Review

Frankreich, irgendwann in den 20iger Jahren des 20. Jahrhunderts: Der Aristokratensohn Georges de Sarre (Francis Lacombrade) wird von seinen Eltern auf ein streng katholisches Internat geschickt. Sensibel und spießbürgerlich wie Georges erzogen wurde, ist ihm der rüde Umgang seiner Mitschüler anfangs zuwider. Gleichermaßen schockiert wie fasziniert entdeckt er bald einen Liebesbrief seines Klassenkameraden Lucien Rouvière (François Leccia), der sich an das Klassenoberhaupt André Ferron (Gérard Chambre) richtet. Kurze Zeit nach diesem Erlebnis begegnet Georges dem 13jährigen Alexandre Moutier (Didier Haudepin) und verliebt sich beinahe aus dem Stand in den engelsgleichen Jungen…

Einstige Skandalfilme und der heutige Blick auf selbige. Hochinteressant und oft aufschlussreich, festzustellen, welche Filme, die einst Sittenwächter und Kritiker empörten und das Publikum schockierten, heute sämtliche Brisanz verloren haben. Eine besondere Stellung nehmen hierbei Filme ein, die sich mit gesellschaftlichen Tabuzonen beschäftigen die inzwischen eingefallen sind. Ein legendäres Exempel: „Mädchen in Uniform“, 1931 von einem entrüsteten Schrei durch die Welt und Deutschland im speziellen beantwortet. Die Geschichte um ein junges Mädchen, das sich in dem freudlosen Alltag eines streng geführten Mädcheninternats in ihre Lehrerin verliebt, war damals selbst in einer äußerst verhaltenen Inszenierung ein Skandal wie aus dem Bilderbuch. 26 Jahre später erschien eine Neuverfilmung die vor allem aber nicht nur durch die Besetzung Romy Schneiders in der Hauptrolle, für neuerliche, hitzige Diskussionen sorgte. Beide Filme können heute unter diesem Gesichtspunkt nur noch belächelt werden. Den gleichen mythischen Ruf hätte die Roger Peyrefitte-Adaption „Les Amitiés particulières“ auch erlangen können. Warum der Film aber dennoch in der unauffällig von zahlreichen Filmlexika geschriebenen Liste von Skandalfilmen fehlt ist (k)ein Rätsel.

Trotz seiner überaus zurückhaltenden und bisweilen auch biederen Vorgehensweise hat der französische Auftragsfilmer Jean Delannoy einen Fixpunkt, der vermutlich auch heute noch besorgte Minen hervorrufen könnte. Sein Internatsdrama erzählt nicht von einer homosexuellen Liebe zwischen Schüler und Lehrer sondern von Schüler zu Schüler. Oder, um das skandalöse Detail zu enthüllen: Von einem 17jährigen zu einem 13jährigen Schüler. Wo man also heute mit hochrotem Kopf nach Verboten wegen Verharmlosung von Pädophilie rufen würde, regten sich damals offenbar nur wenige Gemüter. Der Schein mag trügen, doch die Vergessenheit, in die „Les amitiés particulières“ geraten ist, spricht für sich. Und zwar in zweierlei Hinsicht.

Der Film entzieht sich nicht nur aufgrund seiner mangelnden Courage und der verhaltenen, merkwürdig verkrampft ins didaktische abstrahierten Darstellung dieser verbotenen Beziehung der Schublade des „Skandalfilms“, die geringe Aufmerksamkeit die der Film heute noch erntet hat er vermutlich auch aus ganz profanen, im wahrsten Sinne des Wortes einfachen Gründen selbst zu verantworten: So naiv und Klischeeüberladen wie Delannoy seinen Film inszeniert hat, so gering ist verdientermaßen auch das Interesse an ihm. Der Eindruck, der Regisseur habe bedingungslos auf die Provokativität seiner Thematik vertraut und den übrigen, notwendigen erzählerischen Faktoren zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, drängt sich einem unentwegt auf. Dabei ist der Auftakt vielversprechend und erweckt den trügerischen Eindruck, der Film wolle das von religiöser Engstirnigkeit beherrschte, antiindividualistische System, gegen das sich die Protagonisten unfreiwillig auflehnen, kritisieren. Die Eröffnungssequenz – Eine Kamerafahrt durch die endlosen Gänge der Schule mit abschließendem Schwenk auf einen blinden Priester, der sich von einem Jungen, dem er die Hand auflegt, führen lässt – bestärkt diese Hoffnung, ebenso wie einige Schrifttafeln, die bemerken, das sich diese Ereignisse vor langer Zeit – augenscheinlich in den 20iger Jahren – abspielten und heute so nicht mehr vonstatten gehen würden. Bevor Georges und Alexandre sich begegnen wirkt die Regie konzentriert und, wenn man so will, unbestechlich. Georges lernt die inoffiziellen Regeln durch seinen Nachbarn in dem riesigen Schlafsaal, Lucien, und durch den überheblichen Streber Marc kennen – wie man sich in der bereits früh auf Leistung fixierten Schüler-Gemeinschaft behauptet, wie man den Lehrern ein Schnippchen schlägt und all die kleinen, existentiellen Dinge um das Leben „hinter Klostermauern“. Kurz nach Beginn des Unterrichts aber auch die offiziellen, strengen Regeln und das von humanistischen Bedenken befreite, rein religiös bestimmte Erziehungsdenken der Lehrer.

