„Ich weiß nicht mehr, was ich sehe und was ich nicht sehe!“
„Nackt über Leichen“, „A Lizard in a Woman’s Skin“ und „Don’t Torture a Duckling“ waren drei Gialli, die der später vor allem mit seinen blutigen Horrorfilmen Berühmtheit erlangt habende – und gleichsam in Verruf geratene – italienische Regisseur Lucio Fulci im Zeitraum 1969 bis 1972 realisierte. Fünf Jahre vergingen, bevor er 1977 das Genre erneut aufgriff und den von Edgar Allan Poe inspirierten Mystery-Giallo „The Psychic“ nach Drehbuch Dardano Sacchettis unter Mitwirkung Roberto Gianvitis und Fulcis persönlich drehte. Erst 2014 kam der Film zu seiner deutschen Auswertung (und damit Synchronisation) und bekam seinen deutschen Titel spendiert.
Die hellsichtige gebürtige Britin Virginia (Jennifer O’Neill, „Scanners“) ist seit kurzem mit dem vermögenden Italiener Francesco Ducci (Gianni Garko, „Sartana“) verheiratet, den sie am Florentiner Flughafen zu einer Geschäftsreise verabschiedet. Auf dem Rückweg über eine einsame Landstraße durch mehrere Tunnel entlang bekommt sie unvermittelt mysteriöse wie schreckliche Visionen, die auf einen Mord durch Einmauern im Landhaus ihres Gatten schließen lassen. Sie tauscht sich mit einem Freund, dem Parapsychologen Luca (Marc Porel, „Don’t Torture a Duckling“), darüber aus und lässt sich schließlich durch Francescos restaurationsbedürftiges, offenbar lange ungenutztes Landhaus führen – das sie eindeutig als das aus ihrer Vision identifiziert. Sie reißt besagte Wand auf und findet tatsächlich skelettierte menschliche Überreste. Die eingeschaltete Polizei identifiziert diese als die eines vor fünf Jahren verschwundenen Mädchens, einer ehemaligen Liebhaberin Francescos – doch das Opfer aus Virginias Vision war älter. Nach der Verhaftung ihres Mannes glaubt sie weiterhin an dessen Unschuld und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, um diese zu beweisen – und ist einem tödlichen Geheimnis auf der Spur, das auch sie in Lebensgefahr bringt…
„Ich hatte schon 51 Liebhaber – und habe nicht einen davon umgebracht!“
Mit einem Klippensturz ähnlich dem, der bereits in „Don’t Torture a Duckling“ eine Rolle spielte, eröffnet Fulci sogleich auf schockierende Weise, denn die Kamera fängt ein, wie die Selbstmörderin an den Felsen anstößt und ihr Gesicht zerfetzt wird (wenngleich deutlich zu erkennen ist, dass es sich um eine Puppe handelt). Es handelte sich um die Mutter der kleinen Virginia, die, obwohl sie sich gerade in einer ganz anderen Stadt befand, dies in Form einer Vision mitansehen musste. Bei diesem Prolog handelte es sich um eine Rückblende, die eigentliche Handlung setzt nach dem Vorspann mit seiner wundervollen Titelmelodie 18 Jahre später in der Gegenwart ein und zeigt Virginia als erwachsene, attraktive Frau.
Ich hoffe, ich verrate nicht zu viel, wenn ich auf den Clou des Films hinweise, aus dem sich das faszinierende, einnehmende Puzzle ergibt: Die bedauernswerte Virginia weiß nicht, dass noch längst nicht alles ihrer Vision bereits eingetreten ist, im Gegenteil: Durch ihre Nachforschungen verursacht sie diese Ereignisse erst, was wiederum interessante Fragen nach der Unabänderlichkeit persönlichen Schicksals aufwirft. Aber auch ohne so weit zu gehen zu wollen, überzeugt „The Psychic“ als ruhig erzählter, dennoch etwas dialoglastiger Giallo, der in unbehaglicher Atmosphäre ein spannendes Whodunit? inszeniert, das die einzelnen Mosaikscherben aus Virginias Vision nach und nach in der Realität zusammensetzt – ohne dabei in klassischen Krimiaufbau zu verfallen. Stattdessen gibt es der Giallo-Charakteristika viele, auch ohne, dass schwarze Handschuhe das Messer wetzen: Eine Ausländerin folgt ihren Visionen (womit Fulci und seine Autoren einen Schritt weiter gehen als Argento & Co.: aus Erinnerungen wird zeitlich nicht verortbares Hellsehen), ermittelt auf eigene Faust und gerät selbst in Gefahr – angesiedelt in der Welt der Privilegierten. Sleazig oder blutig ist „The Psychic“ indes kaum, vom harschen Prolog einmal abgesehen.
Hinzu kommt ein illustrer Kreis Personen, die sich verdächtig machen. Der Zuschauer kann sich überhaupt nicht sicher sein, dass Francesco unschuldig ist und mag Virginia in dieser Hinsicht gar für naiv halten: Der redselige Mann, der sie durch das Landhaus führt, suggeriert beispielsweise, Francesco sei ein regelrechter Weiberheld – zumindest gewesen. Sie sieht eine ältere Frau durchs Fenster, ihre Schwester (Ida Galli, „Blutspur im Park“) taucht plötzlich auf, eine mysteriöse Anruferin mischt sich ein und der Taxifahrer der Toten wird ausfindig gemacht, der sich zu erinnern versucht. Virginia verdächtigt derweil einen gewissen Rospini (Gabriele Ferzetti, „Das Geständnis“) ... Der Erzählfluss wird bisweilen extrem gedrosselt, um Spannungs- und Suspense-Szenen voll auszukosten, die Nägelknabbern provozieren.
In Zusammenarbeit mit Sergio Salvati vollführt Fulci eine tolle, künstlerisch ambitionierte Kameraarbeit und phantastische, kontrastreiche Bildsprache mit ausdrucksstarker Farbgestaltung. Als Beispiel sei das Spiel mit Licht und Dunkelheit während Virginias schicksalhafter Autofahrt durch die Tunnel genannt, das sich in Francescos Landhaus fortsetzt, als ein Vorhang nach dem anderen aufgerissen wird. Zooms en masse besorgen den Rest und fühlen sich an, als würden sie die physikalische Distanz zu den emotional hingegen sehr distanzierten Charakteren aufzuheben versuchen. Das Trio Frizzi, Tempera und Bixio unterstreicht das Visuelle auf wunderbar stimmige Weise musikalisch und trägt entscheidend zur morbiden Atmosphäre des Films bei, in dem eine kleine, in diesem Kontext unheimlich klingende Melodie eine gewichtige Rolle spielt.
Der überraschend früh einsetzende Abspann enthält dem Zuschauer die erwarteten allerletzten Bilder vor, was zunächst etwas ungalant wirken mag. Unaufgelöst bleibt „The Psychic“, der ein sehr schönes Beispiel der italienischen Faszination für Poes „Die schwarze Katze“ darstellt, dadurch zwar nicht, trotzdem mag man sich um zumindest ein paar Sekunden betrogen fühlen. Hier und da ist der Film vielleicht etwas geschwätzig, um dann wieder die Bremse eine Idee zu stark durchzutreten und ein wenig Potential der Handlung bleibt leider ungenutzt; so hätte ich mir gewünscht, dass noch einmal auf den Suizid Virginias Mutter eingegangen würde. Davon einmal abgesehen ist „The Psychic“ aber ein recht edel wirkender Mystery-Giallo der Oberklasse, der zudem interessanterweise den Übergang Fulcis hin zu harten Horrorthemen markiert, die er mit einem an den entscheidenden Positionen identisch besetzten Team realisierte. Weniger als aufgrund der starken Genrekonkurrenz 7,5 von 10 musikalischen Uhren kann ich daher keinesfalls aufziehen.