Ein großer Teil der in den 50er Jahren in Deutschland herausgekommenen Filme waren Remakes früher Tonfilme, häufig stammten die ersten Kinofassungen populärer Literatur noch aus der Stummfilmzeit. Auch "Studentin Helene Willfüer", basierend auf dem 1928 erschienenen Roman "Stud. chem. Helene Willfüer" von Vicki Baum, führt unmittelbar zurück in die Zeit der Weimarer Republik, erlebte 1930 am Ende der Stummfilm-Ära eine erste Verfilmung mit Olga Tschechowa in der Hauptrolle, und steht doch exemplarisch für das Frauenbild der 50er Jahre, das sich in den drei Jahrzehnten zuvor nur wenig gewandelt hatte. Autorin Vicki Baum, von deren Romanen heute nur noch "Menschen im Hotel" (verfilmt USA 1932 und Deutschland 1960) über einen gemäßigten Bekanntheitsgrad verfügt, verdankte "Stud. chem. Helene Willfüer" ihren Aufstieg zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Ihr blieb die Anerkennung der seriösen Literaturkritik zwar verwehrt, aber ihre der Unterhaltungsliteratur zugeordneten Bücher gestatten heute noch einen authentischen Blick in den damaligen Zeitgeist.
"Stud. chem. Helene Willfüer" entstand in der Phase einer "neuen Sachlichkeit" nach dem 1.Weltkrieg und zeichnete das Bild einer selbstständigen Frau, die Wert auf ein modernes, an pragmatischen Gesichtspunkten orientiertes attraktives Äußeres legte und trotz eines unehelichen Kindes ihr Studium zu Ende führte, um einem Beruf nachzugehen. Damit berührte Vicki Baum zwar Tabus, bewies aber Gespür für eine Gesellschaft im Wandel - ein Grund für ihren Erfolg, neben ihrem Geschick auch konservative Gemüter mit einem Ende zu befriedigen, das den Status quo wieder herstellte. Diese unentschiedene Haltung wurde ihr zwar vorgeworfen, lässt aber übersehen, wie sehr allein schon die Schilderung einer versuchten Abtreibung provozierte. Nicht nur in den 20er Jahren, auch der Drehbuch-Fassung zu Rudolf Jugerts Film ist dieser Kompromiss anzumerken, denn Mitte der 50er Jahre galten die in "Stud. chem. Helene Willfüer" publikumswirksam ausgebreiteten Lebensumstände einer jungen Studentin keineswegs als opportun. