„Es fährt ein Zug nach Nirgendwo…“
Stellen Sie sich vor, es gibt ein Jubiläum zu „feiern" und kaum jemand nimmt Notiz davon. So geschehen ist dies vermutlich in diesem Monat. Im Juni 2007 jährte sich der Todestag eines des vermutlich begnadetsten Charakterdarstellers des 20. Jahrhunderts zum 40. Mal: Spencer Tracy. Der US-amerikanische Filmschauspieler Spencer Bonaventure Tracy wurde am 5. April 1900 in Milwaukee, Wisconsin geboren und starb am 10. Juni 1967 in Beverly Hills, Kalifornien. Nicht viele Nachteulen werden aus diesem Anlass in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni um ca. 0.20Uhr zur Kenntnis genommen haben, dass der öffentlich- rechtliche Sender ARD glücklicherweise mit dem Thrillerdrama „Stadt in Angst" von John Sturges diesem großen Schauspieler seine Ehre erwiesen hat.Nach dem Schauspielstudium an der New Yorker Academy of Dramatic Arts konnte man Spencer Tracy zwischen 1923 und 1930 an verschiedenen Provinz- und Wanderbühnen sehen, ab und an aber auch am New Yorker Broadway. Mit „The Strong Arm" debütierte er 1930 im Film ehe er in „Flussaufwärts" unter der Regie von John Ford an der Seite von Humphrey Bogart glänzte. Spencer Tracy wurde oftmals für den begehrten Academy Award, z.B. für „Der alte Mann und das Meer" (1959) als bester Hauptdarsteller nominiert und er erhielt sogar die Oscar - Auszeichnung in den beiden Jahren 1938 und 1939 für die Filme „Manuel" und „Teufelskerle" als bester Hauptdarsteller. Nicht den Oscar, sonder „nur" über eine Nominierung durfte sich der zu diesem Zeitpunkt bereits als einer der erfolgreichsten und angesehensten Charakterdarsteller Hollywoods für den besagten Film „Stadt in Angst" freuen. Filmfreunden wird Spencer Tracy besonders an der Seite von Marlene Dietrich, Burt Lancaster und Maximilian Schell in „Urteil von Nürnberg" von Stanley Kramer ein Begriff sein. Aus aktuellem Anlass jedoch möchte ich nun auf den Film „Stadt in Angst" näher eingehen.
Der Film basiert auf der Romanvorlage „Bad Day at Honda" von Howard Breslin. Der Englische Originaltitel des Films lautet jedoch „Bad Day at Black Rock", was dem Kern des Film schon erstaunlich nahe kommt. Nicht nur Spencer Tracy als Hauptdarsteller John J. MacReedy erlebt in dem beschaulichen, verlassenen „Bauernkaff" in der Mitte von Nirgendwo einen für ihn äußerst schlechten Tag, sondern das dem Film zu Grunde liegende Thema, der Umgang der amerikanischen Bevölkerung mit japanischen Einwanderern nach Pearl Harbor (1941) beschreibt ein ebenso dunkles Kapitel der US-amerikanischen Geschichte. Clint Eastwood hat gerade aktuell mit seinen beiden Filmen „Flags of our Fathers", sowie „Letters from Iwo Jima" versucht, amerikanische und auch in gewisser Weise japanische Geschichte bildgewaltig aufzu- und zu (ver)arbeiten. John Sturges („Die glorreichen Sieben", „Gesprengte Ketten") kann mit „Stadt in Angst" bedingt sogar als Vorreiter gesehen werden. Zwar handelt es sich dabei nicht um dieselben Ereignisse, obwohl sich diese in etwa derselben Zeit abgespielt haben: „Stadt in Angst" im Jahr 1945 und die Clint Eastwood - Filme ebenfalls. „Stadt in Angst" nimmt jedoch Bezug auf Pearl Harbor (1941) und nicht auf die Vorfälle auf der japanischen Insel Iwo Jima. John Sturges hat jedoch schon vor mehr als 50 Jahren versucht, mit „Stadt in Angst" auf das tragische Schicksal zahlreicher Japaner hinzuweisen und dieses weitgehend tabuisierte Kapitel US-Historie wieder in das Bewusstsein des Betrachters zu bringen. Mit „Letters from Iwo Jima" bzw. „Flags of our Fathers" ist Eastwood dies wohl besser gelungen, als Sturges mit „Stadt in Angst". Damals waren aber die Zeiten bzw. die Vermarktungsmaschinerie natürlich auch noch andere als heute. „Stadt in Angst" mit Spencer Tracy ist aber ebenso sehenswert wie die beiden Clint Eastwood Filme.
