„Cowabunga!“
Nachdem der US-Comiczeichner Matt Groening im Jahre 1985 die Anfrage bekommen hatte, Cartoons für die „Tracey Ullman Show“ zu entwickeln, schuf er die Simpsons, eine brachiale Karikatur durchschnittlicher US-Familien. Sie gingen als kurze Clips im April 1987 auf Sendung und verfügten über einen gewöhnungsbedürftig unbehauenen, krakeligen Strich, da die Zeichnungen von den Animatorinnen und Animatoren nicht nachbearbeitet wurden. Zwei Jahre später erwuchs daraus eine eigene Zeichentrickserie für den US-Fernsehsender Fox, beginnend mit einer am 17.12.1989 erstausgestrahlten Weihnachts-Pilotfolge. Im Januar 1990 ging die erste reguläre Episode auf Sendung, seitdem kamen hunderte von wechselnden Regisseuren inszenierte hinzu. „Die Simpsons“ gelten als die langlebigste US-Zeichentrickserie und -Hauptsendezeit-Produktion.
Nach Deutschland kam die Serie 1991, zunächst im Bezahlfernsehen, ab September im Nachmittagsprogramm des ZDF, von wo sie später zu Pro7 wechselte. Die Cartoons aus der „Tracey Ullman Show“ waren hierzulande in der ersten Hälfte der 1990er auf RTL zu sehen.
Die Simpsons-Kernfamilie lebt in Springfield und besteht aus Vater Homer, einem im Atomkraft arbeitenden Einfaltspinsel, Mutter Marge, einer verlässlichen und ihre Familie liebenden Hausfrau mit Turmfrisur, Sohn Bart, einem frechen Rowdy, der um keinen Streich verlegen ist, dessen jüngerer Schwester Lisa, einer äußerst smarten und vorbildlichen Schülerin, und dem Nesthäkchen Maggie, einem Säugling. Das Haus bewohnt man zusammen mit Hund Knecht Ruprecht und Katze Schneeball II. Homers Einfalt und Barts Flegelhaftigkeit treiben Marge häufig in den Wahnsinn und Lisa zur Verzweiflung; wirken jedoch Probleme von außen auf die Familie ein, hält man zusammen, und letztlich findet man immer wieder zueinander.
Ich erinnere mich, wie ich die Serie mit ihren gelbhäutigen Menschen gleich ins Herz schloss, als sie 1991 im ZDF lief, damals noch im Glauben, eine klassische auf ein kindliches Publikum ausgerichtete Zeichentrickserie zu sehen – und wie schnell eine regelrechte „Bartmania“ losbrach, Barts Sprüche zitiert wurden, Bart-Simpson-Merchandise die Regale füllte, die „Bravo“ Bart-Poster brachte – es war, als sei er zum Helden und Idol von Jungs und Halbstarken geworden. Die Simpsons eroberten den popkulturellen Mainstream und Bart galt als endcool. Das war mitunter etwas zu viel des Guten – und als die Serie 1994 vom ZDF zu Pro7 wechselte, verlor ich sie aus den Augen, da wir weder Kabel- noch Satellitenanschluss hatten und den Sender somit nicht empfingen. Dies änderte sich erst, als ich Jahre später meine eigene Wohnung bezog.
Die kürzlich erfolgte Sichtung der 13 ca. 22-minütige Episoden umfassenden ersten Staffel von DVD half, diese Erinnerungen hervorzuholen. Endlich konnte ich sie in der korrekten Reihenfolge gucken, wobei ich die Pilotfolge „Es weihnachtet schwer“, in der die Familie zu ihrem Hund Knecht Ruprecht kommt und die das ZDF vermutlich saisonbedingt als letzte statt als erste Episode sendete, noch gar nicht kannte. Neben dem typischen Simpsons-Humor verfügt sie passend zur Weihnachtszeit über eine unheimlich warmherzige Geschichte. Mit Episode 2, „Bart wird ein Genie“, war ich sofort wieder drin im faszinierend mitanzusehenden raschen Aufbau des serienimmanenten sozialen Mikrokosmos und fühlte mich in ihm wie zu Hause – bzw. wie der 12-jährige Junge, der seinerzeit vorm elterlichen Fernseher saß. Intelligenz ist schön und gut, aber längst nicht alles, vermittelt diese Folge, und auch Intelligenzbestien und Hochbegabte Kinder können Arschlöcher sein – ein Balsam für die Seelen vieler Heranwachsender, die aber auch als eine Art Gesellschaftssatire gelesen werden kann, was die frühen „Simpsons“ mehr zu einer modernen, frechen Familienserie denn zu einer reinen Kinder- oder Jugendserie machte.
