Weniger ist ja bekanntlich manchmal mehr. Dass dieser Streifen jedoch aus einem Land kommt, in dem gerade das Understatement ein typisches Merkmal der hiesigen Mentalität ist, merkt man ihm in dieser Beziehung nicht an. Enttäuschend, wie wenig sensibel in "The Living and the Dead" einerseits mit durchaus heiklen (da gesellschaftlich bisweilen immer noch tabuisierten) Inhalten umgegangen wird und andererseits trotz aller Effekthascherei und selbstzweckhafter Übertreibung bei der Darstellung nicht einmal ein halbwegs gelungenes Stück Kino rauskommt, das wenigstens auf der Unterhaltungsebene überzeugt.
Der bankrotte Lord Brocklebank lebt zusammen mit seiner todkranken Frau und ihrem bereits erwachsenen, aber geisteskranken Sohn James gemeinsam auf dem heruntergekommenen Anwesen der Familie. Eine Krankenschwester soll sich in Abwesenheit des Lords um dessen kranke Gattin kümmern, jedoch beschließt der ansonsten reichlich verwirrte James die Pflege der Mutter kurzerhand selbst in die Hand zu nehmen. Um sich vor seinem Vater zu beweisen sperrt er die Krankenschwester einfach aus und übernimmt die Krankenversorgung selbst. Es dauert nicht lange, bis aufgrund seiner Wahnvorstellungen die Situation zu eskalieren beginnt...
Was mag man ausgehend von einem derartigen Szenario erwarten? Eine groteske, makabere, schwarzhumorige Komödie? Ein berührendes Drama, das sich mit so sensiblen Themen wie dem Altern, Krankheit, Tod, Verlust und Verfall auseinandersetzt? Oder etwa ein krasser Psychoschocker, der die unzähligen Varianten kranker Darstellungen menschlicher Vergänglichkeit im Horrorgenre durch seinen Realitätsbezug in ihrer Wirkung relativiert?
Es scheint, als waren sich die Verantwortlichen hierüber selbst nicht ganz klar, denn einerseits fehlt dem Film einfach ein klarstrukturiertes, narratives Element mit einem dem Handlungsverlauf dienlichen Spannungsbogen, andererseits überzeugen die ca. 80 Filmminuten auch nicht als dokumentarische Momentaufnahme eines extremen Charakters in einer extremen Situation. Leo Bill in der Rolle des (laut DVD Backcover schizophrenen) James müht sich zwar mehr als redlich und liefert eine enorm intensive Performance ab, die jedoch gerade durch die meist überzogen wirkenden Regungen und das übertriebene Gehampel als Overacting in Reinform erscheint. Dadurch ist es natürlich aus mit der Glaubwürdigkeit und die performative Illusion wird durch die Gewissheit, dass hier ein vollkommen gesunder Mensch lediglich so tut, als wäre er krank, komplett zerstört. Ja, weniger wäre hier definitiv mehr gewesen: der Gänsehautfaktor verhält sich jedenfalls eindeutig antiproportional zum Gezappel des Hauptdarstellers.
Abgesehen davon, dass der Zuschauer bis zuletzt die Diagnose von James nicht erfährt (ist dieser nun geistig behindert? zurückgeblieben? schizophren? autistisch? oder waren die Unterschiede den für den Entwurf seines Krankheitsbildes Verantwortlichen schlicht unbekannt oder egal?), passen die aus seiner - sagen wir Störung - resultierenden Zwänge nicht immer zu seinem sonstigen Verhalten. Selbst als medizinischer Laie denkt man sich, dass James alleine schon motorisch zu den meisten Handlungen, die er zielgerichtet ausführt, unter Umständen gar nicht in der Lage sein dürfte. James Krankheitsbild wirkte auf mich unglaubwürdig, so als hätte man es lediglich über die Darstellung verschiedener Symptome zusammengebastelt, nicht aber ursächlich für die Bewußtseinsstörung und extremen Verhaltensweisen von James zugrunde gelegt.
Ferner greift der Regisseur desöfteren zu optischen Verfremdungsmitteln, wie etwa einem inflationär oft eingesetzten Zeitraffer. Dadurch wirkt das Gezappel des Hauptdarstellers zu hämmernden Technobeats noch befremdlicher und bald kann man sich nicht länger des Eindrucks erwehren, dass die so dargebotenen Bilder vielleicht gar nicht so viel zu sagen haben, sondern viel eher - schnöderweise - nur richtig krass schocken sollen. Selbst das tun sie innerhalb der Handlung jedoch nur bedingt.
Nun mag man Regisseur Simon Rumley gar keine Absicht unterstellen, das exploitative Element bewusst in den Vordergrund gerückt zu haben. Allerdings kann man sich phasenweise auch kaum des Eindrucks erwehren, dass der Film nicht zufällig in das Fahrwasser eines typischen Horrorstreifens gerät, der gewisse voyeuristische Bedürfnisse bereitwillig befriedigt (für deren Entstehung er durch die gewählte Form der Darstellung bisweilen jedoch selbst verantwortlich ist).
So reicht es beispielsweise nicht, dass sich James in einer Szene eine Spritze in den Arm rammt, nein, es muss fast gleich ein halbes Dutzend Spritzen sein, während die Kamera natürlich voll drauf hält. Inhaltlich scheint diese Szene in ihrer Intensität für die Handlung jedoch kaum notwendig und ihre Verwendung kann ich mir nur damit erklären, dass es hier schlicht um die reine Sensation und Schaulust geht. Das empfinde ich im Ergebnis als billig, nicht als schockierend.
Am Ende bleibt die große Frage: was will dieser Film eigentlich vermitteln? Als bloße Unterhaltung taugt er trotz einiger ästhetischer Reize jedenfalls kaum. Dass er eine Botschaft oder Anregung zum Nachdenken bietet ist mir entgangen und für einen Arthouse Film empfand ich den Film in dieser Form zu seicht, die Umsetzung zu plakativ. Obwohl der Vater seinen Sohn liebt, sich stets zu ihm bekennt und überhaupt alle Beteiligten aus fürsorglicher Affektion heraus handeln, ist die Entwicklung vom skurilen Anfang bis zum nihilistischen Ende einzig von tiefer Hoffnungslosigkeit geprägt. Die bloße Zurschaustellung physischer und psychischer Verfallsprozesse ist mir innerhalb dieses Rahmens einfach zu wenig. Schade um die Möglichkeiten. (4 / 10)