In einem Buch von Lucien findet der streng und aristokratisch erzogene Georges einen Liebesbrief- der sich nicht etwa an ein Mädchen sondern an den als Führungsperson agierenden Mitschüler André Ferron richtet. Noch unsicher, wie er sich verhalten soll, aber auch fasziniert von der Zärtlichkeit und den erotischen Andeutungen des Briefs lässt Georges ihn in seiner Tasche verschwinden. Und berichtet davon kurz darauf in der Beichte. Am Tag darauf schmuggelt er schlechten Gewissens den Brief in die Internatspost was die Suspendierung Ferrons zur Folge hat.

Diese Exposition scheint ebenso umständlich wie überflüssig. Auch wenn sie oberflächlich dazu dient, die Figur Luciens zum Rad in der Maschinerie der Geschichte umzufunktionieren – schon bald verliert sein Charakter zunehmend an Bedeutung und ist einzig insofern von Belang als er ein Freund ist, mit dem Georges sein Geheimnis – die Liebe zu Alexandre – teilen kann. Lucien empfiehlt ihm ein altes Gartenhaus, in dem er und André sich oft trafen. Dort halten Georges und Alexandre in Zukunft ihre Zusammenkünfte ab. Und mit dieser Wendung verstimmt der Film seinen ernsten Ton und verliert sich in unfreiwilliger Komik und Dialogen, die jedem Psychologen und Dramaturgen die Haare zu Berge stehen lassen, bzw. den entsetzten Zensoren Recht geben würden. Wo sich das Drehbuch offenbar um authentische Gespräche bemüht und Alexandres kindliche Schwärmerei Georges pubertärer Vernarrtheit gegenüberstellt, muss sich der Film den unheilvollen Verdacht pädophiler Darstellungen gefallen lassen. Der Zuschauer wohnt hier nicht einer pubertären, schwulen Liaison bei, vielmehr einer auf beiden Seiten illusionistischen und durchaus kindlichen Verehrung die weder einer platonischen Freundschaft, noch einer verhältnismäßig reifen Liebesbeziehung gleicht, auch wenn anfangs noch ersteres zutreffend erscheint.

Das Urteil darüber ist jedem selbst überlassen. Delannoy macht es dem Zuschauer leicht, denn die oben beschriebene, manierierte Didaktik neutralisiert die Beziehung der beiden Jungen auf eine verquere, inkonsequente Art und Weise die annehmen lässt, das der Regisseur selbst es mit der Angst zu tun bekam, als es galt, die entsprechenden Sequenzen umzusetzen. Bevor hier ein Missverständnis entsteht: Homoerotik oder gar sexuelle Handlungen sind im Film genauso tabu wie in der Gesellschaft, in der er angesiedelt ist. So spielt sich das Fragwürdige, Bedenkliche und vielleicht auch Kontroverse im Text, nicht aber im Bild ab. Man sieht zwei Kindern beim spielen und plaudern zu, soll aber die verliebten Gespräche eines Kindes und eines Jugendlichen belauschen. Doch es funktioniert nicht.

