Manche Filme sind ja wirklich ein Fall für Aktenzeichen XY ungelöst. Da wäre beispielsweise Don Coscarellis “Bubba Ho-Tep”, der anno 2006 schon seit geschlagenen vier Jahren auf einen deutschen Verleih wartet. Oder Guy Ritchies jüngste Gangsterballade “Revolver”, die doch alleine wegen Everybody’s New Darling Jason Statham auf dem deutschen DVD-Markt einschlagen müsste wie eine Bombe. Und nun “Lucky Number Slevin”, die neuere Arbeit von “Gangster No.1"-Regisseur Paul McGuigan, hochkarätig besetzt mit Edelsteinen wie Bruce Willis, Josh Hartnett, Morgan Freeman, Ben Kingsley, Lucy Liu und Stanley Tucci. Nun, noch lebt der postmoderne Gangsterfilm. Er lebt, auch wenn wir inzwischen soweit sind, dass seine funktionalen Mechanismen metaphysisch gebrochen werden. Guy Ritchie, erster und erfolgreichster Umsetzer des Re-newings der Mittneunziger-Pulp-Fiction-Welle, setzte mit “Revolver” erstmals eigens Hand an diese Umgestaltung, was ihm mit saftigen Verrissen der Presse gedankt wurde. McGuigan lenkt nun nach und schlägt exakt in die gleiche Kerbe. So exakt, dass einige Motive fast 1:1 wiederzuerkennen sind.
Schon deswegen erfindet der Schotte das Genre wieder nicht neu, er justiert die neue Richtung höchstens ein wenig nach. Im Gegensatz beispielsweise zum ziemlich oberflächlichen “51st State” bürgte McGuigan aber schon 2000 mit seiner Gangsterballade für eine Grundqualität, die auch in seiner zweiten US-Arbeit nach “Sehnsüchtig” zu erkennen ist. Wenn der Mann erzählt, hören wir ob der Bildhaftigkeit und des Fantasiereichtums der Narration aufmerksam zu.
Schade, dass sich die Auflösung eigentlich schon nach nicht einmal einer Viertelstunde Laufzeit so penetrant aufdrängt wie der Gestank eines abgetrennten Fischkopfes nach einem Nachmittag in der Sonne, aber es ist doch zu verschmerzen, weil die Erzählweise mit ihren niemals unkontrollierten Zeitsprüngen, Rückblenden und Rekapitulationen immer interessant zu verfolgen bleibt und die einzelnen Puzzlestücke doch immer wieder zu einem kleinen “Aha”-Effekt hinreißen können. Hinzu kommt, dass McGuigan im Gegensatz zu seinem britischen Pendant Guy Ritchie eher in niederen, leichter nachvollziehbaren Abstraktionsgraden operiert. Freilich spielt auch hier mal wieder das Schachspiel und seine einladende Metaphorik eine Rolle, Farbfilter sind nicht umsonst gewählt worden und subversive Reminiszenzen schleichen sich reihenweise ein, doch die Geschichte als solche muss man im Gegensatz zu der aus “Revolver” nicht erst entmythologisieren, um sie zu verstehen; sie setzt sich aus simplen Bausteinen zusammen, ohne weniger intelligent zu wirken.
Das ist in erster Linie den verdammt gut gecasteten Schauspielern zu verdanken sowie den Dialogen, die sie sprechen. Beides Elemente, die den Konventionen des Gangsterfilms in dieser Zusammenstellung zuwiderlaufen. Tatsächlich geht McGuigan einen ähnlichen Weg wie letztes Jahr Shane Black mit seinem Regiedebüt “Kiss Kiss Bang Bang”: er demontiert jegliche Erwartungshaltung an einen Film seiner Sorte durch das Ausführen von absolut gegenteiligen, überraschenden Pragmatismen. Im Gegenteil zu Blacks direktional-effekthascherischer Umkehr des Neo Noir verfährt McGuigan allerdings dezenter; die Handlungen sind nicht konkret der Erwartungshaltung des Zuschauer zuwiderlaufend, dies wird lediglich durch die Dialoge und, noch wichtiger, die Monologe mitgetragen. Es gibt diverse Szenen in “Lucky Number Slevin”, in denen einer oder mehrere Charaktere sprechen und in Unterhaltungen oder Selbstgesprächen philosophische Gedanken über den Lebensstil von Gangstern und die Regeln der Gangsterwelt entwickeln. Dazu gehört Bruce Willis’ Ansprache über das “Kansas City Shuffle” ebenso wie die missverständlichen Unterhaltungen über die angeblichen “Spitznamen” der Gangsterlords (“They call him the Rabbi.” “Why do they call him the Rabbi?” “Because he’s a Rabbi.”) bis hin zur Frage nach der Bedeutung, die ein Name haben kann. An dieser Stelle werden dann filmische Querverweise gezogen, Hommagen kommen zum Ausdruck. Hitchcocks “Der Unsichtbare Dritte” steht plötzlich zur Sprache, weil Cary Grant fälschlicherweise für einen Mann namens George Kaplan gehalten wird - ebenso wie Slevin Kelevra (Josh Hartnett) durch einen dummen Zufall von ein paar Gangstern für einen Nick gehalten wird, der bei zweierlei Gangs hochverschuldet ist. Dann ist auch “Die üblichen Verdächtigen” nicht mehr weit, “Für eine Handvoll Dollar” (abzüglich dessen Nihilismus) und sämtliche James Bonds folgen auf dem Fuße.
