So dokumentarisch genau ein Film auch beobachtet ist, so ist die darin beschriebene Realität immer von dem subjektiven Empfinden des Erzählenden beeinflusst. In der Regel bestimmt eine Sichtweise den Charakter eines Films, auch wenn weitere Ebenen hinzugefügt werden. Beispielhaft für eine solche Gestaltung ist "Matrix", der bewusst zwei Realitätsebenen nebeneinander stellte und auch miteinander verknüpfte, aber dabei eine eindeutige Stellung bezog - die eine Ebene ist wahr und gut, die andere nur eine Illusion. Regisseur Tarsem Singh hatte mit "The Cell" ebenfalls schon mit diesem Ebenenwechsel gespielt, in dem er Jennifer Lopez in das Hirn eines sich im Koma befindlichen Mörders beförderte, um dessen letztes Opfer zu retten. Auch hier wird trotz der gegenseitigen Beeinflussnahme der unterschiedlichen Charaktere (gut und abartig böse) eine einfache Lösung angeboten, die den Zuschauer nicht im Ungewissen lässt.
"The Fall" versucht diese Art Stellung gar nicht erst zu ziehen, sondern verknüpft unterschiedliche Ebenen in einer Art und Weise miteinander, dass im Kopf des Betrachters dessen eigene Wahrheit entstehen kann. Geschickterweise findet die gesamte Handlung in einem sehr begrenzten Umfeld statt, dass an Eindeutigkeit kaum zu überbieten scheint - in einem Krankenhaus im Jahr 1920. Die Protagonisten sind auf Grund ihres Zustands zudem noch in ihrem Wirkungskreis eingeschränkt. Dadurch erhält der Film eine Grundlage, die jedem Betrachter in ihrer Funktion vertraut ist, wodurch die daraus entstehenden subjektiven Veränderungen noch deutlicher hervortreten. Trotzdem vermeidet "The Fall" eine Gewichtung innerhalb dieser entstehenden Empfindungen und betont damit, dass auch die scheinbar klarste Realität letztlich nur vom Auge des Betrachters abhängig ist.
Deshalb verzichtet "The Fall" auch auf eine typische Einleitung. Merkwürdig absurde und gleichzeit abstrakt wirkende Schwarz-Weiß Bilder werden in Zeitlupe gezeigt. Eine Dampflokomotive steht auf einer Brücke und ein Pferd wird von dieser abgeseilt. Übergangslos befindet sich die Handlung plötzlich in einem schönen alten Gebäude, dass sich als Krankenhaus herausstellt. Darin befindet sich Alexandria (Catinca Untaru), ein 5jähriges Mädchen, dessen Arm gebrochen ist, und das trotz der freundlichen Krankenschwester Evelyne (Justine Wadell) etwas verloren wirkt. Bei ihren Streifzügen durch das Gebäude lernt sie Roy Walker (Lee Pace) kennen, der auf Grund einer Lähmung seiner Beine ans Bett gefesselt ist. Sie fasst Vertrauen zu ihm und bittet ihn, ihr eine Geschichte zu erzählen.
"The Fall" nimmt diese Begegnung ernst, indem hier keine Geschichte nur aus der Sicht eines Erwachsenen erzählt wird, sondern immer auch der kindliche Blick der Kleinen die Handlung mitbestimmt. Die Intentionen, die Roy Walker mit seiner Erzählung verfolgt, ändern sich ständig. Während der Beginn seiner Geschichte, in deren Mittelpunkt fünf seltsame Helden stehen, noch von ein wenig Ungeduld geprägt ist, die Bitte des Mädchens erfüllen zu müssen, wird sie zunehmend zum Selbstläufer bis er sie gezielt anwendet, um Alexandria dazu zu bringen, ihm verbotenerweise Tabletten gegen seine Schmerzen zu besorgen. Und zwar so viele, dass sie ihn für immer davon befreien. Doch er hat nicht mit dem starken Willen des Mädchens gerechnet, die ständig Einfluss auf seine Story nimmt.
Diese fantastische Story wird mit grosser Kreativität und Oppulenz von Tarsem Singh in Szene gesetzt, die einen grösstmöglichen Kontrast zu dem traurigen Krankenhausleben aufweist. Auffällig bei der Gestaltung ist der Verzicht auf CGI-Effekte. Stattdessen haben sich die Macher die Mühe gemacht, diese Handlung in den unterschiedlichsten Ländern vor atemberaubenden Panoramen zu drehen. Darin verbirgt sich eine Verbindung aus Fantasie und Realität, die auch als Kommentar zum heutigen Filmschaffen zu verstehen ist. Nicht ohne Grund arbeitet Roy als Stuntman beim Film, wobei er sich auch die schweren Verletzungen zugezogen hat. So irreal seine Story manchmal wirkt, so sehr durchdringt seine bittere Lebensrealität seine Erzählung, und so unglaublich die Ortswechsel teilweise stattfinden, so real sind sie selbst. Während inzwischen in immer mehr Filmen CGI-Effekte für eine besonders genaue Realitätsanmutung sorgen sollen, entsteht hier das Unglaubliche aus der Wirklichkeit.
Und während kindliche Fantasie im Film meistens etwas Süssliches oder zumindest Naives an sich hat, gesteht man der kleinen Alexandria hier ihre eigenen Gedanken zu. "The Fall" begreift, dass Kinder im Gegensatz zu den Erwachsenen gar nichts erfinden oder beeinflussen, sondern nur ein Spiegelbild davon abgeben, wie sie die Wirklichkeit empfinden. Der Betrachter erkennt in Alexandrias Worten eine schreckliche Wahrheit - ihr Vater wurde vor ihren Augen getötet - aber das kleine Mädchen selbst empfindet es ganz anders, weshalb sie auch Roys Geschichte, die von immer erbitterteren Gedanken geprägt wird, nicht akzeptiert und ihn regelmässig zu Wendungen zwingt, die er so nicht wollte. Damit verändert sich auch seine eigene Realität, die doch so klar und deutlich schien.
"The Fall" ist gleichzeit spannend, ernst und humorvoll und nicht zuletzt optisch überwältigend. Aus den unterschiedlichen Blickwinkeln, aus denen der Film seine Geschichte erzählt, ergeben sich immer wieder Sprünge und Überraschungen, welche dem Betrachter viel Raum für eigene Gedanken belassen. Doch letztlich begreift man "The Fall" vor allem in einer Hinsicht - als Liebeserklärung an das Kino (9/10).