Review

Gillo Pontecorvo blieb sein Leben lang ein Dokumentarfilmer, der neben wenigen Kurzfilmen (unter anderem als Regieassistent bei "Storia di Catarina", einer Episode aus "L'amore in città" (1953)) nur fünf Langfilme drehte. Auch diese sind von seinem sehr genauen, dokumentarischen Stil geprägt, von denen sich "Kapò" (1960) und "Quiemada" (1969) zwar historischen, aber politisch nach wie vor relevanten Themen widmeten. Diese Relevanz gilt bis in die Gegenwart besonders für "La battaglia di Algeri" (Die Schlacht um Algier), in dem Pontecorvo 1966 den erst wenige Jahre zuvor beendeten Algerienkrieg so realistisch aufarbeitete, das der Film in Frankreich und England bis 1971 verboten wurde.

Im Gegensatz dazu, ist sein letzter Langfilm "Ogro", der erst 10 Jahre nach "Quiemada" entstand, nahezu in Vergessenheit geraten, obwohl die 1973 durchgeführte "Operation Ogro", die Pontecorvo detailgenau in seinem Film schildert, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten erst fünf Jahre zurücklag und sich bis heute nur wenige Filme der späten Phase der "Franco-Diktatur" in Spanien widmeten. Als "Ogro" am Originalschauplatz des Attentates in Madrid entstand, lag das Ende der Diktatur kaum mehr als zwei Jahre zurück. Welche Gründe hat es, das der Film heute - trotz seiner unbestrittenen inszenatorischen und inhaltlichen Qualitäten - nicht eine ähnliche Wertschätzung erfährt, wie "La battaglia di Algeri"?


Das Attentat:

Schon die Thematik selbst scheint eine Antwort darauf zu geben, denn ein erfolgreiches Attentat, bei dem mehrere Menschen starben, ohne das die Täter gefasst wurden, in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen, ist in dieser Gestaltung einmalig. Im Gegensatz etwa zu dem 1986 entstandenen "Il caso Moro" (Die Affäre Moro) galt Pontecorvos Konzentration nicht dem Opfer, sondern den Tätern, die für die baskische Befreiungsorganisation ETA aktiv waren.

Bei Luis Carrero Blanco (Agapito Romo) , genannt "Ogro" (zu deutsch "Unhold"), der entführt werden sollte, handelte es sich um keinen Geringeren als den engsten Vertrauten von General Franco, dem bei der Verfolgung und Behandlung der politischen Gefangenen während der Diktatur, eine führende Rolle zukam. Pontecorvo schildert das Vorgehen der vier baskischen Männer um ihren Anführer Izarra (Gian Maria Volonté) im Stil eines Heist-Films. Monatelang beobachten sie Blancos täglichen Besuch der Morgenmesse, verfolgen genau die Anzahl und Einsatzzeiten der Leibwächter bis zur minutiösen Ausarbeitung des Fluchtweges und Vorbereitung des Verstecks - immer unter der Gefahr, von der Polizei entdeckt zu werden.

Diesen Handlungsverlauf steigert Pontecorvo noch, als der greise 80jährige General Franco, Luis Carrero Blanco als seinen Nachfolger als Regierungschef einsetzt, weshalb sich dessen Bewachungs - Status verändert. Eine Entführung ist unter diesen Umständen unmöglich. Die ETA beschließt deshalb ein Bomben - Attentat auf ihn. Zur Umsetzung mieten die Männer eine benachbarte Kellerwohnung, von der sie aus eine Höhle unter der Straße graben wollen, um den Sprengstoff unter dem Fahrweg zu platzieren. In seiner Anlage, im psychischen Zusammenspiel der Protagonisten und in der ständigen Furcht vor Entdeckung, erinnert der Film an Klassiker des Bankraubs oder des Ausbruchs aus einem Gefängnis, aber hier liegt die Motivation darin, einen Menschen zu ermorden.