Durchaus mit einer gehörigen Portion Selbstironie steht der eigene Status also am Pranger und wird gnadenlos verulkt. Von Josh Hartnetts Hauptfigur gehen Wellen der Unerfahrenheit aus im Umgang mit einer Gangsterwelt, die er nur nach Klischees einordnet, wie man sie aus dem Kino kennt. Immer wieder muss er im Dialog mit den Gangstern (allen voran den beiden hervorragend aufspielenden Morgan Freeman als “The Boss” und Ben Kingsley als “The Rabbi”, die später eine gänsehauterregende Zusammenkunft erleben werden) am eigenen Leibe erfahren, dass es nicht so läuft, wie er denkt. Zu diesem Zwecke wird peripher noch der Handlungsstrang um Slevins Bekanntschaft Lindsey (Lucy Liu, süß wie eh und je) eingesponnen, welcher zudem durch die Amateur-Detektivarbeit Lindseys noch den Plot schubweise rekapituliert und Handlungsstränge zum besseren Verständnis ordnet.
Das Problem an diesen für sich betrachtet gelungenen ironischen Einschüben ist folgendes: in der Basis ist “Lucky Number Slevin” nicht unähnlich der Geschichte des “Gangster No. 1" ein dramatischer Thriller. Leider kollabiert die düstere Grundstimmung immer wieder mit den humoristisch gezeichneten Versuchen, das Genre selbstironisch abzuklopfen. Die Übergänge gelingen McGuigan leider nicht immer, so dass es manchmal zu kleineren Diskrepanzen und Irritationen kommt, die möglicherweise gar durch feinfühligere Übergänge hätten verhindert werden können, denn ganz unmöglich ist es nicht, Selbstironie und Drama unter einen Hut zu bringen. Vom Regisseur hätte man in diesen Belangen nach seinen nicht unbeachtlichen Bewerbungspapieren vielleicht noch etwas mehr erwartet.
Optisch prinzipiell kritiklos, muss sich der Film allerdings in jeglicher Hinsicht ernsthafte Mutmaßungen gefallen lassen, dass er sich bei “Revolver” und bei Guy Ritchie im Allgemeinen etwas abgeguckt hat. Das betrifft die detailreichen Sets und Bildkompositionen, visuelle Gimmicks, Erzählstrukturen, Kamerafahrten und -Perspektiven und gar Filmrollen, denn was Bruce Willis spielt, ähnelt doch sehr der beeindruckenden Rolle von Mark Strong als feingeistiger Killer Sorter. Es kommen Rabbis vor, schwule Gangstersöhne, Schachspiel-Symbolik, Wetten und Schulden als MacGuffin. Einiges davon will innovativ sein, ohne diesem Ziel wirklich Folge zu leisten, anderes will unterhalten, wieder anderes steht im Dienste des Drehbuchs. Fest steht, es wird in keiner Sekunde langweilig, selbst wenn man Jason Smilovics Skript bisweilen durchschaut wie eine Glaswand. Das tut aber nur wenig zur Sache, weil man bei der Stange gehalten wird. Zumal die Darsteller nicht nur vom Namen her großes Kino sind, sondern auch ebenso ihren Job ausfüllen. Von einem Morgan Freeman und einem Ben Kingsley (obwohl der sich zuletzt mit “Bloodrayne” eindeutig ein faules Ei ins Nest gelegt hat, was seine Reputation als Schauspieler betrifft) erwartet man das vielleicht noch, von einem Bruce Willis ebenso, aber Zweiflern sei gesagt, dass auch Josh Hartnett den Ton seiner Figur auf den Punkt genau trifft und seinen Ruf als einer der vielversprechendsten Jungschauspieler bestätigt. Davon abgesehen ist es aber fast noch mehr die erwähnte Art und Weise, wie all diese Darsteller eingesetzt werden, die begeistert.
Zurück bleibt ein zu Unrecht vom deutschen Verleih bisher ignorierter intelligenter Gangsterfilm in bester Guy Ritchie-Tradition, der durch dieses Ignorieren schnell Geheimtipp-Status erlangen könnte. Erfreulich ist es, wie über die sehr guten Darsteller und die von ihnen ausgetragenen Dialoge mit sämtlichen zu erwartenden Klischees des Gangsterfilms systematisch gebrochen wird und welchen Wortwitz dies zur Folge hat. Negativ anzumerken sind kleinere Stimmungsschwankungen, da sich McGuigan manchmal eigens in die Diskrepanz zwischen der Selbstironie und dem dramatischen Basiskonstrukt dirigiert, sowie die Tatsache, dass das Drehbuch nicht gerade vor Einfallsreichtum strotz, so dass der große Plottwist zum Ende jeglicher Überraschung entbehrt. Stilistisch ist ein weiterer “Revolver” zu erwarten, wenngleich diesmal nicht der gleiche Grad an symbolischer Abstraktion gegeben ist. Es bleibt zu vermuten, dass die Kritik auch mit diesem Werk nicht allzu freundlich umgehen wird; dennoch sollte man unbedingt mal einen Blick hineinwagen und “Lucky Number Slevin” einem “51st State” im Zweifelsfall immer den Vorzug geben.