In seinem 50. Film nimmt uns Alfred Hitchcock mit auf eine abenteuerliche Reise in die deutsche Ostzone, in der Paul Newman als US-Wissenschaftler Michael Armstrong im Auftrag des Geheimdienstes einem Uni-Professor eine Formel für ein Antiraketensystem abluchsen soll. Der Weg bis dahin erweist sich jedoch erwartungsgemäß als reichlich holprig, weil ihn einerseits seine Assistentin und gleichzeitige Verlobte Sarah (Julie „Mary Poppins“ Andrews) unerwartet bei dieser gefährlichen Mission begleitet, andererseits weil er seine wahren Gründe für sein Überlaufen in den Ostblock tunlichst geheim halten muß. Eine vielversprechende Ausgangslage, die sich als erhofft prickelnd entpuppt.
Zunächst jedoch hat der Zuschauer die Auftaktphase zu überstehen, denn die zwingt einen zu einigem ungläubigen Kopfschütteln, denn was sich Newmans Michael da an Stümpertum leistet, ist für einen Helden schon unglaublich: Nicht nur, daß er seine Sarah, die von dem Doppelspiel ihres Freundes nichts weiß und auch nichts wissen darf, ein Telefonat entgegennehmen läßt, obwohl darin wichtige Instruktionen für den weiteren Verlauf des geheimen Auftrags weitergegeben werden, nein, er erweist sich obendrein als so ziemlich schlechtester Lügner, der je eine Leinwand bekleidete. Michaels Vorwand, für längere Zeit nach Stockholm zu fliegen (und nicht wie in Wirklichkeit nach Ost-Berlin), nimmt Sarah ihm von vornherein nicht ab und schon zwei Minuten später steht er als haltlos da, da sie durch gezieltes Nachfragen am Flughafenschalter den richtigen Zielort erfährt (in etwa: „Entschuldigen Sie, wann geht Michael Armstrongs Maschine nach Stockholm?“ - „Armstrong? Aber der fliegt doch nach Ost-Berlin.“). Übrigens soll sich auch im weiteren Handlungsverlauf das Lügen gegenüber anderen Personen als Michaels wohl größte Schwäche herausstellen.
Wie dem auch sei: Danach läuft der Film-Motor auf vollen Touren. Befand sich in den ersten Minuten die Kamera noch hauptsächlich bei Sarah, so ändert sich jetzt der Blickwinkel und man konzentriert sich voll und ganz auf Michaels Werdegang im Ostblock. Zur Abwechslung entblättert Hitchcock hier nur peu à peu die wirkliche Motivation des Helden, erst nach knapp einem Drittel werden wir vor vollendete Tatsachen gestellt, daß Michael eben nicht der Überläufer ist, für den die Deutschen ihn halten. (Der Zuschauer freilich hat sich das schon länger gedacht, denn wer würde Newman, als populärer Hauptdarsteller und designierter Held, allen Ernstes den Vaterlandsverräter abnehmen? Eben.) Heimlich eilt er von Kontaktperson zu Kontaktperson, um an die Formel zu gelangen, wobei ständig die Frage mitschwingt, ob oder vielmehr wann sein Doppelspiel auffliegt. Der ihm fortwährend wie eine Klette im Nacken sitzende und mißtrauisch gewordene Stasi-Mann Gromek (ein penetrant kaugummikauender Wolfgang Kieling) muß kurzerhand beseitigt werden (seine quälend lange und unendlich mühevolle Ermordung im Haus eines abgelegenen Bauernhofes durch Zuhilfenahme von Suppenschüssel, Schlachtermesser, Schaufel und Gasofen gilt als die berühmteste Szene des Films und ist wahrlich Hitchcock vom Allerfeinsten, wenn auch nicht von logischen Gesichtspunkten aus), dessen plötzliches Verschwinden weckt die Alarmbereitschaft bei der Stasi und es verwundert nicht, daß sich Michael und seine just von ihm in den Plan eingeweihte Verlobte schon sehr bald im Wettlauf gegen die Zeit und nicht viel später in akuter Gefahr befinden.
