Das Fleisch und das geistige Wohl
Die Phantastik gehört natürlich schon deshalb zum Fundus des Animationsfilmers Jan Švankmajer, weil die stop motion-Technik wie geschaffen ist (oder gar: geschaffen ist - ohne 'wie'), um Lebloses zu beleben. Švankmajers Interesse an diversen Topoi der Phantastik geht aber über lebende Objekte und menschlich agierende Tiere - wie sie einem in seiner Lewis Carroll-Verfilmung "Neco z Alenky" (1988) begegnen - weit hinaus und lässt auch eine Liebe zum Makaberen, zum gespenstischen Nachleben der Vergangenheit, zum Wahn und zur Phobie, zum körperlichen Verfall und zur perversen Begierde erkennen; nicht bloß in dem kindlichen Alptraumszenario "Do pivnice" (1983), in seiner essayistischen Horace Walpole-Phantasie "Otrantský zámek" (1977) und seinen Edgar Allan Poe-Verfilmungen "Kyvadlo, jáma a nadeje" (1981) und "Zánik domu Usheru" (1981) lässt sich das bemerken. Auch der morbide Dokumentarfilm "Kostnice" (1970) über das Beinhaus in Sedletz blickt durch eine morbide Poe-Brille auf die Vergänglichkeit, den Tod und die Überreste; und der surrealistische "Byt" (1968), der visuell vor allem von René Magritte beeinflusst wurde, lässt die Furcht vor dem Begrabenwerden, den beginnenden Wahnsinn und die peinigenden Dinge hinter den Wänden und Böden - wie in "The Tell-Tale Heart" (1843) & "The Black Cat" (1843)! - aus Poes Œuvre aufleben...
Es ist diese (stets auf etwas gallige Weise humoristisch entschärfte) Morbidität, mit der Švankmajer oftmals auf alles mögliche blickt (auch auf die Liebe und die Sexualität sogar - wie Poe mit seinen sterbenden Schönheiten, mit seiner Nekrophilie und dem zerstörerischen Inzest), die ihn gerade im Spätwerk den (menschlichen) Körper, das Fleisch und die Knochen wie Objekte behandeln lässt: deutlich geprägt von Marquis de Sade und zunehmend auch von David Cronenbergs Körperhorror, aber stets mit einem bizarren Humor versehen, der jeglicher Verstörung weitgehend vorbeugt und eher die bizarreren Auswüchse der Fleischeslust und die Körperlichkeit als makabere (Ober- &) Unterleibswitze darbietet. Die gegenseitige Zerfleischung in "Moznosti dialogu" (1982), das verwesende Gemüse-Wesen in "Flora" (1989), die fleischliche Liebe in "Meat Love" (1989), der sich selbst aus lebenden Einzelteilen zusammensetzende Körper in "Tma, Svetlo, Tma" (1989) oder die Schling- & Schluck-Orgie "Jídlo" (1992) sind typische Beispiele für Körperlichkeit bei Švankmajer: Liebe ist etwa bei ihm auch Fleischeslust und hat nicht nur mit Zuneigung, sondern auch jede Menge mit Fleisch und mit einer (höchst subjektiven) Objektivierung der Partner zu tun, Menschen sind bei ihm nicht bloß Subjekte mit individuellen Innenleben, sondern (für Mitmenschen & Publikum) auch materielle, versehrbare Objekte und der Tod ist nicht nur ein Verlöschen des Wahrnehmens und des Denkens, sondern auch ein Zerfallen des Körpers...
Die Phantasie des Menschen & seine wahnhaften Innenwelten einerseits und der Körper des Menschen andererseits reizen Švankmajer gleichermaßen: Die Freiheit der Gedanken auf der einen Seite, das Gefängnis des Körpers auf der anderen Seite... und in seinen frei beweglichen Phantasien über versehrbare Körper bringt Švankmajer beides zusammen: die Schrecken des Verfalls werden gemildert durch die phantasievolle, uneingeschränkt ausufernde Betrachtung - und die Freuden der Phantasie und des Denkens werden stets gestört durch den morbiden Hinweis, dass der Körper, von welchem diese Freuden abhängig sind, das letzte Wort behalten wird.
