„Wer früher stirbt, ist länger tot" von Marcus H. Rosenmüller ist eine Art deutscher Versuch, das Leben hochleben zu lassen, indem man den bayerischen Voralpenraum zu Wort kommen lässt. Der mit großem Lob bedachte Film schlug ins deutsche Kino ein wie eine Bombe und bescherte Regisseur Rosenmüller in einer Weise Lorbeeren, die ihm nun ermöglichen, einer der bekannten deutschen Filmemacher zu werden. Doch dieser Ruhm ist nicht gerechtfertigt.
Der Fünftklässler Sebastian - der kleine Held des Films - möchte die Schuld tilgen, die er seiner Meinung nach auf sich geladen hat, da die Mutter bei seiner Geburt starb. Infolgedessen wird der Kleine zum allgegenwärtigen Plagegeist, nicht nur des Vaters und älteren Bruders, sondern des ganzen Dorfes. Dieses Enfant terrible möchte sich getreu dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel" die Gunst der verstorbenen Mutter und natürlich des Publikums erschleichen und erregt mit seinen Versuchen, den Papa mit der Nachbarin zu verkuppeln, Gott ein Menschenopfer zu bringen oder „das erste Mal vögeln" zu können, gründlich Ärger und Missmut.
Das Motiv des praktisch geistig zurückgebliebenen Jungen, der mit seinen elf Jahren Gut von Böse nicht unterscheiden kann, zieht sich klebrig wie Sirup durch den ganzen Film. Es wird dabei natürlich in einer Weise verwendet, die den Jungen als Sympathieträger ausweist, ohne den Zuschauer für den Geisteszustand des Kindes zu sensibilisieren, der im wahren Leben den direkten Weg in die psychiatrische Anstalt bedeuten würde. Papa hat für die Kapriolen des Sohnes, und seien sie noch so debil, nur ein väterliches Schulterklopfen parat, nachdem er erkennen musste, dass leichte Schläge auf den Hinterkopf im Falle seines Sohnemanns wohl auch nicht mehr ausreichen, das Denkvermögen zu erhöhen. Jener träumt so unbeirrt, da unbelichtet, jede Nacht vom jüngsten Gericht, das ihn ob seiner Bos- und Dummheiten ins Fegefeuer überführen möchte. Die Exekutoren sind natürlich die - kurz ins Skurrile getauchten - Menschen seines täglichen Lebens. Dass Sebastian dabei wiederholt aufwacht, um sich nur erneut in einem Traum wieder zu finden, ist so etwas wie ein Dauergag im Plot, allerdings ein zu jeder Sekunde vorhersehbarer und denkbar abgegriffener.
Deutsches Kino, seine Versatzstücke und deutscher Heimatfilmhumor sind bei „Wer früher stirbt, ist länger tot" bereits schon aufdringlich präsent. Der Witz ist nicht intelligenter oder innovativer als beim Schloss am Wörtersee und der Kitsch beziehungsweise die Einfallslosigkeit der Darstellung nicht qualitativ hochwertiger als das Forsthaus Falkenau. Wäre Rosenmüllers Heimatkino unbekannter und hätte man so von dem Film noch nie gehört, man könnte meinen, die Zielgruppe seien Frauen über Fünfzig, die Fernsehen des Fernsehens wegen als Zeitvertreib nutzen, ohne das Ziel der qualitativen Unterhaltung. Nichts an „Wer früher stirbt, ist länger tot" deutet auf qualitativ hochwertige Filmkunst oder exportwürdigen deutschen Humor hin. Viel eher muss man hier von seichter, vorhersehbarer Pseudointellektualität sprechen, die dem Zuschauer suggeriert, er tue dem deutschen Film etwas Gutes und wohne, die schnöde Masse umgehend, einem gehörigen Independentstreifen bei. Doch wenn der kleine Sebastian das Aushängeschild des deutschen Kinofilms wäre, dann sollten wir Deutschen uns ob unserer filmischen Größe besser unter dem Teppich verkriechen, wo wir dann auch genügend Platz hätten. Zum Glück gibt es seit Oliver Hirschbiegels „Der Untergang", dem „Leben der Anderen" oder, um auf dem Feld Komödie zu bleiben, den Ruhrpottfilmen um „Bang Boom Bang" berechtige Aushängeschilder deutscher Filmkunst, die es nicht verdient haben, mit dem Schaffen eines Marcus Rosenmüller in einen Topf geworfen zu werden.
Die Absicht war offensichtlich, gute Laune zu verbreiten. Schenkelklopfer gibt es allerdings kaum. Der Mangel an Hauruckhumor wird versucht zu kompensieren durch bedächtige Analyse des Wertes des Lebens und seiner sympathischen Tücken. Doch schlägt dieser Ansatz völlig fehl, denn die Welt, in die der Zuschauer eintaucht, ist so unbeabsichtigt irreal, dass sich kein Bezug zum wahren Leben herstellen lässt. Dass der aber intendiert war, zeigt, dass dieses Projekt Rosenmüllers filmschafferische Möglichkeiten überstieg. Der betrogene Ehemann der Lehrerin, die von Sebastian mit seinem Vater verkuppelt wird, mag hier als ein Beispiel dienen. Der Hahnrei gönnt sich einen überhasteten Selbstmordversuch, um nach dessen Scheitern alsbald quietschvergnügt und völlig unneurotisch das Leben zu genießen und den dorfbekannten Racker, der ihn selbst kurz zuvor mit einem Revolver ermorden wollte, hochleben zu lassen. Die gescheiterte Ehe ist dabei ebenso wenig Thema wie die Psychiatrie für den Kleinen.
Ein Vergleich illustriert womöglich, wie fehlgeschlagen dieser Versuch filmischer Lebensbejahung ist. In den Videotheken findet man gleich neben diesem Streifen einen anderen, das Leben und das Kopf-hoch bewerbenden, grundguten Film, der ebenfalls ein Kind in den Mittelpunkt rückt, um uns für dessen Weltsicht zu sensibilisieren. „Little Miss Sunshine" ist so etwas wie das US-amerikanische Pendant zu „Wer früher stirbt, ist länger tot". Und einmal mehr zeigt sich, dass amerikanische Filmproduktionen im Schnitt nicht nur pekuniär, sondern auch qualitativ den deutschen überlegen sind. „Little Miss Sunshine" ist das, was der Voralpenfilm Rosenmüllers sein wollte: ein hochintelligenter, zutiefst sympathischer, gutmütiger Film, der dennoch Werte preisend, nachdenklich stimmt. Agieren dort nicht nur die Darsteller auf höherem Niveau, sondern fügt sich das Plot geschickt zu einer wahren Werbetafel für Lebenslust zusammen, versinkt im Vergleich dazu der kleine Sebastian - trotz seiner durchaus honorablen schauspielerischen Leistung - mit seinen sinnentleerten Streichen in der (deutschen) Bedeutungslosigkeit. Dabei zieht er die ganzen Kitschfiguren seiner Umgebung mit sich, die regieverschuldet versuchen, die Langeweile des Plots durch routinemäßige Theaterleistung zu würzen. Hier zeigt sich einmal mehr, wie gerechtfertigt die Voreingenommenheit gegenüber deutschem Kino oft ist.
Wenn „Wer früher stirbt, ist länger tot" ein anspruchsvoller Film ist, dann ist es bald wohl auch der Schulmädchenreport.
1/10