Pontecorvo bleibt sehr sachlich, fast dokumentarisch in seinem Stil und verzichtet auf jede emotionale Schürung. Er zeigt Menschen bei einer Arbeit, die sie für zwingend notwendig halten, denen als Identifikationsfiguren allerdings eindeutig seine Sympathien gehören, weshalb es außer Frage steht, das der Regisseur, der neben Ugo Pirro auch am Drehbuch nach der Originalvorlage von Julen Aguirre mitwirkte, dieses Attentat auf einen führenden Vertreter eines unmenschlichen, seit Jahrzehnten regierenden Regimes, für gerechtfertigt hielt. Tatsächlich wird dem in seiner brutalen Konsequenz einmaligen Anschlag auf einen europäischen Regierungschef - das gepanzerte Fahrzeug des Ministerpräsidenten wurde mehr als 30 Meter hoch in die Luft geschleudert – inzwischen eine entscheidende Rolle beim Ende der Diktatur zugewiesen, auch wenn Franco danach zuerst die Repressalien gegen jeden Widerstand erhöhte.


Die Täter:

Welchen Charakter Pontecorvo den Tätern zuweist, wird in einer kurzen Episode, noch während der Vorbereitung auf die geplante Entführung, deutlich. Txabi (Eusebio Poncela), Izarras Freund und seit Kindheit im Kampf mit ihm vereint, wird zufällig Zeuge eines Streikaufrufes an noch verbliebene Arbeiter auf einer Baustelle. Als die Polizei plötzlich vorfährt und mit Knüppeln auf die vier Männer einschlägt, kommt er Einem von ihnen zu Hilfe und nimmt ihn in seinem Auto mit. Nachdem er ihn an einer Straßen in Madrid aussteigen ließ, folgt er ihm unbemerkt und bekommt eine geheime Versammlung mit, in der die Beteiligten abstimmen, weiter politisch gegen den Staat zu kämpfen.

Pontecorvo stellt den Arbeitskampf und das Attentat als Mittel im Kampf gegen eine diktatorische Staatsführung nebeneinander, macht die Solidarität der Menschen im gemeinsamen Widerstand deutlich (als der Maurer später von Txabi erfährt, wen sie entführen wollen, hilft er ihnen, den Schallschutz des geplanten Verstecks zu verbessern), aber er scheut sich nicht vor der Diskussion um die Legitimität des Einsatzes von Gewalt. Immer wieder ist aus den Worten der Beteiligten heraus zu hören, dass sich ein Großteil der Bevölkerung an die Zustände nach beinahe 40 Jahren Diktatur gewöhnt hatte und ihren Maßnahmen kritisch gegenüber steht. Damit greift Pontecorvo das klassische Motiv auf, dass der Widerstand im eigenen Land als Terrorismus angesehen wurde (siehe auch „Il terrorista“ (1963) über den Widerstand in Italien während der Mussolini – Diktatur, ebenfalls mit Gian Maria Volonté) und in der Regel erst nach dem Ende eines restriktiven Systems neu bewertet wurde.

Diese Betrachtung nutzt auch „Ogro“, denn das Geschehen um das Attentat wird im Rückblick erzählt, aus dem Blickwinkel des Jahres 1978. Der Film beginnt mit dokumentarischen Bildern des Endes der Franco-Zeit und eines Landes auf dem Weg zu Demokratie – ein Weg, der auch die ETA veränderte und in einen militärischen und politischen Arm spalten sollte. In der ersten Szene treffen Txabi und seine Frau Amauir (Ángela Molina) in einem Geheimversteck in Bilbao aufeinander. Offensichtlich hatten sie schon längere Zeit keinen Kontakt mehr und aus den Worten Amauirs ist herauszuhören, dass auch der Kontakt zu Izarra von Txabi abgebrochen wurde.

