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Neue Kritik vom 13.10.2022

Kein Licht, kein Geräusch. Eine Existenz in innerer Dunkelheit. Gefangen in einer schwarzen Blase, durch deren Oberfläche hindurch gelegentlich menschliche Hände nach einem tasten. Sie gehören zu Körpern, die sich in einer anderen Dimension befinden. Man kann sie ergreifen, aber es ist immer nur eine temporäre Verbindung, als würde man an einem Abgrund hängen und sich am letzten Strohhalm festklammern, um nicht abzustürzen. Ein Tauziehen ohne endgültigen Ausgang – weder können die Hände einen auf sicheren Boden ziehen noch kann man sie zu sich ins Dunkel reißen.

Eine erschütternde Vorstellung, die zunächst die ganze Welt der jungen Helen Keller (1880 – 1968) ausmachte. Im Alter von 19 Monaten verlor sie durch eine Krankheit ihr Seh- und Hörvermögen. Im weiteren Verlauf ihres Lebens gelang es ihr schließlich, sich aus der Isolation der Sinne zu befreien und einen beeindruckenden Lebensweg einzuschlagen: Sie lernte die Blindenschrift in diversen Sprachen, trat als Aktivistin für Menschenrechte ein und schrieb mehrere Bücher über ihre Erfahrungen. Eine Schlüsselfigur auf dem Weg dahin blieb auf ewig unvergessen: Die Lehrerin Anne Sullivan (1866 – 1936), die großen Anteil daran hatte, dass es ihrer Schülerin schlussendlich gelang, eine Verbindung zur Außenwelt herzustellen.

Das unzerstörbar scheinende Band zwischen Helen Keller und Anne Sullivan würde der Dramatiker William Gibson Ende der 50er zu einem Theaterstück formen, basierend auf Kellers eigener Biografie „Die Geschichte meines Lebens“ (1905), die sich mit ihren Jugendjahren befasst. Schon damals spielten Anne Bancroft und Patty Duke das Gespann auf der Bühne, bevor sie ihre Rollen in Arthur Penns Verfilmung „Licht im Dunkel“ von 1962 ein letztes Mal aufnahmen, um die Geschichte für spätere Generationen zu konservieren. Dabei muss die Herausforderung (wenn nicht gar die Ironie) darin liegen, die Welt eines taubblinden Mädchens ausgerechnet anhand eines audiovisuellen Mediums zu vermitteln.

Penns Ansatz ist es nicht etwa, in die subjektive Wahrnehmung Helen Kellers einzutauchen, so wie es Dalton Trumbo mit dem träumenden Protagonisten seines Antikriegsdramas „Johnny zieht in den Krieg“ einige Jahre später tat. Vielmehr setzt er sich zum Ziel, eine undurchdringliche Wand um das Mädchen zu ziehen, die jeglichen Zugang zu ihrem Innenleben versperrt. Mit Bezug auf den Originaltitel „The Miracle Worker“ betont er, welch harte Arbeit es erfordert, die Mauer einzureißen und das Wunder zu erzwingen. Helen Keller ist in „Licht im Dunkel“ eine Puzzlebox, die sich weder mit Liebe noch Verständnis noch sonstigen Automatismen öffnen lässt, sondern nur mit Schweiß und Blut, Methode und Beharrlichkeit.

Bei der Adaption eines Theaterstücks würde man auch von der Verfilmung eine gewisse Statik in der Inszenierung erwarten, und es ist gerade diese Erwartung, die sich Penn zunutze macht, um den Zuschauer zu überraschen. Immer wieder treibt er das Chaos wie einen Tornado durch das, was man eigentlich den Schauplatz für ein leises Kammerspiel bezeichnen würde. Das idyllische Landhaus auf der kalifornischen Big Sky Ranch, wo auch „Bonanza“, „Rauchende Colts“ und andere sich selbst genügende Westernserien und -Filme gedreht wurden, strahlt als Set die Ordnung eines geregelten Landlebens aus, doch diesmal liegt von der ersten Minute an etwas Ruheloses am Set. Im Prolog verändert sich die Ausgangslage praktisch im Sekundentakt; die Diagnose, die der Arzt am Kindbett stellt, ist bereits nicht mehr gültig, als er sich auf dem Weg nach Hause befindet. Für ein Kammerspiel fluktuieren Kamera und Schnitt in dieser Phase extrem, wie vom Wind werden sie gewogen, als der Vater seine Verzweiflung über den verschütteten Kommunikationskanal zu seiner eigenen Tochter lauthals in die Wiege schreit, während die Mutter im Hintergrund einen Nervenzusammenbruch erleidet.