In seinen abendfüllenden Langfilmen - der nächste soll unter dem Titel "Hmyz" 2017 oder 2018 erscheinen! -, denen er sich mit "Neco z Alenky" erstmals - und ab "Faust" (1994) vollends - gewidmet hat, ist dieses Verhältnis von Innen und Außen des Menschen, von Subjekt und Objekt ebenfalls gegeben: In "Spiklenci slasti" (1996), einer grotesken Phantasie über eigenwillige Perversionen, erstmals in aller Deutlichkeit - und in "Sílení" schließlich in der größtmöglichen Ausprägung.
"Sílení" beginnt mit einem kurzen Prolog, der zunächst bei aller Einfachheit etwas undurchsichtig klingen mag, sich aber im Verlauf der Laufzeit erhellt: Švankmajer höchstpersönlich spricht seinem Film zunächst ab, Kunst zu sein; "Sílení" sei vielmehr Horror mit all seinen Schundmerkmalen... (Sehr ernst scheint es Švankmajer mit dieser elitären Unterscheidung zwischen hoher Kunst und niederer, vermeintlicher Kunst nicht zu meinen.) "Sílení" sei ein infantiler Tribut an Poe, angereichert mit den subversiven Blasphemien eines de Sade. Eine abgeschnittene Zunge, die quicklebendig über den Holzfußboden robbt, unterbricht Švankmajers Rede kurzzeitig - dann fährt er fort: "Das Thema des Films ist nichts Geringeres als die ideologische Auseinandersetzung, wie ein Irrenhaus zu führen ist. Es gibt zu diesem Thema zwei grundlegende Ansätze, beide gleichermaßen extrem. Einerseits die absolute Freiheit und andererseits die bewährte, konservative Methode von Aufpassen und Abstrafen. Und es gibt einen dritten Weg - eine Kombination der schlimmsten Schattenseiten beider Systeme. Es ist jenes Irrenhaus, in dem wir heute leben."[1] Švankmajer sinkt aus dem Bild, ein Schweinekadaver reißt auf und verliert sein Gedärm. Es folgt der animierte Vorspann, in welchem 13 sado-erotische Karten eines Kartendecks nach & nach umgedreht werden: subliminalbildartig zwischengeschoben (bei jedem Umwenden) die Großaufnahmen der Kartenmotive mit ihren verbrannten oder abgeschnittenen Frauenbrüsten, gepeitschten Arschbacken, abgeschnittenen Ohren oder Nasen, zerstochenen Zungen, amputierten Armen, abgeschlagenen Zehen, herausgeschnittenen Augen und abgezwackten Hoden nackter Opfer... Marquis de Sade steht ziemlich deutlich Pate bei diesem (Schau(er)-)Spiel...
Der junge Jean Berlot erwacht [Achtung: Spoiler!] nachts im Zimmer einer Herberge; zwei Wächter mit Zwangsjacke dringen in sein Zimmer ein, wollen den (noch ruhigen) Mann bändigen, der nun in panische Gegenwehr verfällt. Wirt und Gäste werden vom Lärm geweckt, zumal in Jeans Zimmer durch dessen Toben auch ein Brand entfacht worden ist. Ein seltsamer Anblick bietet sich ihnen, ist Jean doch entweder ein alpträumender Schlafwandler oder ein dem Wahn verfallener Wahnsinniger, der sich wie ein Tobsüchtiger gegen bloße Luft zur Wehr setzt. "Aufwachen!", bellt ein älterer Gast und ohrfeigt den jungen Mann, der sabbernd zur Besinnung kommt; ob er denn irre sei, will der Wirt wissen.
Am nächsten Morgen speist Jean bei dem älteren Nachbarn, der sich mit altertümlicher Perücke als Marquis ausweist und zu sardonischem Gelächter auf Jeans geistiges Wohl anstößt. Ein wenig erinnert diese an den göttlichen Marquis gemahnende de Sade-Figur an eine vulgärere Version von Alain Cunys homme à la cape in Buñuels "La voie lactée" (1969), tritt ähnlich souverän & charismatisch wie ein Teufel in Menschengestalt auf, lässt sich aber in ihren schallenden, pietätlosen Lachkrämpfen gänzlich ungeniert gehen... die Buñuel-Anleihen werden aber dann unübersehbar, wenn der junge Mann gemeinsam mit dem Marquis - der für Jeans Schaden im Herbergszimmer aufgekommen ist - in dessen Kutsche aufbricht und diese eine ganz moderne Autobahnbrücke passiert: wie in "La voie lactée" geht es hier höchst anachronistisch zu, pendelt man doch immer wieder recht surreal zwischen de Sades, Poes und den modernen Zeiten hin und her.
Dass sich Jean entschließt, die Gastfreundlichkeit des Marquis anzunehmen - welchem er davon berichtet, auf der Rückreise vom Begräbnis seiner wahnsinnigen Mutter zu sein -, soll er jedoch schnell bereuen: Kaum nachdem dieser ihm seinen stummen Diener (mit herausgeschnittener Zunge) vorgestellt hat - und diesen lachend auffordert, er solle doch erzählen, wer ihm die Zunge herausgeschnitten habe -, wettert er beim gemeinsamen Abendmahl gegen Mitgefühl & Mitleid... und in der Nacht wird Jean Zeuge, wie eine junge Frau gewaltsam in die kleine Kapelle des Marquis geschleppt wird: Jean betrachtet durch eines der Fenster, wie der Marquis Nägel in eine Christusfigur hämmert und dabei Blasphemien ausstößt, derweil einige Männer und Frauen einen großen Schokoladenkuchen verspeisen, der frappierend wie Scheiße aussieht - zumal Švankmajer mit einigen Einstellungen eindeutig "Salò o le 120 giornate di Sodoma" (1975) zitiert -, ehe die Frauen unter die Tische klettern und die Männer (mutmaßlich oral) befriedigen. Eine Gefangene sitzt angekettet & daumenlutschend in der Ecke.
Nach einer an Huysman ("Là-bas" (1891)) erinnernden, orgiastischen Parodie einer Messe - samt Messgewand mit Porno-Aufdruck - endet diese beunruhigende Nacht. Jean offenbart dem Marquis seine Beobachtungen und seine Abneigung, was dieser mit Gotteslästerungen und Verteidigungen einer triebgesteuerten Existenz quittiert: solle Gott ihn doch strafen, wenn ihm diese Lästerlichkeiten missfallen - und urplötzlich droht er, an einem Happen seiner Banane zu ersticken. Jean alarmiert das Personal, man trägt den vermeintlich Sterbenden aufs Totenbett und Jean wird nun doch noch eine weitere Nacht bleiben, in der er - teilweise vom stummen Diener mit Waffengewalt angetrieben! - hilft, den Marquis einzusargen und in die Krypta zu tragen. In dieser bereitet der Diener alles für die Auferstehung seines Herren vor: warme Speisen, Tischgedeck und Klingelzug werden hinterlassen, dann macht man kehrt und ruht sich aus. Natürlich werden Jean & Diener vom Läuten des Klingelzugs geweckt: Der Marquis hat bereits gespeist und sitzt vergnügt am Tisch neben seinem geradezu zerborstenen Sarg, um lachend wie ein Exhibitionist sein Totenhemd zu öffnen und die darin enthaltenen Werkzeuge seiner Befreiung zu präsentieren. Nicht bloß an Poes "The Premature Burial" (1844) erinnert diese Episode, sondern auch an dessen "The Fall of the House of Usher" (1839) - bloß dass bei Švankmajer der Putz des Hauses nicht einfach bloß bröckelt & bröselt, sondern pulsiert: rohes Fleisch quetscht sich in einer der zahlreichen Animationssequenzen des Films zwischen die Fugen des Gemäuers, um dort zu pochen und zu atmen. Erneut verteidigt der Marquis die Ereignisse der jüngste Nacht und berichtet unter anderem vom vorzeitigen Begräbnis seiner kataleptischen Mutter, die sich einst noch durch ihren Sargdeckel, aber nicht mehr durch die Grabplatte kratzen konnte.
