Schon immer faszinierten diese bereits seit Jahrmillionen ausgestorbenen Tiere die Menschheit: die Dinosaurier. Funde gewaltiger Fossilien animierten die Menschen zur Bildung von Legenden wie wohl der der Drachen. Erst seit dem 19. Jahrhundert befasst sich die Wissenschaft ernsthaft mit dem Thema und versucht, die Geschichte und das Leben der Riesenechsen zu rekonstruieren. Damit wurden die Saurier zwar entmystifiziert, verloren aber nichts von ihrer Faszination. Im Gegenteil.
Immer neue Details aus der Wissenschaft versetzen die Menschen in Erstaunen und Erschrecken. Da ist von Zähnen weit länger und schärfer als Küchenmesser die Rede, von Landtieren groß wie ein Mietshaus, von seltsamsten Arten nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Luft und im Wasser. Heute wissen wir: Gut 150 Millionen Jahre lang beherrschten die Dinosaurier die gesamte Erde. Wenn man bedenkt, dass es den heute herrschenden Homo Sapiens gerade einmal seit einigen zehntausend Jahren gibt…
Natürlich boten sich diese beeindruckenden Tiere schon immer für Schauergeschichten in Kino und TV an. Allein die unzähligen Verfilmungen des ersten Saurier-Romans, Arthur Conan Doyles „Lost World“. Und dann natürlich dieser Stoff gründlich modernisiert von Michael Crichton und großteils ganz annehmbar verfilmt in mehreren erfolgreichen „Jurassic Park“-Streifen. Aber das Wichtigste fehlte noch, um Saurier-Fans nachhaltig zufriedenzustellen: eine Tierdokumentation, die realistisch einen Einblick in das damalige Leben der Riesenechsen gibt.
Und wer konnte das besser bewerkstelligen als die BBC, Königin der Dokumentarfilme? Weder dröge langweilend noch populistisch reißerisch musste die Doku werden, sondern glaubhaft und seriös, dabei aber unterhaltend. Das hat die BBC formidabel geschafft! Nicht etwa wie die üblichen Saurier-Dokus bis dahin, in denen ein bärtiger Wissenschaftler vor grauen Schautafeln steht und auswendig gelernte Daten herunterrasselt. Und auch nicht wie die Ami-Nachahmer-Dokus, die vergleichsweise schlecht animierte CGI-Echsen durch ein urzeitliches Amerika stapfen ließen und dem Zuschauer nichts wirklich Interessantes erzählten.
Die BBC dagegen ging die Sache genau richtig an. Zum einen berieten mehr als einhundert Wissenschaftler die Fernsehmacher, damit die Doku nicht zur reinen Spekulation geriet. Die neuesten Erkenntnisse aus Natur- und Erdgeschichte wurden zusammengetragen, um schon die Umwelt, in denen die Saurier lebten, realitätsgetreu nachstellen zu können. Freilich war vor allem wichtig, das aktuellste Wissen der Saurier-Forscher zu bündeln und dann umzusetzen.
Die Umsetzung zum anderen ist absolut grandios gelungen. Die Produzenten scheuten weder Geld noch Mühe, um haarsträubend lebensechte Saurier-Animationen zu kreieren. Teilweise wurde mit echten Modellen, zum Teil mit dem Computer gearbeitet, wie bei „Jurassic Park“. Nicht nur, dass mit viel Liebe zum Detail gewerkelt wurde. Hier arbeiteten Effektemacher und Wissenschaftler auch eng zusammen: So weiß man heute zum Beispiel, dass die nächsten noch lebenden Verwandten nicht etwa die Krokodile sind, sondern die Vögel. Also ließ man –bei den Dinos und in den Situationen, wo es passte–, diese von den Bewegungsabläufen her wie Vögel agieren. Auch bei anderen Verwandten und heute ähnlich lebenden Tieren wurden Anleihen für die Animation gefunden und dann flüssig umgesetzt, sodass nicht nur ein enormer Realismus vom Schauwert her, sondern auch vom wissenschaftlichen Hintergrund her die Folge war.
So kommt man an dieser Stelle auch gleich zum größten scheinbaren Kritikpunkt an dieser Doku: dass hier eben dermaßen real das Leben der Dinos vorgegaukelt wird, obwohl wissenschaftlich nicht endgültig bewiesen. Diese Kritik kann eigentlich nur verpuffen. Am Anfang der ersten Folge wird bereits deutlich gesagt, dass nur die Möglichkeit dokumentiert wird, wie die Saurier damals aussahen, sich bewegten und ihr Leben führten. Allerdings ist die Doku wirklich bis auf wenige in der Forscherzunft strittige Einzelheiten nach dem damals aktuellen wissenschaftlichen Mainstream entstanden, und auf Filmaufnahmen aus der Dino-Zeit müssen wir leider verzichten. Selbstverständlich haben die gezeigten Szenen nie stattgefunden. Aber niemand konnte bisher beweisen, dass die Dinos damals NICHT so waren. Er hätte größtenteils die herrschende Lehre der Zunft gegen sich. Offenbar werden selbst die Kritiker von der überaus realistischen Fiktion derart mitgerissen, dass sie vergessen, dass solche populärwissenschaftlichen Dokus Interesse an mehr Hintergrundinformationen zu den Tieren fördern und nicht etwa plötzlich jeder Zuschauer meint, die Aufnahmen seien echt aus der Kreidezeit.