Schon mit den ersten Kameraeinstellungen und den ersten dramatisch-hektischen orchestralen Klängen des Soundtracks wird der atmosphärische Grundstein für den Fortgang des restlichen Films gelegt. Man sieht einen sehr langen Zug der sich unauffällig in das ihn umgebene karge, weite Land einfügt. Rasche Kameraschwenks (zumindest für damalige Verhältnisse: der Film ist wohlgemerkt mehr als 50 Jahre alt), die den rasenden Zug in der trockensten US-amerikanischen Prärie in verschiedenen Perspektiven einfangen, gehen einher mit dem bombastischen Orchesterwerk des amerikanischen Pianisten, Komponisten und Dirigenten André Previn (geb. 1930).
Für die Komödie „Gigi" (1958) erhielt Previn, der von 2002 bis 2006 in fünfter Ehe mit der deutschen Stargeigerin Anne-Sophie Mutter verheiratet war, einen Oscar für die beste Filmmusik. Interessant ist auch, dass seine gemeinsame Tochter mit Mia Farrow (die Ehe bestand von 1970 - 1979) heute mit dem Regisseur Woody Allen verheiratet ist.
Plötzlich jedoch beginnt der Zug zu bremsen, mitten im Nichts. Unmittelbar wird der Betrachter an den berühmten Schlager „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo" von Christian Anders erinnert, zumindest an den Titel des Stücks. Man sieht nur einzelne Hütten mitten in der weiten Öde der Wüste im Westen der USA. Diese Hütten befinden sich in einem relativ verlassenen „Bauernkaff" namens Black Rock, einem Ort an dem „die Herrschaft des Gesetzes verschwunden ist und dafür die Gorillas bestimmen", wie Spencer Tracy alias John J. MacReedy aus dem urbanen Los Angeles bereits nach kurzer Zeit spitzfindig bemerkt. Seit vier Jahren hat der Zug nicht mehr an diesem Ort angehalten, umso größer ist dann noch die Verwunderung der einheimischen Cowboys, als ein adrett gekleideter, einarmiger, älterer Herr in schwarzem Anzug mit schwarzem Hut bei sengender Hitze aussteigt und schon bald damit beginnt, Fragen zu stellen. Der sengenden Hitze ist der Wüste im Westen der USA steht die eisige Ablehnung MacReedys durch die Bewohner von Black Rock gegenüber, wodurch den Betrachter sofort ein fröstelndes Gefühl durchfährt.
Die Kulissen entsprechen dem eines klassischen Western und die Bewohner von Black Rock fügen sich nahtlos in diese Umgebung ein. Die Atmosphäre zu Beginn ähnelt sehr der des Sergio Leone - Klassikers „Spiel mir das Lied vom Tod" (1968): äußerst dicht und beängstigend bedrückend. In eindringlichen Bildern, oftmals unterlegt mit dem lauten Surren der Grillen und dem durchdringenden Flirren der Sonne in der glühenden Wüste, schlägt MacReedy schon sofort nach seinem Ausstieg aus dem Zug sowohl die Neugier, aber auch die Ablehnung und Verachtung der Einheimischen entgegen. Vor allem sieht sich MacReedy dem Zweifel und dem Unmut der misstrauischen Cowboys ob dessen plötzlichen Erscheinens ausgesetzt. Dies bekommt er bereits zu spüren, als er im besten (und einzigen) Hotel am Platze ein Zimmer für eine Nacht buchen möchte. Obwohl offensichtlich genügend Zimmer frei wären, möchte der Hotelbesitzer Pete ihm keines überlassen und versucht ihm mit den Worten „Wir haben ´45, Mister, und so was wie´n Krieg" klarzumachen, dass er unerwünscht ist.Den Hintergrund für diese offensichtliche Ablehnung und Unfreundlichkeit erfährt man erst im Laufe des Films, als MacReedys Neugier bereits geweckt ist. MacReedy ist auf der Suche nach einem japanischen Farmer mit dem Namen Kamoko. Bei den Erkundigungen nach ihm entkommt er nur knapp bei einer Autoraserei dem Tod. Denn sein Gegner ist ein Mann namens Reno Smith mit seinen Kumpanen. Diese werden zum Teil von brillanten Schauspielern gemimt. Einer davon ist zum Beispiel Ernest Borgnine als Coley Trimble, der wie Spencer Tracy seit den 1950er zu den bekanntesten US-amerikanischen Charakterdarstellern zählt. Er wirkte bis heute in mehr als 180 Filmen mit, darunter wahre Perlen wie Delbert Manns „Marty", Robert Aldrichs „Der Flug des Phoenix" oder an der Seite von Gene Hackman in „Die Höllenfahrt der Poseidon". Ein weiterer verbündeter Smiths und Kleinstadtrassist ist Hector David, gespielt von Lee Marvin (19. Februar 1924 - 29. August 1987). Er machte sich vor allem in den 60er und 70er Jahren als raubeiniger Einzelgänger einen Namen. Reno Smith versucht alles, MacReedy daran zu hindern, dass er die Wahrheit über das Schicksal von Kamoko erfährt. Der Landbesitzer Reno Smith wird gespielt von Robert Ryan (11. November 1909, Chicago - 11. Juli 1973, New York). Er wirkte unter anderem in Klassiker mit wie dem Bibel-Epos „König der Könige" (1961) oder „Das dreckige Dutzend" (1967). Für die Nebenrolle in Edward Mytryks Spielfilm „Im Kreuzfeuer" (1947), erhielt er ein Jahr später sogar einen Oscar.