Wieder bleibt Jean eine weitere Nacht - und hat erneut seinen peinigenden Alptraum von den zwei Wärtern, aus welchem er in der Gegenwart des Marquis und des Dieners erwacht. Der Marquis bietet professionelle Hilfe an und lässt sich und seinen geplagten Gast in das Sanatorium des Dr. Murlloppe kutschieren (in welchem sich auch zahlreiche Gestalten aus der Herberge der ersten Szenen aufhalten). Mit "The System of Doctor Tarr and Professor Fether" (1845) steht nun deutlicher als zuvor E. A. Poe Pate: Dr. Murlloppe predigt in dem Sanatorium völlige Freiheit und totales Ausleben aller Begierden & Triebe, lässt nackte Männer ihre Federbetten zerfleddern und nackte, üppige, exhibitionistische (und vielleicht auch etwas nymphomane) Frauen performance-artig mit Farbbomben bewerfen, derweil sich die verängstigte Charlotta - die vermeintliche Tochter Dr. Murlloppes - missbraucht & gefangengehalten wähnt und Jean davon berichtet, dass der angebliche Dr. Murlloppe und der Marquis gefährliche Irre wären, die vor genau einem Jahr eine Revolte gegen die Sanatoriumsleitung begonnen hätten, so dass dieses sich nun in der Hand seiner Inass(inn)en befände, derweil Direktor und Personal pausenlos in den düsteren Zellen ihr Dasein fristen - nur sie habe man verschont, um sie regelmäßig zu missbrauchen... tatsächlich ist sie jene Frau, deren gewaltsame Einbindung in die blaphemische Orgie Jean vor wenigen Nächten beäugt hatte.
Der Marquis straft solche Behauptungen Lügen: Charlotta sei eine hysterische, nymphomanische Irre. Der irritierte Jean bleibt ihr zuliebe in diesem sonderbaren Sanatorium, welches auch vom Marquis noch nicht verlassen wird: Dieser plant - und hier baut Švankmajer in seine "The System of Doctor Tarr and Professor Fether"-Verfilmung auch noch die bereits von Peter Brook als "Marat/Sade" (1967) verfilmte Theatervorlage "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" (1964) von Peter Weiss ein! - mit der Genehmigung Murlloppes die Aufführung eines rebellischen Stückes über die Französische Revolution. (De Sades vielfach kolportierte Parteinahme für die Französische Revolution und die Aufführungen von Schauspielen durch Insass(inn)en des Hospizes zu Charenton oder des Hôpital de la Salpêtrière lagen dabei als Inspirationsquellen zugrunde.) Und während der Marquis sein befreiendes Revolutionsstück probt, führt Charlotta Jean in die Kellergewölbe, um ihn von der Wahrheit ihrer unglaublichen Geschichte zu überzeugen: Dort vegetiert Leitung & Personal des Sanatoriums geteert & gefedert vor sich hin und Jean wird Zeuge der Fütterung dieser Bedauernswerten durch Charlotta.
