„¡Ay, caramba!“
Die zweite Staffel der legendären, sowohl für ein jugendliches als auch ein erwachsenes Publikum konzipierten US-amerikanischen Zeichentrickserie „Die Simpsons“ umfasst statt lediglich 13 wie in Staffel 1 nun satte 22 Episoden und markiert den Übergang vom ‘80er- ins ‘90er-Dezenium. Im Original von Oktober 1990 bis Juli 1991 erstausgestrahlt, ging sie hierzulande von der auf Dezember 1991 datierenden ersten Episode abgesehen erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1992 über den Äther, damals noch im ZDF. Der Vorspann war aber jetzt der klassische, nachdem eine Szene abgeändert wurde; die feinen Variationen pro Episode wurden beibehalten. Die Haarfarben aller Nebenfiguren dürften nun ebenfalls stimmen, die deutsche Synchronisation nimmt sich in Sachen übertriebener Eindeutschungen zurück und Apu hat einen Synchronsprecher erhalten, der ihn mit seinem charakteristischen indischen Akzent spricht. Auffallend ist auch die massiv gestiegene Anzahl populärkultureller Referenzen.
„Ich glaube, er ist geistig etwas unterbelichtet…“
Bereits die erste Episode „Der Musterschüler“ geht diesbezüglich mit Arcade-Game-, King-Kong- und Tom-&-Jerry-Parodien in die Vollen. Bürgermeister Quimby und die Radiomoderatoren Bill und Marty tauchen hier erstmals auf – und Bart wird am Ende gerade noch so in die nächste Klassenstufe versetzt. In „Karriere mit Köpfchen“ schlägt bei Homer ein neues Haarwuchsmittel an, wodurch er beruflich aufsteigt. Mit seinem Lauf durch Springfield wird auf den Filmklassiker „Ist das Leben nicht schön?“ angespielt. Bei Episode 3, „Horror frei Haus“, handelt es sich um das erste Halloween-Special, das voller Anspielungen auf Horrorfilme und Schauerliteratur steckt. So persifliert die erste von Bart im Baumhaus erzählte Geschichte diverse Haunted-House-Storys. In der zweiten geht’s um Entführungen durch Außerirdische, erstmals tauchen die typischen Simpsons-Aliens auf. Und als Lisa Poes „Der Rabe vorliest“, wird eine richtiggehende Literaturgeschichtsstunde daraus.
Die vierte Episode, „Frische Fische mit drei Augen“, gerät zu einer Persiflage auf US-Gouverneurs-Wahlkämpfe (und referenziert auf „Citizen Kane“). Als Homer in Episode 5 zum Sportmaskottchen wird, zieht man nach Capital City um. In der sechsten Folge „Der Wettkampf“ gibt es ein Wiedersehen mit Ned Flanders, dem frommen Nachbarn der Simpsons. Stellvertretend für Homer versus Ned soll Bart unbedingt gegen Flanders-Sprössling Todd im Minigolf gewinnen. Auch hier gibt es mehrere schöne Filmanspielungen und Zitate zu entdecken.
Episode 7, „Bart bleibt hart“, spielt an Thanksgiving und beschwört einen Geschwisterkonflikt zwischen Lisa und Bart herauf, der erläutert, verarbeitet und schließlich gelöst wird. Erstmals sind die Radiomoderatoren Marty und Bill nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. „Der Teufelssprung“, die achte Episode, arbeitet Gemeinsamkeiten zwischen Homer und Bart heraus, thematisiert Wrestling, Monster-Truck-Shows und die Faszination, die von derartigen Veranstaltungen ausgeht – auch aufgrund ihrer medialen Vermittlung und Promotion. Als Bart schließlich Evel Knievel auf seinem Skateboard nacheifern will, gerät diese Folge ein Stück weit zu einer Hommage an jenen legendären Stuntman. Und ich erinnere mich, dass dies die erste Episode dieser Staffel gewesen sein dürfte, die ich seinerzeit im Zuge ihrer Erstausstrahlung gesehen habe.
„Das Fernsehen ist an allem schuld“ verhandelt den Einfluss gewalttätiger Cartoons auf die Kinder, natürlich am Beispiel Itchys & Scratchys. Daraus entsteht eine auf mehreren Ebenen angelegte, geniale Satire, die sowohl die Medien als auch bürgerliche Proteste aufs Korn nimmt. Eine der bis hierhin besten „Die Simpsons“-Episoden, die nur bedingt an Aktualität eingebüßt hat. Als ich die Episode im Sommer 2023 sah, war es nicht lange her, dass in den USA tatsächlich Michelangelos David gecancelt wurde. Schön auch die „Psycho“-Mordszenenparodie dieser an Referenzen nicht armen Folge.