Die schauspielerische Leistung aller Schauspieler ist brillant. Das fesselnde Thrillerdrama lebt von der eindringlichen Atmosphäre und den teilweise Angst einflößenden, wortkargen Dialogen, vor allem zwischen dem ehrlichen, bodenständigen MacReedy und dem verlogenen, hinterhältigen Smith. Die eisige Stimmung zwischen beiden ist für den Betrachter regelrecht greifbar. Die Gesichter der beiden sieht man selten in Großaufnahme. Es ist jedoch gerade diese distanzierte Haltung der Kamera eingebettet in diese unwirkliche, kahle Landschaft, aus der „Stadt in Angst" seine Spannung bezieht, sowie der klassische Aspekt: David gegen Goliath. MacReedy als vermeintlich schwacher, körperlich behinderter Einzelkämpfer kämpft auf verlorenem Posten gegen ein ganzes Dorf bärenstarker, raubeiniger Cowboys an dessen Spitze der provozierende Reno Smith steht. Keiner der Darsteller spricht ein Wort zu viel, aber auch keines zu wenig. Die Dialoge sind scharf wie ein Messer, bei dem man jedem Moment Angst haben muss, dass es einen durchbohrt.Erst spät wird der wahre Grund für MacReedys Besuch und Kamokos Schicksal aufgeklärt. Smith erzählt MacReedy, dass Kamoko nach Pearl Harbor in ein Internierungslager gebracht worden und seitdem verschwunden sei. Die Wahrheit erfährt man jedoch erst, als Doc T.R. Velie Jr. (gespielt von Walter Brennan) und der Hotelbesitzer Pete dem Druck des schlechten Gewissens und dem Nachhaken MacReedys nicht mehr Stand halten können und ihm reinen Wein einschenken. In der Zeit nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor (1941), hatten diese einen sehr schlechten Stand bei der amerikanischen Bevölkerung. MacReedy erzählt den beiden, dass er auf der Suche nach dem japanischen Farmer Kamoko ist, weil ihm dessen Sohn Joe, der im Krieg in Italien gefallen ist, das Leben gerettet hat und er deshalb dachte, Kamoko wenigstens einen Tag seines Lebens widmen zu können. Doc Velie und der Hotelbesitzer Pete bringen jedoch Licht ins Dunkel, indem sie offenbaren, dass Kamoko, der einzige japanische Siedler des Dorfes zu dieser Zeit, am Abend des Angriffs auf Pearl Harbor von Smith und einigen anderen Männern aus Rache und Fremdenhass auf brutalste Weise ermordet wurde. Doc Velie rät MacReedy die Stadt schnellstmöglich zu verlassen, ehe es zu einem blutigen Showdown kommen würde. Die Provokationen der Verbündeten um Smith nehmen immer mehr zu und auch MaReedys Hilfetelegramme an die Landespolizei werden nicht weiter geleitet. Als der Sheriff für MacReedy Partei ergreifen will, wird er unmittelbar von Smith abgesetzt. Mit der Hilfe des Hotelbesitzers Pete und dessen Schwester Liz (Anne Francis) gelingt jedoch in der Abenddämmerung die Flucht. Außerhalb lauert jedoch Smith in einem Hinterhalt den beiden auf und es kommt zu einem feurigen Finale, bei dem Liz getötet wird.
FAZIT:
Der 82-minütige Film ist äußerst kurzweilig und jede Sekunde ist es wert, angesehen zu werden. So wie zu Beginn des Films ein Zug nach „Nirgendwo" gefahren ist, so ähneln sich die Bilder, als derselbe Zug innerhalb eines Tages noch einmal in Black Rock anhält und von diesen abgründigen „Nirgendwo" wieder abfährt. Von der Dramaturgie, der Kamera, dem Ton, der Besetzung und derer durchweg superben schauspielerischen Leistung ist der Film, als eine Mischung von Drama, Thriller und Western, ohne das patriotische Pathos so mancher US-Filme, absolut sehens- und empfehlenswert. Der Film, indem „echte" Männer noch zwanglos, hemmungslos Rauchen durften und konnten, ist ein packendes, eindringliches Plädoyer gegen jede Form von Rassismus. „Stadt in Angst" mit Spencer Tracy gilt heute als absoluter Klassiker, der bereits vor mehr als 50 Jahren versucht hat, einen kleinen Beitrag zur Aufklärung bzw. zur Verarbeitung eines unrühmlichen Kapitels US-amerikanischer Geschichte zu leisten. Ob Clint Eastwood mit seinen beiden Filmen dies ebenfalls zu erreichen vermag und er damit wie John Sturges den Status, einen Klassiker geschaffen zu haben erreichen kann, wird man erst in einiger Zeit wissen.
(10 / 10 Punkten)