Episode 3, „Der Versager“, gehört Homer, der hier eine dramatische Sinnkrise durchleidet, am Ende aber seinen Beruf erhält, dem er bis heute nachgeht: Er wird von Mr. Burns zum Sicherheitsinspektor in Sektor 7G des Springfielder Kernkraftwerks befördert. So sehr sich hier über mangelnde Sicherheitskompetenz in Kernkraftwerken und auch über Homer lustig gemacht wird, so sehr wird gleichzeitig familiärer Zusammenhalt beschworen – und Homer für den weiteren Serienverlauf charakterisiert, wie es in der zweiten Episode mit Bart geschah. Episode 4, „Eine ganz normale Familie“, nimmt sich die ganze Familie vor, an deren ewigen Streitereien sogar ein Familientherapeut scheitert, „Bart schlägt eine Schlacht“ führt den gefürchteten Raufbold Nelson ein, gegen den Bart antreten muss und hierfür Unterstützung zusammentrommelt, „Lisa bläst Trübsal“ greift Lisas Schwermut auf, unter dem sie dann und wann zu leiden hat, und ist zugleich eine wunderschöne Liebeserklärung an ihr Instrument: das Saxophon. Episode 7, „Vorsicht, wilder Homer“, lässt von allen bisherigen Folgen am stärksten den anarchischen Irrsinn späterer Entwicklungen durchscheinen, wenn Homer nach einem vollkommen missglückten Familienausflug ins Grüne als wilder Waldbewohner und Affenmensch und somit als Sensation von der Öffentlichkeit aufgefasst wird.
In „Bart köpft Ober-Haupt“ wird mit Jimbo ein weiterer Schulrowdy eingeführt, den Bart beeindrucken möchte, indem er der Statue des Stadtgründers Jebediah Springfield den Kopf absägt. Vordergründig Dumme-Jungen-Streiche und falsche Vorbilder bzw. „schlechten Umgang“ thematisierend, wird hier auch die öffentliche Empörung über die Schändung patriotischer Wahrzeichen und die daraus resultierende Gruppendynamik aufs Korn genommen. „Der schöne Jacques“ macht Marge schöne Augen, nachdem Homer ihren Geburtstag vergessen hat, woraus eine handfeste Ehekrise erwächst. Die Lieblosig- und Trotteligkeit manch Ehemanns wird durch den Kakao gezogen, wenngleich auf eine Weise, in der man den Ehepartnern, insbesondere Homer, die Daumen drückt, dass alles wieder in Ordnung kommt – tragikomisch und zugleich sehr herzlich. Doch direkt eine Episode später, in „Homer als Frauenheld“, strapaziert Homer die Geduld seiner Frau erneut, wenn er despektierliche Fotos von sich mit einer Bauchtänzerin provoziert, die ausgerechnet Bart angefertigt hat. Varieté, Eifersucht und die möglichen Folgen pikanter Fotos werden diskutiert. Dass es Bart in „Tauschgeschäfte und Spione“ als Austauschschüler nach Frankreich verschlägt, ist Anlass für eine köstliche Persiflage französischer Stereotype; dass Barts albanisches Pendant Adil im Springfielder Atomkraft schnüffelt, karikiert US-amerikanische Ängste vor Industriespionage. „Der Clown mit der Biedermaske“ führt nicht nur Krusty, den Clown ein, sondern auch dessen kriminellen Sidekick Tingeltangel-Bob und persifliert die Unterhaltungsbranche, bevor das Staffelfinale „Der Babysitter ist los“ zu einem waschechten Thriller avanciert.
In welchem US-Staat Springfield liegt, wird bewusst verschwiegen, denn Groening entschied sich für diesen Ortsnamen, da es ihn in gleich 35 Bundesstaaten gibt und somit prädestiniert ist, geht es um die von der Serie angestrebte exemplarische Darstellung einer US-Kleinstadt ohne genauere lokale Verortung. Was sich in dieser ersten Staffel dort ereignet, ist noch wesentlich stärker in einem sich an der Realität orientierenden Alltag verwurzelt und somit weniger absurd und auf anarchischen, offensiven Humor gepolt als in späteren Staffeln. Gesellschaftskritik wird noch subtiler eingearbeitet, auch die popkulturellen Referenzen sind noch weit weniger ausgeprägt und die Simpsons-Familie dient noch nicht als abschreckendes Beispiel, sondern ist prinzipiell funktional und vor allem überaus menschlich. Das macht diese erste Staffel besonders charmant. Funktional ist auch der Humor, denn bereits diese ersten Episoden stecken voller Situationskomik, überraschenden Wendungen, Slapstick und Action sowie vielen satirischen Anleihen und den ersten Running Gags in Form des in Episode 2 etablierten Vorspanns, der sich im Aufbau noch von späteren Versionen unterscheidet, aber bereits seine stets neuen feinen Variationen aufweist.
Weitere Details, in denen sich die erste Staffel von den folgenden unterscheidet, sind die Haarfarben von Nebenfiguren (Barney beispielsweise ist noch blond, Moe hat noch schwarzes Haar) sowie einige Besonderheiten der deutschen Synchronisation, in denen die „Tom & Jerry“-Hommage/-Persiflage „Itchy & Scratchy“ in „Itschy & Kratschy“ übersetzt wird, Tingeltangel-Bob noch Sideshow-Bob heißt und der indischstämmige Einzelhändler Apu Nahasapeemapetilon noch eine andere Stimme hat, mit der er akzentfrei spricht.
Die erste Staffel legte auf höchst unterhaltsame und kurzweilige Weise den Grundstein dieser großartigen Zeichentrickserie, die diese Gattung auf ein neues Niveau hob und die populärkulturelle Landschaft insbesondere ab den 1990ern prägte. Der Suchtfaktor ist hoch, die grenzenlose Ausschlachtung durch Merchandise und die damit einhergehende Omnipräsenz etwas fragwürdig, aber der Spaß enorm. Eine dieser Serien, um die kaum jemand herumkommt.