Selbst nachdem der Schock aus dem Prolog mit Beginn der Haupthandlung ein wenig abgeklungen ist, bleibt das Physische und das Extreme ein stetiger Begleiter des Films. Das Augenmerk liegt auf der Verständigung der beiden Hauptfiguren, die sich ausschließlich durch Körperkontakt vollzieht – Fingersprache in den ruhigen Momenten, regelrechte Ringkämpfe in den ruppigen. Eine Plansequenz von mehreren Minuten Dauer dreht sich lediglich um ein abgesperrtes Esszimmer und den Versuch der Erzieherin, das Mädchen zu Tischmanieren zu zwingen, was letztlich dazu führt, dass beide Parteien radikale Geschütze auffahren, bis die Hausbesitzer ihren eigenen Speisesaal nicht mehr wiedererkennen. Es ist ein Muster, das sich in aller Widerspenstigkeit wiederholt, bis dem Zuschauer die Resignation der Eltern verständlich wird... und sich das Außergewöhnliche des steinigen Wegs offenbart, den Anne Sullivan wählte, um einen Zugang zu ihrem Schützling zu finden.

Anne Bancroft und Patty Duke gewannen den Doppel-Oscar für die beste Haupt- und Nebendarstellerin auch deswegen, weil Arthur Penn wie so oft auf den Ausdruck seiner Darsteller und ihrer gemeinsamen Interaktion setzte. Eine Academy-Formel jedenfalls ist nicht Quelle dieser Auszeichnung. Von der rührseligen Ausrichtung vieler Hollywood-Dramen sind beide schon der Anlage ihrer Rollen nach weit entfernt, aber letztlich auch durch ihre kaum zu bändigende Performance. Mancher Action-Star musste vermutlich in seinen Rollen weniger Physis an den Tag legen. Aber über Backpfeifen, Bodenturnen und daraus resultierende blaue Flecken hinaus geht auch das Mienenspiel bis an die äußerste Grenze. Man erlebt Overacting, aber meistens ohne das „over“, mit Theatergrimassen, die nicht etwa fehl am Platze, sondern dazu notwendig sind, um in der Verständigung eine Vorstellung von „gut“ und „böse“ zu geben, die als Fundament für weitere Fortschritte benötigt werden. Gerade Patty Duke ist unfassbar überzeugend darin, ihre fehlenden Sinne wie Gitterstäbe sichtbar zu machen, dabei flatternd wie ein Kanarienvogel in einem viel zu engen Käfig.

Bemerkenswert für ein Behindertendrama aus Hollywood ist vor allem die Konsequenz, mit der Penn den technischen Aspekt der Kommunikation der rein sentimentalen Komponente vorzieht, ja sogar beides gegeneinander ausspielt. Der Familie des Mädchens, insbesondere Inga Swenson als Mutter, kommt dabei besondere Bedeutung zu, denn ihre von Zuneigung und Mitleid angetriebene Inkonsequenz bei der Erziehung der Tochter erlaubt es dem Film, eine strikte Trennung von Liebe und Empathie herauszuarbeiten, die von Bancrofts Figur im Dienste einer schmerzhaften Heilung genutzt wird. Die präzise ausgeführte Dokumentation der angewendeten Methoden eignet sich gleichermaßen für eine fachliche Betrachtung aus kommunikationswissenschaftlicher wie aus pädagogischer Perspektive. Im Rahmen eines solchen Diskurses wären die im Film gezeigten Darstellungen sicherlich nicht unangreifbar, würden aber mühelos jedem Vorwurf standhalten, lediglich das luftleere Produkt einer naiven und weltfremden Studioproduktion für ein Massenpublikum zu sein. Darüber hinaus schmeichelt der Aufbau auch sehr dem in Akten gestaffelten Drehbuch, das sukzessive die Intensität steigert und in einem finalen Moment des Durchbruchs gipfelt, der von außen betrachtet womöglich nur wie ein kleiner Schritt wirkt, für die Beteiligten jedoch, und dazu gehört zu diesem Zeitpunkt längst auch der Zuschauer, einfach alles bedeutet.