Es folgt die Aufführung des Theaterstückes von Insass(inn)en für Insass(inn)en, eingeleitet durch den Marquis höchstpersönlich, der nochmals die de sadesche Verteidigung des Auslebens aller Triebe zum Besten gibt: Das Stück jedoch ist eine dialog- & bewegungslose (und nicht sonderlich überzeugende) Reinszenierung des Gemäldes "La Liberté guidant le peuple" (1830) von Delacroix, ein steifes, beinahe lebloses tableau vivant, das für einige Sekunden zur Schau gestellt wird, ehe der Marquis die Freiheit hochleben lässt und das Publikum in seine Lobpreisung einstimmen muss (!). Aus dieser Lobpreisung wird schließlich eine Art Beifall für den Akt der Vergewaltigung, den Charlotta als Darstellerin der personifizierten, barbrüstigen Freiheit über sich ergehen lassen muss; zumindest beinahe: Jean eilt ihr zur Hilfe und verhindert das Schlimmste. (Schon bei Delacroix war die allegorische Figur der Freiheit eine Freiheit, welche zielgerichtet über Leichen ging... ein im Grunde irritierendes Bild von Freiheit, welches Švankmajer konsequent fortschreibt, wenn es die Aufforderung zur Freiheit ist, welche einen Statisten die Verkörperung der Freiheit zwecks Auslebung seiner Bedürfnisse missbrauchen lässt.)
Nach diesem Weiss-/Delacroix-Einschub setzt der Film den Poe-Strang um das übernommene Irrenhaus fort: Während Charlotta zwangsweise Murlloppe und den Marquis zu deren ganz privater Feier begleitet, plant Jean auf ihren Rat hin die Befreiung des ehemaligen Personals. Um ihn herum lassen die Wahnsinnigen & Verrückten die Fetzen und die Federn fliegen, flattern Hühner umher und läuft ein Kleinwüchsiger in Napoleon-Kluft durch die Korridore. Recht deutlich steht hier (und bereits in den früheren Szenen innerhalb des Sanatoriums) der schrille Performance-Charakter im Vordergrund, den Cineasten bereits aus "La Mansión de la locura" (1972), kennen: einer früheren Verfilmung derselben Geschichte Poes, inzeniert von Juan López Moctezuma, der - im Dunstkreis von Jodorowsky und Arrabal stehend - stark vom mouvement (oder: anti-mouvement) panique geprägt worden ist und dieses Konzept (wie auch Jodorowsky & Arrabal) in seine Filme übertrug. Dieser Körperbetonte Happening-/Performance-Charakter, der Anfang der 70er vollends im relativ populären Kino angekommen war, eignete sich freilich für anarchische, verrückte Stoffe: Moctezumas Poe-Verfilmung ist neben Schaafs "Traumstadt" (1973) vielleicht das bezeichnendste Beispiel... (Wenn auch nicht unbedingt das eindringlichste, wenn man etwa an Arrabals oder Makavejevs Filme denkt...) Auch Werner Schroeters opernhaft stilisiertes Irrenanstalts-Drama "Tag der Idioten" (1981) wäre (mit Einschränkungen) zu nennen. Švankmajer steht hiermit voll & ganz in dieser Tradition, was vielleicht erklärt, weshalb sein Film so ungeheuer altmodisch erscheint: neben den vielen Anachronismen und Švankmajers gerade in den 60er & 70er Jahren entwickelten und zur Blüte getriebenen Stilmitteln lassen gerade auch die in den späten 60er und frühen 70er Jahren en vogue gewesenen Themenfelder "Sílení" ausgesprochen retro-artig wirken.
Nun nimmt der Film also seine von Poe inspirierte Wendung, auf die er aber sogleich auch durch die weit radikalere Caligari-Brille blickt: schließlich war es in "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) sogar die Hauptfigur selbst, welche nicht war, was sie zu sein schien. Und so knüppeln die freigelassenen Geteerten & Gefederten nicht bloß auf die tobenden Wahnsinnigen & Verrückten ein, um diese wieder in ihre (beklemmend düsteren) Zellen zu sperren, sondern auch auf Jean, dessen geistige Verfassung ja gleich zu Beginn nicht gerade als die bestmögliche ausgewiesen worden war. Als Jean aus einer kurzzeitigen Ohnmacht erwacht, umsorgen ihn der echte Direktor und Charlotta, derweil alle Anachronismen aus den Bildern verschwunden sind: alles wirkt etwas realer, gewöhnlicher, normaler. (Man kennt das nicht bloß aus "Das Cabinet des Dr. Caligari", sondern auch aus Harry Kümels Meisterwerk "Malpertuis: Histoire d'une maison maudite" (1972).) Zwar entschuldigt sich der echte Arzt Dr. Coulmiere für den undurchdachten Schlag durch einen der Wärter (welcher gelinde gesagt den Eindruck erweckt, nicht ganz beisammen zu sein), während Charlotta Jean versichert, dass sie nun bald alles hinter sich lassen könnten - aber so ganz ist dem Frieden nicht zu trauen, zumal Dr. Coulmiere enthüllt, dass Murlloppe früher tatsächlich selbst ein Psychiater gewesen sei, dessen freie & offene Präventiv-Therapie seiner Meinung nach jedoch dringend um Elektroschocks, Isolation und drakonische Strafen angereichert werden musste. Mit genüsslicher, wenngleich vollkommen beherrschter Genugtuung und einigem Stolz berichtet Coulmiere von seiner strengen Methode des Überwachens & Strafens und wirkt dabei immer bedrohlicher: tief gläubig sei er, versichert Coulmiere, und gehe davon aus, dass das Leben ein fortwährender Kampf zwischen Körper und Seele sei; also müsse man den Körper unterdrücken, um die Seele zu stärken. Als hochmoralischer, christlich gefärbter Spießer erläutert Coulmiere, wie er mit 13 Stufen körperlicher Züchtigung die Seele zur idealen Entfaltung treiben könne; die Teetasse in seiner Hand klappert dabei immer heftiger, seine Gesten werden immer aggressiver - das ist ihm etwas peinlich, als er es bemerkt. Bei diesen Strafen handelt es sich - man kann es sich bereits denken - um die sadistischen Praktiken auf den 13 Spielkarten: Arschbacken peitschen, Zähne rausbrechen, Augen ausstechen, Zungen rausreißen usw.
Als seine Pfleger plötzlich Murlloppe und den Marquis hereinbringen, sieht Coulmiere seine Zeit gekommen, um mit den Therapien 9 & 13 fortzufahren: Murlloppe landet mit ausgestochenen Augen im Kellerverlies, der Marquis muss sich offenbar zu seinem übergroßen Entsetzen entmannen lassen. Freilich führt Coulmiere all diese Praktiken mit Latexhandschuhen, Mundschutz, OP-Kittel und klinischer Sachlichkeit durch: er übt denselben Terror aus wie seine Opfer, bloß in anderer Form und im anderen Gewand und aus anderer Motivation heraus. (Schon die Revolution fraß ihre Kinder: das läuft in Švankmajers satirischer, surrealer Horrorgroteske auch nicht anders ab, wenn es um die Methoden geht, mit welchen man der Norm und der Abweichung von der Norm zu begegnen hat... Murlloppe fällt dem Mann zum Opfer, der Murlloppes Ansätze entgegen Murlloppes Intentionen weiterentwickelt hat...) Jean besucht die Verstümmelten in ihren Zellen - und nun kommt "Sílení" einem schrecklichen Horrorfilm wahrlich nahe! - und gewinnt den Eindruck, dass das Sanatorium nach wie vor ein wahnsinniger Ort sei... Er will mit Charlotta verschwinden, trifft sie jedoch beim Kopulieren mit Coulmiere an. Verzweifelt wirft er sich in sein Bett und durchlebt ein weiteres Mal den Alptraum der ihn in Zwangsjacken stecken wollenden Männer. Grund genug für Coulmiere, den geistig offenbar nicht ganz gesunden Jean seinen Leibesstrafen zu unterziehen: den Anfang wird zunächst die Stufe 1 machen - Hiebe auf den blanken Po...
