Ein Mann erwacht ohne Erinnerungen aus einer Ohnmacht und findet sich in dem knappen Freiraum zwischen zwei Beton-Wänden wieder, der ihm kaum genügend Platz zum Bewegen lässt. Weder weiß er wie es ihn dorthin verschlagen noch wie er sich die blutende Wunde am Bauch zugezogen hat. Aufgrund seiner aussichtslosen Lage gerät der Mann in Panik und verliert erneut das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kommt, ist sein Kopf zwischen der Wand und einem Metallrohr eingeklemmt. Um sich seitlich fortbewegen zu können, ist er gezwungen, mit den Zähnen an dem Rohr entlang zu schleifen, während er auf Zehenspitzen über am Boden liegende Glassplitter balancieren muss. In einem engen Schacht stößt er inmitten einiger verstümmelter Leichen auf eine Frau, die ebenfalls keine Ahnung hat, warum oder von wem sie an diesen Ort verschleppt wurde. Die beiden beschließen, sich zusammenzutun, um gemeinsam einen Weg zu finden, dieser Hölle zu entkommen. Doch gibt es überhaupt einen Ausgang…? Selten habe ich einen Film gesehen, der beim Betrachter ein derart körperlich spürbares Gefühl des Unwohlseins hervorruft, wie es bei Shinya Tsukamotos "Haze" der Fall ist. Der exzentrische japanische Filmemacher ist nämlich mal wieder in die Vollen gegangen und hat es gepackt, mit diesem 49minütigen Kurzfilm zu seinen experimentellen Wurzeln und damit auch zu der visuellen Wucht eines "Tetsuo - The Iron Man" zurückzukehren, ohne sich dabei irgendwie dem Vorwurf inhaltlicher Redundanz auszusetzen. Die schwarzweiße Optik ist passé, ebenso die freakigen Mensch-Maschinen-Mutationen seines frühen Underground-Klassikers, und trotzdem hat er erneut einen Streifen abgeliefert, der sich formal und thematisch bestens in sein bisheriges Œuvre einfügt. Auf den ersten Blick scheint sich das Ganze dabei recht klar als "Cube"-Variante identifizieren zu lassen, aber es dauert nicht lange, bis man diesen Gedanken wieder verwirft, denn "Haze" ist in jeder Beziehung noch wesentlich reduzierter, als es Vincenzo Natalis überschätzter Science-Fiction-Streifen eh schon war… und entpuppt sich ironischerweise gerade dadurch als genau der Film, der jener eigentlich hätte sein sollen. Alles ist hier bis auf die minimale Notwendigkeit komprimiert, nicht nur die Laufzeit: Statt eines Schauspieler-Ensembles gibt es hier nur zwei Darsteller, statt eines einzigen Sets, das man je nach Bedarf unterschiedlich einfärben und dadurch ein Mehr an Kulissen vorgaukeln konnte, zwängt man sich hier durch an visueller Einfachheit nicht mehr zu überbietende Spalten zwischen grauen Beton-Wänden. Statt auf Zelluloid wurde auf HD-Video gedreht. No Budget statt Low Budget. Und so etwas wie einen Plot hat man sich gleich zur Gänze gespart. Den braucht es auch nicht, um den Zuschauer zu packen, denn bereits von der allerersten Sekunde an erzeugt "Haze" ein bis dato nicht gekanntes Gefühl der Beklemmung, das durch den Umstand, dass die Kamera immer hautnah am Protagonisten bleibt und weder er selbst noch wir eine Ahnung haben, wodurch er in diese unangenehme Lage versetzt wurde, noch ins Unermessliche verstärkt wird. Verfilmte Klaustrophobie, die mit der ungebremsten, harten Wucht der Bilder auf einen niederprasselt. Dazu wie üblich eine ausgeklügelte Tonspur, die einem durch Mark und Bein geht. Bei dem Geräusch von Zähnen, die über ein Metallrohr schaben, zieht sich einem in der Bauchgegend alles zusammen. Ansatzpunkte zur Interpretation des Gezeigten liefert zunächst einmal ein Blick auf Tsukamotos bisheriges Schaffenswerk mit seinen wiederkehrenden Leitmotiven: Oberflächlich betrachtet ist "Haze" eine urbane Vision puren Horrors und der Handlungs-Ort die ins Alptraumhafte übersteigerte Version einer Großstadt. Beton, der einem den Raum zum Leben nimmt, die Bewegungsfreiheit über das Maß des maximal Erträglichen hinaus einengt und gerade noch genügend Platz zum Existieren lässt. Assoziative Bild- und