Obwohl sich fast alles an diesem Film völlig zu Recht um eines der beeindruckendsten Leinwandpaare der Filmgeschichte dreht, werden fast unmerklich auch weitere Themen auf Nebenschauplätzen angedeutet. Die Schatten der Sklaverei, die zwei Jahrzehnte vor dem Zeitrahmen der Handlung abgeschafft wurde, lassen sich immer noch im Hintergrund erahnen, gerade im passiven, konservativ gefärbten Verhalten des Familienoberhaupts (Victor Jory) deuten sich veraltete Wertvorstellungen an, die weit über den Umgang mit der eigenen Tochter hinaus problematisch sein könnten. Man spürt regelrecht, wie Penn die Altlasten des klassischen Hollywood abzustreifen versucht, um das neue Hollywood auf den Weg zu bringen. Der eigentliche Kniff der Geschichte ist vielleicht sogar der, dass es bei weitem nicht nur Helen Keller ist, die für eine neue Weltordnung erzogen wird, sondern ihre gesamte Familie... inklusive des Zuschauers, der im Laufe der Handlung gleichermaßen einen Lernprozess durchläuft.

Bei aller Strenge und aller Trostlosigkeit ist „Licht im Dunkel“ aber auch ein erheiternder Film, der stellenweise zum Lachen anregen kann, wenn Trotz auf Trotz stößt und das Moment der Überraschung die verhärteten Fronten mit formidabler Slapstick aufweicht. Insofern hat sogar der freie deutsche Filmtitel etwas für sich, auch wenn der Originaltitel der methodologischen Essenz dieser biografischen Erzählung wesentlich näher kommt. Im Kern wütet eine Tragödie, die es mit den zermürbendsten Dramen eines Ingmar Bergman aufnehmen kann, das Heilmittel ist es jedoch, das dieses Werk von anderen seines Schlags unterscheidet: Liebe und Mitgefühl können das Licht lediglich warm erscheinen lassen, aber die Beharrlichkeit der Lehre ist es, die es letztlich freischaufelt.




Alter Kurzkommentar vom 08.02.2015
kurz angerissen*

Die Herausforderung für das audiovisuelle Medium Film steigt, wo gerade jene Sinne fehlen, die den Film ausmachen. Wie kann man am besten transportieren, was es bedeutet, sich um ein Mädchen zu kümmern, das weder sehen noch hören kann?

Arthur Penn löst die schwierige Aufgabe einmal mehr über seine Darsteller. Patty Duke als taubblinde Helen und Anne Bancroft als ihre ebenfalls sehbehinderte Erzieherin liefern einen physischen Kraftakt von einer Darstellung, sie ringen und jagen sich mehr durch das Landhaus als dass sie stillsitzen. Ständig zerbrechen Dinge, fällt Essen auf den Boden, werden Stühle und Tische verschoben, entstehen unerwartete Konrontationen. Penn vermittelt eine permanente Ruhelosigkeit und zugleich die Akzeptanz der Situation durch die resignierende Familie des Mädchens, die sich über die Jahre eingestellt hat.

Beachtlich ist es dabei, wie konsequent die nachlässige und eigentlich von Liebe und Mitleid gesteuerte Erziehung durch die leiblichen Eltern als kurzsichtiges und verdrängendes Handeln verurteilt wird und mit welchem Elan die Erzieherin von außerhalb Strenge walten lässt, um in kleinen Schritten zum anfangs als aussichtslos geltenden Erfolg zu gelangen. Unter Rückgriff auf die autobiografische Vorlage von Helen Keller bezieht Penn klare Position und weckt sein Publikum unsanft, aber wirksam aus allen Tagträumen; es gelingt ihm, die Schwierigkeit im täglichen Umgang mit Behinderten schmerzhaft begreiflich zu machen und dabei für Durchhaltevermögen zu plädieren. Ein moralisch immer noch zeitgemäßes, aufrüttelndes Kammerspiel, das trotz seines historischen Settings eine universelle Aussage tätigt.

*weitere Informationen: siehe Profil

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