Aus eben jener zweifelhaften Prämisse erwächst auch das übermächtige Problem von „Les Amitiés particulières“. Zwei Überlegungen stellt man als Zuschauer beinahe automatisch an und beide haben ihre Berechtigung. Die erste ist die ernüchternde, beunruhigende. Wenn am Ende des Films einer der beiden Suizid begeht, lässt sich das zum einen – nahe liegend – als Verzweiflungstat und dramatischer Schlusspunkt auffassen. Und diesen Tod hat, so meint man zumindest, einer der Priester zu verantworten, der die beiden Jungen mit scheinheiligen, gutväterlichen Phrasen voneinander getrennt und gegenüber dem einen Gleichgültigkeit des anderen behauptet hat. Trotzdem misstraut man dieser Einfachheit und stellt sich beinahe automatisch die Frage, ob der Film nicht vielmehr die homosexuelle Liebe selbst für dieses Unglück verantwortlich macht.

Dagegen spricht die oft bissige Zeichnung der Priester, die nach und nach alle sehr weltliche Schwächen offenbaren bis hin zu dem Pater, der Georges und Luciens Gruppe betreut und sich ihnen auf kumpelhafter Ebene nähert um ihrem Geheimnis – das er sehr wohl kennt – neugierig näher auf den Grund zu gehen. Dafür spricht aber auch der Umstand, dass man ausgerechnet die Beziehung zwischen einem Kind – denn Alexandre ist trotz seines Alters sowohl äußerlich als auch psychisch noch ein solches - und einem beinahe erwachsenen Jugendlichen in den Mittelpunkt gestellt hat.

Die große Schwäche von „Les amitiés particulières“ ist schließlich einzig und allein sein Drehbuch das nicht nur diese leicht als diskreditierend und homophob interpretierbare Konstellation vorschreibt sondern auch keinen Wert auf greifbare Charaktere und natürliche Dialoge legt. Überhaupt ist der größte Zweifel des Zuschauers die Frage, warum es ausgerechnet eine solche Verbindung sein musste, warum man nicht die Liebesbeziehung zwischen zwei gleichaltrigen Jugendlichen schildern konnte, was – vereint mit einem überzeugenden Drehbuch – sicherlich zu einem hochinteressanten, mutigen und erfreulichen Resultat geführt hätte. Die literarische Vorlage kann man hier getrost außen vor lassen. Denn wenn es im Film überhaupt eine Figur gibt, die lebendig wirkt, so die von Lucien. Und während man rätselt, wie sich „Les Amitiés particulières“ wohl entwickelt hätte, wenn die Beziehung von Lucien und André in den Mittelpunkt gerückt und Georges zur entscheidenden Randfigur abgestellt worden wäre, bleibt Delannoy in einer narrativ wie dramaturgisch äußerst ärgerlichen Sackgasse stecken, aus der er sich erst in den letzten Minuten wieder befreit.

Heute ist „Les amitiés particulières“ beinahe ausschließlich von filmhistorischem Interesse. Trotz seiner heiklen Prämisse, die den Zuschauer unschlüssig zurücklässt – Pädophilie oder Homosexualität? – bleibt einem Delannoys Film nur als biedere, altbackene Kolportage im Gedächtnis deren bemerkenswerte Ansätze die unbeholfene, inkompetente Regie nicht registriert und somit untergräbt. Ein offenbar blinder Gehorsam gegenüber einem psychologisch und dramaturgisch konfusem Dreh- und Dialog-Buch, das sich vor dem selbst auferlegten Realitäts- und Wahrheitsanspruch fürchtet, tun ihr übriges um das Interesse des Zuschauers erlahmen zu lassen, der sich bald von einem Interview mit dem Regisseur mehr erhofft als von der weiteren Entwicklung der Geschichte und der Figuren. Die religiöse Sturheit des katholischen Schulsystems in dem die beiden Protagonisten gefangen sind, ergreift auch von Regie besitz, die ihre Konsequenz fallen lässt und eigensinnig an den zahlreichen reflexiven Optionen der Geschichte vorbei auf ein bequemes und simplifizierendes Ende hin arbeitet, das auch keine in diesem Fall wünschenswerte Tür für den Zuschauer offen lässt. Von einem Autorenfilm kann man hier sicherlich nicht sprechen, „Les Amitiés particulières“ lässt den unangenehmen Eindruck eins Lehrfilms und einer Auftragsarbeit zurück.

Details
Ähnliche Filme