Auch einem weiteren, grundlegenden Missverständnis unterliegen diese Kritiker augenscheinlich: dass Dokumentarfilme unbedingt die unumstößliche Wahrheit zeigen müssen. Denn das kann diese Gattung von Natur aus nicht, da sie immer noch von Menschen gemacht wird. Abgesehen von Tendenz-Dokus a la Michael Moore, die nicht die Realität, sondern lediglich die eigene Meinung des Autors dokumentieren, sind auch möglichst wahrheitsgetreue Dokus stets beeinflusst von den An- und Absichten, der persönlichen Entwicklung und dem sozialen Umfeld der Macher, was sich allein schon in der Auswahl der verwendeten Szenen im Film niederschlägt.
Eine weitere Schwierigkeit bei dem Thema meisterten die Dokufilmer fabelhaft: Wie bringt man 150 Millionen Jahre und unzählige Saurierarten in nicht mal drei Stunden unter? Die Macher entschieden sich treffsicher für sechs repräsentative Arten, aus deren Leben und Alltag in jeweils einer der knapp halbstündigen Episoden ausgiebig erzählt wird. Dazu garnierten sie die Berichte mit jeweils einigen anderen Arten, um möglichst umfassend über die höchst unterschiedlichen Saurierarten (und einiger weniger anderer Tierarten) zu berichten. So bekommt der Zuschauer in je einer Folge die ersten und die letzten Dinosaurier zu sehen, die Flug- und die Meeressaurier. Wir bekommen den größten Pflanzenfresser zu sehen und last but not least den Superstar aller Dinosaurier: den Tyrannosaurus Rex. Wir bekommen Einblicke ins Herdenleben einiger Arten und ins Einzelgängertum anderer, eine insgesamt perfekt ausgewogene Mischung.
Den BBC-Leuten gelang es sogar, richtige Geschichten zu erzählen. Und zwar so gut, dass man teilweise mit den vorgestellten Tier-Persönlichkeiten eine Identifikation aufbauen kann: Wir verstehen gut, dass das Tyrannosaurus-Weibchen mit allen Mitteln ihre Brut beschützen will, und wir freuen uns mit den putzigen Diplodocus-Babys, wenn sie ihren bösen Häschern wieder mal entgehen. Merkwürdig, dass dies in einer Doku besser gelingt als in den vielen penetrant familienfreundlichen Dino-Kindertrickfilmen. Und das, obwohl gezwungenermaßen nur die begrenzten Zutaten einer Tierdokumentation geboten werden können: Jagd, Fressen, Balz, Nestbau, Junge-Großziehen. Neben den nachvollziehbaren Charakteren schafften es die Macher auch noch, eine spannende und zum Teil überraschende Dramaturgie aufzubauen. So sehen wir am Anfang der dritten Folge einen durchaus beeindruckenden Fleischfresser am Strand, und der Sprecher erzählt uns, wie das furchterregendste Raubtier dieser Zeit seine Beute fixiert. Plötzlich erhebt sich ein wahres Monstrum aus dem Meer und reißt den Fleischfresser ins Wasser. Denn das furchterregendste Raubtier dieser Zeit lebte nun einmal im Wasser…
Diese Szene zeigt zugleich die virtuose Kameraarbeit der Doku. Weil natürlich nicht wie in normalen Tierdokus tagelang irgendwo in der Savanne gewartet werden musste, um eine bestimmte Jagd- oder Balzszene im richtigen Winkel einzufangen, da ohnehin alles aus der Trickkiste kam, steht die Kamera wie rein zufällig immer an der richtigen Stelle, um die Dinos perfekt abzulichten.
Und unaufdringlich werden immer wieder Informationen zu Erdgeschichte und Klima, zu Flora und Fauna dieser Zeit vom Sprecher mitgeteilt, ohne lehrmeisterhaft zu nerven.
Schlussendlich muss noch der Score zur Doku erwähnt werden: Mit herzzerreißenden Streichern wird eine Melancholie erzeugt, die das kosmisch-zufällige Ende der Dinosaurier vorwegzunehmen scheint. Allein die Szenen, wenn sich der Ornithocheirus auf dem tragischen letzten Flug seines Lebens voranschwingt und unter ihm die Landschaft vorbeizieht, wären ohne die Musik nicht halb so wirksam. Eine pathetische, tragende Musik – nichts passt besser zu diesen gewaltigen Geschöpfen.
Man meint während der Episoden tatsächlich, man geht mit Dinosauriern. Der Originaltitel, schönes britisches Understatement, „Walking with Dinosaurs“ trifft es exakt. Mit dieser Dokumentation ist die BBC an eine neue Grenze des Dokumentarfilms vorgestoßen. Bisher hat sie niemand sonst auch nur annähernd erreichen können, auch die BBC selbst mit ihren „Walking with…“-Nachzüglern nicht.
Fast 9,5 von 10 Punkten.