In einer Rückblende zeigt „Ogro“ wie sie schon als Jesuiten-Schüler in der 1959 gegründeten ETA vereint waren, um gegen das Franco-Regime, das besonders im Baskenland und Katalonien gnadenlos durchgriff, zu kämpfen. Seit dieser Zeit waren Txabi, Izarra und ihre Freunde Iker (José Sacristán) und Luque (Saverio Marconi) immer zusammen geblieben, bis zur gemeinsam ausgeführten „Operation Ogro“. Doch während seine ehemaligen Mitstreiter inzwischen einen politischen Weg auf dem Weg zur Unabhängigkeit des Baskenlandes im demokratischen Spanien gehen wollen, glaubt Txavi nach wie vor nur an den bewaffneten Kampf.




„Ogro“ verlangt vom Betrachter das Einfühlen in eine emotionale Komplexität, die zwiespältige Gefühle hervor ruft. Auf der einen Seite erzeugt der Film eine Identifikation mit den Männern und Frauen der ETA, forciert große Spannung und dokumentiert sehr genau die Atmosphäre eines faschistisch regierten Staates und dessen rigoroses Rechtssystem. Durch die kurz nach dem Ende der Diktatur in Madrid begonnenen Dreharbeiten und die Besetzung größtenteils spanischer Darsteller bleibt der Film sehr authentisch. Gleichzeitig rechtfertigt Pontecorvo keineswegs Gewalt als einziges Mittel im Widerstand, sondern gibt auch dem gewaltfreien, politisch motivierten Widerstand argumentativen Raum. Eine Lösung bietet er nicht an, macht aber deutlich, dass nach dem Ende der Diktatur, Gewalt aus seiner Sicht nicht mehr gerechtfertigt ist.

Txabi stirbt am Ende, nach einem Attentat auf einen Polizisten, während seine Frau und seine Freunde trauernd um sein Bett stehen – sie wollen weiter für ein unabhängiges Baskenland kämpfen, aber nicht mehr mit Gewalt. Dieses letzte Bild lässt deutlich werden, warum „Ogro“ zu unrecht in Vergessenheit geraten ist. Der sympathisierende Blick auf die ETA wirkt aus heutiger Sicht naiv, zu positiv hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung, aber Pontecorvos Ansicht wird aus dem Zeitkontext heraus verständlich. Während der Franco-Diktatur wurde die ETA als Teil des allgemeinen Widerstands angesehen, weshalb Frankreich ihren Mitgliedern noch bis Mitte der 80er Jahre Asyl gab. Auch die Bewertung des Bombenanschlags ist außerhalb Spaniens schwer einzuordnen, da – im Gegensatz etwa zu Graf von Stauffenbergs Attentat auf Adolf Hitler - kaum Kenntnisse über die Rolle Luis Carrera Blancos vorhanden sind. Trotz mehr als einer Million politischer Gefangener hat die Aufarbeitung dieser Zeit in Spanien erst vor wenigen Jahren begonnen, nachdem der Übergang zur Demokratie, nach dem Tod Francos 1975, friedlich vonstatten gegangen war.

Über den weiteren Weg der ETA, auch das der militärische Zweig bald begann, ihre eigenen Mitglieder zu ermorden, die friedlich für die Unabhängigkeit des Baskenlandes kämpfen wollten, muss man heute Niemanden mehr aufklären, weshalb „Ogro“ in dieser Hinsicht kaum einen falschen Eindruck hinterlassen wird. Im Gegenteil gewinnt Pontecorvos Film aus dieser Entwicklung noch hinzu in der Beschreibung einer Situation, die nie eindeutig bewertet werden kann. Der Grat für die Widerstandkämpfer bleibt immer schmal in ihrer Entscheidung zwischen Anpassung und Auflehnung, der Wahl der Mittel und dem späteren Urteil als Held oder Terrorist – ähnlich genau und nachvollziehbar haben das nur wenige Filme vermitteln können (9,5/10).

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