"Sílení" ist ein ausgesprochen vielschichtiger Film, der sich anspielungsreich durch Film-, Theater-, Literatur-, Kunst- und Weltgeschichte bewegt, um eine gallige, schwarzhumorige Farce über Paradigmenwechsel, über sich wandelnde Werte & Normen, über die Definitionsmöglichkeiten von Wahnsinn, über Formen der Manipulation & Repression zu präsentieren (mit denen Švankmajer aufgrund eines mehrjährigen Berufsverbotes ja selbst genug Erfahrungen sammeln konnte). Und seine Stärke liegt darin, den Wahnsinn im scheinbar Normalen aufzudecken: Wenn die Norm (der christlichen Überzeugungen, der sittsamen Sexualität, der angebrachten Strafmethoden, kurzum: des Dr. Coulmiere) von sich so überzeugt ist, dass sie nicht zur Diskussion bereit ist und zur Unterdrückung eines jeden Widerstandes & Abweichens greift, schlägt ihre vermeintliche Normalität in den wahnhaften Irrtum um, dass sie ganz selbstverständlich das Maß aller Dinge sei und sich nicht erklären müsse, sich keine Kritik gefallen lassen müsse. Zugleich schlägt das Abrücken von solch einer repressiven Norm als Verrücktsein der Ver-Rückten (wie dem Marquis & dem Dr. Murlloppe) in asozialen Egoismus um, je konsequenter es danach strebt, einfach alles an Werten & Normen unberücksichtigt zu lassen oder gar gezielt mit Füßen zu treten (um des Tretens Willen sozusagen). Und selbst der klare Verstand, der sogar seine Mitmenschen so wichtig nimmt wie sich selbst, muss (wie der bemitleidenswerte Jean) unter beiderlei Umständen krank werden.
Und weil sich die Freiheit des Marquis als Unterdrückung seiner Opfer präsentiert, weil die Unterdrückung durch Dr. Coulmiere zugleich Dr. Coulmieres (uneingestandenen, wenngleich bisweilen durchaus von ihm registrierten) ekstatischen Machtgenuss sichert - und hier steht wieder "Salò" Pate mit seiner These von der sadistischen Lust der Mächtigen! -, gleichen sich diese Extreme auf erschreckende Weise: weshalb auch die Idee eines gesunden Mittelwegs nicht gerade optimistisch stimmt. Es erklärt sich daher gegen Ende auch, weshalb Švankmajer gegen die "Kombination der schlimmsten Schattenseiten beider Systeme[, gegen] [...] jenes Irrenhaus, in dem wir heute leben" wettert. "Sílení" endet nach der Ankündigung der Bestrafung Jeans mit einer letzten stop motion-Episode: in der Fleischwarenabteilung eines Supermarktes pulsiert ein abgepacktes Steak unter der Frischhaltefolie. Zuvor ließ Švankmajer in den vielen, zu Spieluhrenmusik ablaufenden stop motion-Einschüben Fleischbrocken, Zungen, Hirne und Augen das Geschehen kommentieren: Zungen schlabbern in Biergläsern, als Jean und der Marquis zu Beginn im Wirtshaus speisen; gierige Zungen dringen rotierend aus den Augenhöhlen, Brustwarzen und dem Mund einer Büste, als der Marquis seine triebgesteuerte Moral erläutert; Knochen werden zerhämmert, als der Marquis scheinbar verstirbt; Hirne, Zungen und Augen kriechen in leere Kalbsschädel, als sich die Wiederauferstehung des Marquis ankündigt; Fleisch flattert eingezwängt im Vogelkäfig umher, als Jean sich im Sanatorium verliert; Fleisch bricht durch die Glasscheiben wissenschaftlicher Schaukästen, als sich Protest in Jean regt; Zungen kopulieren in Hündchenstellung, als Jean und Charlotta sich näherkommen; allerlei Fleisch und Gedärm wird durch den Fleischwolf gedreht, als das eingesperrte Personal befreit wird und die einjährige Revolte niederschlägt... Und am Ende steht dann ein sicher nicht zufällig auf Konsum & Kapitalismus weisendes Bild des Supermarktes, in welchem genormt verpacktes, etikettiertes und registriertes Fleisch als Ware existiert, vorsichtig pulsierend, den verpackungsmäßig zugestatteten Raum akzeptierend und den Regeln des Marktes folgend. Statt gewalttätiger Anarchie, gewaltsamer, revolutionärer Umwälzungen und repressiver Diktaturen steht am Ende ein Regime vermeintlich freier Möglichkeiten, in welchem Zwänge & Freiheiten vor allem von Geld & Nachfrage bestimmt werden: "having experienced Nazism, Stalinism and unfettered capitalism, Švankmajer, like all true surrealists, regards them as equally oppressive"[2], folgert etwa Michael Brooke. (Und man sollte sich hier in Erinnerung rufen, dass mehrere regimekritische Ostblock-Regisseure nach Ende der Sowjetunion häufig beklagten, dass man in dieser mit etwas Geschick immerhin noch kritische, eigenwillige Filme habe drehen können - auch wenn diese dann zum Teil der Zensur zum Opfer gefallen sind -, während die Gesetze des Marktes später manche Produktionen gleich von vornherein am Entstehen hinderten, um diese pessimistische Haltung zum Kapitalismus besser nachvollziehen zu können... (Und wer weiß schon, weshalb Švankmajer Anfang der 90er Jahre vollends mit dem masseninkompatiblen Kurzfilm gebrochen hat? Künstlerische Neuorientierung? Neue Möglichkeiten? Ökonomischer Zwang?))