In „Bart kommt unter die Räder“ erleidet Bart eine Nahtoderfahrung, nachdem er von Mr. Burns angefahren wurde. Es kommt zu einem Duell zwischen Mr. Burns, stellvertretend für die Reich-und-mächtig-Fraktion, und einem Winkeladvokaten, bei dem es nicht mehr um Barts Gesundheit geht, sondern nur noch um Geld. Die Serie ist mit ihren jüngsten Episoden ziemlich bissig geworden, diese zehnte Folge endet dennoch sehr romantisch.
„Ich bin ein politischer Häftling!“
„Die 24-Stunden-Frist“ ist diejenige, die Homer nach einer Kugelfischvergiftung noch bleibt. Humoristisch bis tragikomisch setzt man sich damit auseinander, was man täte, wenn man wüsste, dass man nur noch einen Tag zu leben hat. Rückblenden in die Kennenlernphase Marges und Homers bietet Episode 12, „Wie alles begann“. Marge war eine Feministin, Homer und Barney waren bereits miteinander befreundet. Als sie gemeinsam nachsitzen mussten, stieß Marge dazu. Obwohl Homer bereits damals ein Vollpfosten war, ging alles „gut“ und, ja: einmal mehr romantisch aus.
„Es ist so komisch, weil es wahr ist!“
Moralische Fragen im Kleinen wirft „Das achte Gebot“ auf, die zunächst 1.200 v. Chr. während der Verkündung der Zehn Gebote spielt. In der Gegenwart lässt sich Homer schwarz ans Kabelfernsehnetz anschließen… Damit wird gut die reale Kabel-Aufbruchsstimmung und -Begeisterung dokumentiert und wie bereitwillig mancher Fernsehjunkie sich sogar Dauerwerbesendungen ansah – wenngleich mir die Serie damit ein wenig spät dran gewesen zu sein scheint. Nebenbei wird auch die Kirche aufs Korn genommen und Lisa gerät zur nervtötenden Moralistin.
„Nicht dass du vor deinen Freunden damit angibst!“
„Der Heiratskandidat“ stellt Rektor Skinner in den Mittelpunkt, der hier mit Marges Schwester Selma verkuppelt werden soll. Erzählt wird die Geschichte einer abseitigen Romanze, urkomisch und voller Irrungen. Der superbrutale Auftakt von „Ein Bruder für Homer“ entpuppt sich als Actionfilm im Kino, doch Opa Simpsons Herzanfall ist real. Er eröffnet Homer, einen Halbbruder zu haben, den er einst mit einer Prostituierten gezeugt habe. Homer sucht ihn und macht ihn in Detroit ausfindig. Der entpuppt sich als stinkreicher Inhaber eines Automobilkonzerns, der Homer als Fahrzeugkonstrukteur anstellt. Daraufhin muss er sein Geschäft aufgeben…
„Sein Leben war ein einziger Aufstieg – bis er dahinterkam, dass er ein Simpson ist.“
In Episode 16, „Betragen mangelhaft“, dreht sich alles um Familienhund Knecht Ruprecht. Nachdem er Homers sündhaft teure Turnschuhe zerfetzt hat, muss er in die Hundeschule. Dabei wird vieles aus der Hundeperspektive gezeigt, das ist sehr schön gemacht. Lisa bleibt mit Mumps zu Hause, während Bart verzweifelt versucht, dem Hund Benehmen beizubringen. Eine ans Herz gehende Folge über Haustierliebe, Verantwortungsbewusstsein und Loyalität – sowie dumme Hunde.
„Die Erbschaft“ erhält Opa Simpsons, nachdem er sich in Bea verliebt hatte und mit ihr zusammenkam – und sie verstarb, als Homer ihn zwang, wie an jedem dritten Sonntag im Monat etwas gemeinsam zu unternehmen, obwohl er eigentlich zu ihrem Geburtstag mit Bea verabredet war. Daraus resultiert ein Zerwürfnis mit Homer, aber auch eine schöne Stange Geld, woraufhin die Frage diskutiert wird, was man am besten mit plötzlichem Reichtum anstellt.
