauben, eine Hexe vor sich zu haben, die sie durch ihre einzige Sünde im Leben gezeugt hat. Schwer verletzt kann Carrie in die Küche kriechen, dicht verfolgt von ihrer Mutter. Dabei fällt auf, daß die Mutter nur aus der Sicht von ihrer Tochter gefilmt wird. Das verdeutlicht, wie sehr sie jetzt ihrer unterlegen und hoffnungslos ausgeliefert ist. Um ihr Leben zu retten, muß sie nun ihre Mutter töten. Mit zwei Messern wird sie mit beiden Händen an die Wand genagelt. Obwohl diese nun völlig unfähig ist, sich zu wehren, setzt Carrie einen kompletten Schlußstrich und tötet ihre Mutter so wie Jesus am Kreuz getötet wurde. Exakt in die gleichen Körperstellen wie die Jesus-Figur in der Kammer, in die Carrie immer von ihrer Mutter gesperrt hatte, wenn diese - in ihren Augen - eine Sünde begangen hatte, stoßen die Messer - der ideale Tod für die religiöse Mutter, so wie ihr Vorbild zu sterben.
Carrie wird sich gewahr, was sie ihrer Mutter angetan hat und weiß, daß sie keinen Menschen mehr hat, dem sie sich anvertrauen kann. Sie schleppt sie in die Gebetskammer, als das Haus zu wackeln und auseinanderzufallen beginnt, bis es vom Erdboden verschluckt wird und ebenso Carrie in den Tod reißt. Das rätselhafte Ende wirft einige Fragen auf: Warum muß Carrie für ihre nachvollziehbaren Taten auch bestraft werden? Ist sie wahrlich Satans jüngste Tochter, nur weil sie sich zur Wehr gesetzt hat gegen ihre Mitmenschen, die sie ihr Leben lang nicht ernst genommen haben?
Der Grund für Carries Untergang aber bleibt im Unklaren, was diesen Film umso beklemmender macht. Der abschließende Albtraum von Sue, der einzigen Überlebenden des Massakers, bekommt noch einmal einen besonders kunstvollen Charakter. In Wirklichkeit geht die Darstellerin, Amy Irving, rückwärts zu Carries Grab. Doch De Palma drehte diese Szene dann noch einmal rückwärts, so daß sie sich dann offensichtlich doch vorwärts bewegt. So wirken die Bewegungen unwirklich.
Die Traumsequenz enthält auch eine der größten Schreckeffekte der Filmgeschichte. Sue legt Blumen auf das Grab ihrer Mitschülerin, begleitet von einer stark emotionalen und beinahe wehmütigen Musik. Niemand, der “Carrie - Des Satans jüngste Tochter” noch nicht gesehen hat, würde jetzt noch mit einem Schock rechnen. Doch weit gefehlt: Aus heiterem Himmel schnellt Carries blutige Hand aus dem Grab und versucht, Sue hineinzuziehen. Die Musik schlägt um vom Ruhigen ins Laute - man sieht die laut schreiende Sue, die in den Armen ihrer Mutter aufwacht, von der sich die Kamera entfernt - De Palma verläßt den Zuschauer abrupt in ein verstörendes Schlußbild und den Abspann, in der wieder die ruhige Musik, die man über den gesamten Film hinweg gewohnt ist, vorherrscht.
Trotz der hochwertigen Qualitäten, die dieser Film in Aufbau, Kamera und Ausdruck der Hauptdarstellerin besitzt, kann ich dem Film eine gewisse Oberflächlichkeit nicht absprechen. Man bekommt zwar einen genauen Einblick in die Seele von Carrie, jedoch bleiben die Nebenfiguren etwas blaß charakterisiert. Sues Grund, Tommy zu einer Verabredung zum Ball mit Carrie zu überreden bleibt ebenso unbegründet und unklar (immerhin ist der Abschlußball das Größte im Leben eines amerikanischen Schülers, und ohne Partner darf man nicht zu diesem Ball.) wie der Charakter von Tommy. Wie kann sie freiwillig auf den Abschlußball - und vor allem auf ihren Freund - verzichten wollen? Meint Tommy es nun ernst mit der scheuen Carrie oder nicht? Ist sein Kuß ein Zeichen der Liebe oder spielt er nur Sue zuliebe ihren Freund? Überhaupt: Ist es wahrscheinlich, daß jeder von der Verschwörung gegen Carrie weiß - bis auf Sue und Tommy?
Einige Fragen werden vom Film doch nur vage bis gar nicht beantwortet. Aufgrund der anderen hervorragenden formalen Eigenschaften fallen diese kleinen Kritikpunkte aber nicht ins Gewicht.
“Carrie” ist eine angenehme Mischung aus beklemmender Studie eines einsamen Mädchens, Jugendfilm, Drama und natürlich - sonst wäre es keine Verfilmung eines King-Romans - Horror.
Der Roman machte King zu einem der großen Schriftsteller der Horror-Literatur, und dieses Horrordrama hatte nicht unwesentlichen Anteil daran.
Sissy Spacek und Piper Laurie sind für ihre herausragenden schauspielerischen Leistungen mit dem Oscar nominiert worden. Tatsächlich sind Gestik und Mimik ausnahmslos beeindruckend. Ganz großes Lob an Sissy Spacek, die den schwierigen, weil vielschichtigen Charakter der Carrie (einsam, weltfremd, schüchtern, später erlöst, glücklich, dann verzweifelt, rachsüchtig, wieder verzweifelt) eindrucksvoll auf die Leinwand übertrug und sich damit endgültig den Weg nach Hollywood ebnete (1974 spielte sie bereits die verstörte Freundin eines Psychopathen in “Badlands”). Der Zuschauer leidet den ganzen Film über mit ihr. Brian De Palma sagte über seine Hauptdarstellerin nicht umsonst sehr beeindruckt: “Sissy Spacek spielte beim Test alle Rollen - und brillierte in jeder.”
Bemerkenswert: In “Carrie” hat John Travolta in der Rolle des fiesen und tumben Billy 22-jährig sein Filmdebüt.
Fazit: Wirklich qualitativ ungemein beeindruckende, wenn auch etwas oberflächliche King-Verfilmung, die viele unvergeßliche visuelle und technische Momente besitzt. Die Hauptrolle spielen hier keine vordergründigen Horrorelemente und Blutszenen, sondern ist eine angenehm zurückhaltende und einfühlsame Charakterstudie eines einsamen und unverstandenen Mädchens, das einen Rachefeldzug startet.