Reizvoll beackert Švankmajer in "Sílení" verschiedene interessante Felder, tippt auf vielerlei altbekannte Fragen, fordert & fördert Reflexion & Positionierung des Publikums und macht immerhin Lust, sich einmal wieder der zitierten oder zumindest erahnbaren Vorbilder anzunehmen. Auch wenn stop motion-Effekte hier ausgesprochen selten auftreten und beinahe bloß die eingeschobenen Sequenzen belebten, agierenden Fleisches begleiten, ist "Sílení" in seiner Reichhaltigkeit sicherlich einer der komplexesten, unterhaltsamsten, besten Filme Švankmajers - thematisch zudem ein geradezu quintessentielles Werk über freie Phantasie und Körperlichkeit, über das Wechselspiel von Körper und Geist, über Freiheit: "The film Lunacy [...] is mainly about freedom. It seems to me that the way civilization is evolving, the theme of freedom is becoming the only theme for which it still makes sense to sit down and create art. Though, I prefer the word "freeing" to the word "freedom" because it is a never-ending process. [] We have to bear in mind that man is not only determined by genes, stars, childhood, relations, and instilled morals, but also by his indolence and anger and, of course, by the political and cultural state of civilization. Thus, it is impossible to decide: From now on I am free. It requires intensive work. It is a difficult process. It is a journey (like everything that is worth something), at the end of which Absolute Freedom shines like a morning star. But you know that you will never reach the end, neither must you, because it would mean a lack of freedom for others. Despite that, you must not abandon your goal."[3]
Wer ausschließlich auf stop motion aus ist, wird indes mit "Spiklenci slasti" & "Prezít svuj zivot (teorie a praxe)" (2010) etwas besser bedient... alle übrigen Švankmajer-Liebhaber kommen um "Sílení" hingegen kaum herum. (Zumal die Hauptdarsteller Pavel Liska [Jean], Anna Geislerová [Charlotta] und Jan Tríska [Marquis] - dessen Gesicht einem auch in diversen US-Filmen begegnet - keinesfalls weniger Schauwerte bieten als es die stop motion-Effekte tun: Gerade Tríska brennt sich mit seinem irrsinnig-infernalischen Gelächter & seinem ausdrucksstarken Grimassieren noch tagelang in das Hirn des Publikums ein. Und auch Martin Hubas kürzerer, aber kraftvoller Auftritt als fanatischer Dr. Coulmiere dürfte noch eine ganze Weile nachhallen...)
8/10
1.) Zitiert nach den Untertiteln der new wave films-DVD.
2.) Michael Brooke: Taking over the asylum. http://old.bfi.org.uk/sightandsound/review/3926
3.) Jan Švankmajer im Interview mit Eoin Koepfinger. http://www.sampsoniaway.org/blog/2012/06/05/freedom-is-becoming-the-only-theme-an-interview-with-jan-svankmajer/