„Wiege ich vielleicht ein klein wenig zu viel?“
Ein spaßiger Besuch in einem Mega-Vergnügungsschwimmbad endet in „Marges Meisterwerk“ für Homer hochnotpeinlich. Er muss sich daraufhin eingestehen, zu dick zu sein, und fasst den Entschluss, abzunehmen. In einer Parallelhandlung zeigen Rückblenden, wie ein ignoranter Zeichenlehrer die talentierte Marge in jungen Jahren demotivierte. Nun greift sie dieses Hobby wieder auf – und soll ausgerechnet Mr. Burns porträtieren, der bisher jedes seiner Porträts furchtbar fand. Dieser Geschichte lässt sich entnehmen, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt – und Rutschen eine Gefahr für zu wohlbeleibte Menschen darstellen. Einen Gastauftritt hat Ringo Starr, der all seine Fanpost persönlich beantwortet – auch wenn es ob der schieren Masse schon mal Jahrzehnte dauert.
„Das ist eben die Tragik der Mittelklasse…“
Ganz um die Schule dreht sich Episode 19, „Der Aushilfslehrer“: Lisa bekommt in Mr. Bergstrom einen supercoolen Vertretungslehrer, in den sie sich verliebt, während Bart sich zur Klassensprecherwahl aufstellen lässt. Ersteres ist natürlich nicht frei von Tragik und verarbeitet auf durchaus respektvolle Weise die Gefühlswelt ganz junger Mädchen, die für einen Lehrkörper zu schwärmen beginnen, während letzteres eben diesen ernstzunehmenderen Aspekt der Episode konterkariert und anhand jungenhaft-infantilen Wettbewerbs- und Wahlkampfgetöses ähnliches Verhalten Erwachsener persifliert.
Einen Staffelhöhepunkt bildet „Kampf dem Ehekrieg“, als Marge und Homer eine Hausparty geben, auf der Homer sich betrinkt. Daraufhin hängt der Haussegen schief, was in eine Ehetherapie bei Reverend Lovejoy mündet. Homer spielt „Der alte Mann und das Meer“ nach, seine Ehe scheint zerrüttet, und doch, auch hier: ein Happy End. „Drei Freunde und ein Comic-Heft“ (Episode 21) – kann das gutgehen? Zunächst einmal befinden sich Bart und Lisa auf einer Comicmesse, „Casper, der freundliche Geist“ und „Richie Rich“ bekommen einen mit und Superhelden-Comics sowie Comichändler und -sammler werden mittels des fiktionalen „Radioactive Man“ und den Kult um ihn durch den Kakao gezogen. Vor allem aber geht es um ein teures Uralt-Heftchen, dessen Erwerb sich Bart, Milhouse und Martin teilen. Eine jüngere Zuschauerschaft dürfte aus dieser köstlichen Folge mitnehmen, dass es schwierig sein kann, zu teilen, es letztlich aber besser ist, es zu können und zu tun.
Der Staffelabschluss „Der Lebensretter“ eröffnet mit Pseudosicherheitshinweisen für den Fall von Störfällen im Atomkraftwerk, um die Bevölkerung Springfields in Sicherheit zu wiegen. Mr. Burns kann jedoch nicht teilnehmen, denn er ist krank und benötigt eine Bluttransfusion. Ein Spender ist aber schwer zu finden, denn er hat eine seltene Blutgruppe – die er ausgerechnet mit Bart teilt… Bei diesem bedankt sich Burns nach erfolgter Lebensrettung lediglich mit einer Postkarte. Eine Folge über Dankbarkeit und Erwartungshaltungen, die aber auch dazu dient, Mr. Burns – und Homer! – weiter zu charakterisieren.
Die zweite Staffel arbeitet neben ihren popkulturellen Referenzen auch immer mal wieder mit historischen Anspielungen und bildet eine interessante Evolutionsstufe: Sie geht noch nicht so hart mit Homer ins Gericht wie spätere Staffeln. In seiner Einfalt wirkt er oft eher sympathisch, zumindest entwickelt man einiges Verständnis für ihn. Daran, dass er ein eigentlich liebender Familienvater ist, wird kaum ein Zweifel gelassen, alle Marge und ihn angehenden Handlungsstränge enden harmonisch und romantisch. Gesellschaftliche Themen betreffend wird die Serie jedoch ab der neunten Episode angriffslustiger und satirischer, was sich im Laufe der weiteren Staffeln verstärken wird. Auch wenn die eine oder andere finale Pointe hier noch nicht der ganz große Wurf ist, ist der Humor gerade wegen seines Abwechslungsreichtums, seinem Changieren zwischen charmanter SitCom, Slapstick, Karikatur, Parodie und Satire, sehr einladend und einnehmend. Kaum verwunderlich also, dass Groening und seine Simpsons die Erfolgsleiter weiter hochkletterten und zum festen Bestandteil der Popkultur der 1990er Jahre avancierten.