Das Drama der Familie Kramer beginnt ohne Umschweife: die erste Szene zeigt Joanna, die ihren fünfjährigen Sohn Billy zu Bett bringt und - Abschied von ihm nimmt. Eine junge Frau, die den Sinn ihres Daseins nicht in der Rolle der Ehefrau und Mutter sieht, sich überfordert und vernachlässigt zugleich fühlt und auf die Suche nach sich selbst geht. Für ihren Ehemann Ted könnte es hingegen kaum besser laufen, denn während Joanna ihren Koffer packt, bekommt der Werbeagent den lukrativsten Auftrag seiner Karriere zugesprochen und einen Posten als Vizepräsident in seiner Firma in Aussicht gestellt. Als Ted schließlich glückseelig nach Hause kommt und noch einen geschäftlichen Anruf tätigt, hört er Joanna zunächst nicht zu, dann hält er es für einen Scherz, als sie ihm eröffnet, dass sie ihn verlassen wird. Doch plötzlich findet er sich allein mit Billy wieder.
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Ohne, dass den Eheleuten auch nur ein Moment gemeinsamen Glücks gegönnt ist, zeigt Robert Benton in Kramer gegen Kramer zwei Individuen, die für die Theorie der Gemeinsamkeit keine praktische Veranlagung zu besitzen scheinen. Der Konflikt zwischen ihnen wird nicht lange aufgebaut, er ist bereits da und steht, vom Workaholic Ted unbemerkt, seit Jahren zwischen ihnen. In Joannas Motivation, ihren geliebten Sohn zurückzulassen, wird dabei allerdings nicht wirklich viel investiert. Zunächst erscheint sie als recht verantwortungslos und egoistisch, denn nachvollziehbar aus dem Haus zu drängen scheint sie nichts, Billy ist ein lieber Junge und gegen beruflichen Erfolg des Ehemannes hätte wohl auch nicht jede Frau etwas einzuwenden. Dass die Anfangssituation aus dramaturgischer Sicht nicht missglückt, liegt daher vor allem an Meryl Streep, deren zerbrechliches Spiel den Antrieb andeutet, der Joanna keinen anderen Ausweg sehen lässt, ohne ihn explizieren zu müssen.
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Ein Stück weit unterstreicht Benton durch die wenig ausgeleuchtete Figur der Joanna aber auch die Sicht des Films auf das Geschehen, denn diese findet ganz klar aus Teds Position statt, der es immerhin acht Ehejahre versäumt hat, seiner Frau mit Verständnis zu begegnen und der die Erziehung ihres Kindes einzig ihr anvertraut und überlassen hat. Am nächsten Morgen, als Billy nach seiner Mutter fragt, wuselt Ted mit aufgewühltem Zweckoptimismus durch die Küche, hat von Frühstückszubereitung wenig Ahnung und weiß sich in der Krise niemand anderem, als seinem Chef anzuvertrauen. Ted ist sich und verkauft es als sicher, dass Joanna zu ihm zurückkehren wird, nur eine Phase durchmacht. Erst ein Brief an Billy beginnt, seine Augen zu öffnen.
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Nun muss der Vater sich auf seinen Sohn einlassen und Bindung zu ihm aufbauen, was Benton mit feiner Führung umsetzt und die Annäherung der beiden weder verkitscht zeigt, noch als reines Schaulaufen von den Arbeitsmenschen als alltagsunfähig vorführenden Gags. Letztere werden immer mal wieder nett und unaufdringlich in die Handlung eingebaut, etwa wenn Ted sich eine Arbeitskollegin mit nach Hause nimmt und sie Billy splitternackt auf dem Flur begegnet, oder der Kleine seinen Vater über die richtigen Waschmittelmarken aufklärt. Ebenso im positiven Sinne unspektakulär bringt Benton die rührseeligen und schmerzhaften Momente unter. Wenn Billy und Ted über eine Mahlzeit streiten, einander sagen, dass sie sich hassen und sich später versöhnen, gelingt ein aufrichtig bewegender Moment, in dem Ted Billy erklärt, dass nicht er Schuld am Wegang seiner Mutter trägt. Dustin Hoffman, der zur Zeit des Filmdrehs selbst in einem Scheidungskampf steckte, grundet seine Regungen auf einer nuancierten Echtheit, aus dem Zusammenspiel mit dem angenehm natürlich agierenden Justin Henry ergibt sich eine sehr schön zu verfolgende Wahrhaftigkeit.
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Teds Wandel vom Arbeitstier zum fürsorglichen Vater erfolgt ohne übertriebende Sentimentalität und wird dadurch angereichert und pointiert, dass er nicht beides zu gleichen Teilen unter einen Hut bekommt, sondern in seinem Job zunehmend Probleme auftreten, als er diesen für Billy vernachlässigt, er seinen guten Ruf beim Chef und schließlich seinen Posten einbüßt. Zudem wird Billy als eigentlicher Leidtragender, der sich einfach nur nach Vater UND Mutter sehnt, nicht aus den Augen verloren, wodurch sich die Geschichte nicht um den Standpunkt des Kindes herumwindet. Dieser Aspekt geht jedoch gegen Ende leider etwas verloren, denn mit Joannas Rückkehr nach New York und ihrem Begehren, Billy bei sich aufzunehmen, beginnt Kramer gegen Kramer zwar, seinen Titel zu rechtfertigen. Allerdings kommt hier auch zwischen Gesprächen mit Anwälten und den Aussagen im Gerichtssaal einiges an Bedeutung und Gefühl abhanden, was die auch zwanzig Jahre nach Entstehen des Films noch spannende Grundsatzdiskussion über die Eignung eines Vaters als alleinerziehender Elternteil zu sehr zum Gegenstand rechtssprechender Urteile macht. Auch Joanna bleibt, wenn auch von Meryl Streep toll gespielt, im Vergleich zu Ted, Billy und ihrer Beziehung letztlich zu ungenau, was nicht mehr mit dem ‚point of view‘ des Films zu entschuldigen ist, sondern gemeinsam mit dem zu hastigen Abarbeiten der letzten Stationen eine erzählerische Schwäche des Films offenbart. Die Seite des Kramers, auf die sich der Zuschauer gesellen soll, ist zu deutlich vorgegeben, so dass das Diskussionspotenzial abgeschwächt wird.
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Kramer gegen Kramer ist ein frei von Hektik, Ausschweifung und Übertreibung inszeniertes Drama, das sich zumindest in den Kategorien Film und Regie bei den Oscars 1980 nicht ganz zu recht gegen Francis Ford Coppolas Apocalypse Now durchgesetzt hat. Die unaufgeregte Geschichte verdient sich ihre Sehenswürdigkeit vor allem durch viele wunderbare Einzelszenen, zum Beispiel wenn Ted das Leben seiner Frau aus der Wohnung entfernt und in Kartons verpackt, und die grandiosen Dustin Hoffman und Meryl Streep, die den Beziehungskrieg mit unspektakulären, aber subtil-zu Herzen gehenden Mitteln austragen. Wobei besonders Streep Ungenauigkeiten bei ihrer Figur zu kompensieren hat und weiß. Hoffman, der aufgrund seiner privaten Situation zunächst kein Interesse an Bentons Drehbuch hatte, merkt man durchaus an, dass er bei der Anlegung seiner Rolle auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen konnte, denn seinen Ted versieht er in allen Punkten mit Glaubwürdigkeit. Der Einsatz von Musik mit klassischen Stücken von Henry Purcell und Antonio Vivaldi wirkt teils gediegen, gibt dem Film aber eine eigene, leichte Note gegenüber gängigen Drama-Scores.