Sound-Collagen, Wasser, Fische. Trugbilder? Herumliegende Teile von zerfetzten Leichen, durch die man sich wühlen muss, um den (eventuell nicht vorhandenen?) Ausgang zu erreichen, der nicht mal in weiter Ferne erahnbar scheint. Fragen werden gestellt, ohne darauf passende Antworten zu erhalten. Dafür hat Tsukamoto allerdings einen Lösungs-Vorschlag für die diffuse Problematik parat, wie auch immer sie lauten mag: Alleine ist der Mensch verloren, die Rettung verspricht, wenn überhaupt, nur das Miteinander. Oder doch nicht? Die finale Auflösung verweigert sich einer brauchbaren Erklärung, aus welchen Gründen es den Protagonisten nun in das Beton-Grab verschlagen hat, jeder Zuschauer soll (muss!) aus dem gerade Gesehenen seine eigenen Schlüsse ziehen. Zweifellos gehört "Haze" zu der Sorte Film, die weniger bewusst verstanden als intuitiv begriffen werden muss, und die sich zudem einer klaren Einordnung innerhalb gängiger Genre-Kontexte strikt verweigert. Vielleicht liefert ja ein Blick auf den Titel mit seinen unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes einen hilfreichen Hinweis darauf, wie das Ganze nun zu entschlüsseln ist? Auch kann nur darüber spekuliert werden, welche eigenen Dämonen Shinya Tsukamoto (der laut eigener Aussage übrigens selbst unter Platzangst leidet!) dadurch exorziert hat, dass er sich als Darsteller durch die engen und teilweise unter Wasser stehenden Kulissen zwängt. Das kann nicht angenehm gewesen sein… Leiden für die Kunst. Beim Ausmalen seines Horror-Szenarios geht der Regisseur wieder mal wenig zimperlich vor und "schindet" sein Publikum ebenso wie sich selbst. Der Obsession von geschundenen, verstümmelten oder sonst wie aufgelösten Körpern, die sich ähnlich den Werken David Cronenbergs seit "Tetsuo - The Iron Man" durch Tsukamotos Arbeiten zieht, wird in Form einiger übler Body-Props kräftig Zucker gegeben, allerdings verblassen diese gorigen Momente gegenüber der allgemeinen bedrückenden Stimmungs-Beschreibung, die wesentlich schlimmer ist als jeder vordergründige Splatter-Effekt. Anders gesagt: Wenn es Leute gibt, die sich den Film nicht ansehen können, dann nicht wegen dem bisschen Kunstblut. Wer schon Atemnot kriegt, wenn er in einen Aufzug steigen muss, der fällt hier unter Garantie in Ohnmacht. Zu keiner Zeit erscheint einem das simple Setting als etwas anderes, als schlichtweg der furchtbarste, schrecklichste Ort, den man sich überhaupt vorstellen kann. Dagegen sieht der "Cube" aus wie das Ritz. "Haze" geht zwar von der Laufzeit her nur halb so lange wie ein herkömmlicher Spielfilm, ist dafür aber (mindestens) doppelt so einprägsam. So gesehen ein Bruder im Geiste zu den Shortmovie-Meisterwerken "Aftermath" und "Roadkill: The Last Days of John Martin". Eins ist mal klar: Shinya Tsukamoto macht immer noch Filme, die nachwirken. Und dafür braucht er keine 90 Minuten. Da muss man durch… wortwörtlich. Der deutsche Anbieter Rapid Eye Movies hat den Streifen als lohnenswerte Stand-Alone-DVD veröffentlicht und ein doch noch ganz wertiges Paket an Extra-Material dazugepackt, das den Leuten, die nicht gerne den vollen Preis für einen Kurzfilm löhnen, die Kauf-Entscheidung eventuell ein wenig leichter macht. Neben netten Interviews, Trailern und so ’nem Krimskrams befindet sich außerdem noch ein 25minütiges Making Of mit auf der Scheibe, das wirklich eine Wucht ist und Tsukamoto als sympathischen Typ präsentiert, der beim Kulissen-Bau mit anpackt und ihn beim Tapeten-Kleistern und Bemalen von falschen Beton-Wänden zeigt. Kaum zu glauben, dass die auf kleinstem Raum aus Sperrholz zusammengebastelten, eher lächerlichen Sets im Film rüberkommen wie der siebte Kreis der Hölle. Was das Team da mit Materialien, die man für einen Appel und'n Ei in jedem Baumarkt kaufen kann, und ein paar lumpigen Handscheinwerfern erreicht hat, würde ein x-beliebiger Hollywood-Streifen mit einem Multi-Millionen-Dollar-Budget nicht zustande bringen. Movie-Magic.
10/10