Epilepsie, Religion und der Freiheitsdrang
Hans-Christian Schmid zeigt mit diesem Werk enorme Reife und Talent beim Umgang mit dem sensiblen Thema der jugendlichen Selbstverwirklichung im Spannungsfeld von strenger Erziehung, psychischer Erkrankung und eigenen Hemmungen. Die Besessenheit und der Exorzismus dienen lediglich als symbolhafte Zuspitzung des tragischen Kampfes gegen das geistige Korsett. Requiem ist glücklicherweise kein weiterer Austreibungsthriller, sondern eine intensive Tragödie, die sehr nachdenklich stimmt.
Selbstverwirklichung
Michaela Klingler ist 21 und lebt bei ihren streng gläubigen Eltern auf dem Land. Seit ihrer Kindheit hat sie Epilepsie und war deshalb schon in Behandlung, doch jetzt möchte sie endlich Pädagogik in Tübingen studieren. Während ihr Vater sie unterstützt, ist die Mutter skeptisch, obwohl Michaela durch Tabletten schon lange keinen Anfall mehr hatte. Zunächst scheint sich alles gut zu entwickeln: Michaela studiert, arbeitet hart und findet nach leichten Startschwierigkeiten wegen ihrer nach außen hin seltsamen Art auch Freunde. Ihr tiefer Glaube zu Gott gibt ihr scheinbaren Halt, doch die neue Situation fordert ihr viel ab. Sie verkrampft sich in Lerneifer, und so beginnen plötzlich wieder ihre Anfälle. Sie verheimlicht es vor ihrer Mutter und wendet sich verzweifelt an den Dorfpfarrer, da sie hinter der Krankheit mehr vermutet: Die Anfälle scheinen von Kruzifixen und Gebeten ausgelöst zu werden.
Zwang
Der Film widmet sich Michaelas Selbstverwirklichung und beginnt zunächst als Jugend-Drama. Sie möchte einfach aus ihrem beengten Umfeld ausbrechen und ihren Lebenstraum verwirklichen. Hans-Christian Schmid schildert ausführlich, wie Michaela damit zu kämpfen hat. Ihr durch Krankheit und Erziehung bedingtes soziales Verhalten wirkt auf ihre Kommilitonen befremdlich, die plötzliche Selbstständigkeit und Trennung von der Familie, der Streit mit der Mutter, sind für sie anstrengend. Ihre Versteifung, alles am besten und jeden glücklich zu machen, gibt ihr schließlich den Rest. Eine wesentliche Rolle spielt dabei ihr Glaube. Zwar ist er seit je her ihr Halt in allen Lebenslagen, doch bringt er auch ihre Verkrampfung. So wirken ihre Anfälle wie innere Aufschreie, sich von den geistigen Fesseln zu lösen, derer sich Michaela nicht erwehren kann.
Das Bild von Kirche und Religion bleibt jedoch sehr ambivalent und differenziert. Immerhin ist es ihr tiefer Glaube, der Michaela die Zielstrebigkeit, ihre festen Ideale im Leben gibt. Tüchtigkeit, Nächstenliebe, Aufrichtigkeit - Tugenden, die Michaela von den anderen Jugendlichen abhebt. Der fanatische Glaube führt aber auch dazu, dass sie sich immer mehr selbst aufzugeben scheint. Als die Situation sich zuspitzt, steigert sie sich gar in eine Märtyrer-Rolle, ganz nach christlichem Vorbild, hinein. Die Ambivalenz spiegelt sich in zwei Nebenfiguren wider. Der pragmatische, alte Dorfpfarrer versucht ihr sogar vergeblich auszureden, dass ihre scheinbar gegen Gott gerichteten Anfälle etwas dämonisches seien. Michaela sei einfach nur psychisch krank und solle zum Arzt gehen! Sie hingegen akzeptiert das nicht, weil die Kliniken ihr auch nicht helfen würden. Tatsächlich wirft der Film die Frage auf, inwiefern eine "normale" Behandlung ihrer Krankheit ihre Situation verbessert hätte. So wendet sich Michaela an den charismatischen jungen Vikar des Dorfes, der ihr eintrichtert, ihre Besessenheit sei eine Prüfung, sie eine Märtyrerin. Ihre Freunde versuchen, Michaela aus dieser Zwanghaftigkeit zu befreien, doch sie glaubt immer mehr daran und zerbricht an ihrem inneren Kampf, ihrer "Besessenheit". Der Vikar sieht nur noch den Exorzismus als Ausweg.
Bildhaftigkeit
Das tragische Ende der Geschichte zeigt eine verzweifelte, wahnsinnige Michaela, vor der alles zusammenbricht, bis auf den tief verwurzelten Glauben. Sandra Hüller verkörpert die Rolle als unnahbares, zunehmend verstörtes Mädchen mit erschütternder Authentizität. Ihr Charakter stößt beim Zuschauer anfangs eher auf Unverständnis, doch je länger der Film dauert, desto wärmer wird man mit der Figur. Ihre Schreie am Schluss gehen dann bis ins Mark, man teilt ihre innere Verzweiflung. Überhaupt sind die schauspielerischen Leistungen außergewöhnlich. Hervorzuheben ist dabei noch der Vikar, der mit seinem scharfzüngigen, einlullenden Ton den wahren Teufel brilliant darstellt. Der unter die Haut gehende Realismus des Films wird durch die altmodische Ästhetik verdichtet. Verwaschene Farben dominieren das krieselige Bild, Techniken, wie der heute seltene Zoom-Effekt, sowie stimmungsvolle, akzentuiert eingesetzte Musik erzeugen das passende 70er-Jahre-Gefühl. Eine mitunter fast schon DOGMA-artige Kamera ist immer nah am Geschehen und widmet sich sehr genau allen beteiligten Personen. So wendet sich der Film ganz nebenbei auch der Perspektive von Michaelas kleiner Schwester hin, die die Tragödie miterleben muss.
Alle diese handwerklichen Details machen letztendlich aus dem inhaltlich brillianten Drehbuch einen bewegenden, ausdrucksstarken Film, der dem klassischen großen Autorenkino Europas hinsichtlich Emotionalität, Tiefsinnigkeit und eben auch Schönheit in nichts nachsteht.
Fazit
Requiem ist schlicht und ergreifend ein Meisterwerk, zeugt von ausgeprägter künstlerischer Größe wie Reife Hans-Christian Schmids. Der Film ist erschütternd, mitreißend, intelligent und nachdenklich. Eigentlich ist es der einzig wahre Film zum Thema Exorzismus, gerade weil er nicht an irgendwelchen Effekten oder Ritualen interessiert ist, sondern die menschlichen Hintergründe, die Mechanismen aufzeigt. Dann ist er aber auch ein großartiges Plädoyer für ein innerlich wie äußerlich freies, selbstbestimmtes Leben. In seinem poetischen Realismus steht der Film auf einer Ebene mit den großen Klassikern des aufwühlenden Autorenkinos aus Europa. Man darf sich an die Werke Kieslowskis, an die Nouvelle Vague, aber durchaus auch an Ingmar Bergman oder an DOGMA-Filme erinnert fühlen.