Wir merken schon: Auch in seinem viertletzten Film mag Hitchcock nicht so recht seine Finger vom Fluchtmotiv lassen, mit dem er über mehrere Jahrzehnte schon gern seine Drehbücher schmücken ließ und beachtliche Erfolge verbuchte (siehe u.a. „Die 39 Stufen“, „Saboteure“ oder „Der unsichtbare Dritte“), aber es ist das erste Mal, daß das Thema leichte Abnutzungserscheinungen aufweist (ich betone: erst bei seinem 50. Film!). Auf den Hitchcock-Vielseher warten während des Handlungsverlaufs keine großen Überraschungen mehr, dafür etliche Déjà-vu-Erlebnisse, weil bereits zu viele Filme des Regisseurs zuvor nach ähnlicher Formel gestrickt waren. Umso bemerkenswerter, daß er es trotzdem noch immer schafft, sein Publikum vorzüglich - und das immerhin über stolze 128 Minuten - zu unterhalten. Die Höhepunkte sind zwar längst nicht mehr so zahlreich gesät wie in „Der unsichtbare Dritte“ (wo er noch eine herrliche/herrlich spannende Szene an die nächste reihte) und man kann sie sich problemlos einzeln rauspicken, doch das dürfte für die meisten Fans locker reichen, obgleich mich stets das Gefühl beschlich, all das schon mal einen Tacken besser und aufregender vom guten alten Hitchcock gesehen zu haben. Andererseits: Hitchcock hatte inzwischen das Problem, daß man einfach von ihm erwartete, daß er sich selbst mit jedem weiteren Film aufs Neue übertrifft. Bleibt nur die Frage: Wie, bitte schön, sollte er es anstellen, seine zuvor gedrehten, rundum perfekten Meisterwerke (darum heißen sie schließlich so) zu toppen? Das war einfach nicht mehr möglich. Die Erwartungen müssen dementsprechend etwas runtergeschraubt werden, dann kann man sich immer noch über die vielen kleinen Spannungs-Rosinen freuen.
Zweifelsohne mitreißend nämlich die wunderbar ausgedehnte „Phantomfahrt“ mit dem Bus, in dem das Heldenpärchen nach vollbrachter Tat mithilfe einer Gruppe von Untergründlern (darunter auch Norbert Grupe alias „der Prinz von Homburg“ - der Mann mit dem legendären „wortgewaltigen“ Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“ :-)) zurück nach Ost-Berlin entkommen möchte und dabei vor etliche Hürden gestellt wird, wie auch die Szene im Theater, in dem auch durch den geschickten Einsatz der Kamera, die eindrucksvoll einfängt, wie sich die Schlinge um Michael und Sarah immer enger zieht, schier atemlose Spannung entsteht. Sollte jemand sich die Mühe machen und hiernach verzweifelt nach dem großen Showdown à la Mount Rushmore Ausschau halten, so wird er nicht fündig werden. Alles in „Der zerrissene Vorhang“ ist eine Nummer kleiner, weniger spektakulär ausgefallen als in den starken Vorgängern. Darüber kann man nun nörgeln, wenn man will, oder man findet sich damit ab - das muß halt jeder für sich entscheiden.
Außer Frage hingegen steht, daß Hitchcock nach „Marnie“ zum zweiten Mal hintereinander unverzeihliche technische Fehler unterlaufen, die ihm einfach nicht passieren dürfen. Die Rekonstruktion der DDR-Atmosphäre gelingt nicht sonderlich, darüber können auch nicht berühmte deutsche Schauspieler wie Kieling, Hansjörg Felmy oder Günther Strack in den Nebenrollen hinwegtäuschen. Die Studiobauten sind gleich haufenweise deutlich als solche erkennbar (besonders armselig offensichtlich, als Michael seine Holde vor der Universität auf der Spitze eines Hügels in sein kleines Geheimnis einweiht) und die Rückprojektionen bewährt schlampig, so daß schon mal der Eindruck entsteht, man befinde sich in der Zeit Mitte der 40er kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine realistische Wiedergabe der Verhältnisse in Ostdeutschland sieht anders aus.
Paul Newman spielt seinen Fähigkeiten entsprechend gut, nur hat er leider den nicht zu vernachlässigenden Nachteil, automatisch mit Cary Grant, der bekanntlich in Hitchcocks letztem Flucht-Thriller die Hauptrolle spielte, verglichen zu werden und gegen den kann er in der Zuschauergunst nur abschmieren. Die Figur der Sarah schrieb Autor Brian Moore wohl allein aus dem Grund ins Drehbuch, weil Michael dringend ein Love Interest an seiner Seite benötigte, ohne den die meisten Hitchcock-Filme nur die Hälfte wert sind. In dieser Geschichte ist sie eher das fünfte Rad am Wagen, ein lästiges Anhängsel ohne echte Bedeutung. Erschwerend kommt hinzu, daß Julie Andrews jede Form von Charisma vermissen läßt. Sie ist physisch präsent, fällt aber kaum auf. Ohne Umschweife klasse hingegen Wolfgang Kieling in seinen zehn Minuten, seine deutschen Kollegen bleiben weniger haften, agieren jedoch allesamt ordentlich. (Ach ja, und Professor Lindt, der Formel-Mann, wird von Ludwig Donath verkörpert und nicht von Loriot in Opa-Hoppenstedt-Verkleidung, auch wenn die Ähnlichkeit auf die ersten drei Blicke verblüffend ist.)
Seine nicht wenigen Schwächen außer acht gelassen, hat Alfred Hitchcock also mit „Der zerrissene Vorhang“ noch einmal eine ganze Menge seines Könnens in Sachen Spannungsfilm unter Beweis stellen können und fraglos ein wirklich nettes Alterswerk auf die Beine gestellt. Mit seinen früheren Agententhrillern kann der Film zwar nicht mehr mithalten, doch das wohlige Kribbeln ist phasenweise noch immer spürbar. Meinen Respekt dafür. 6/10.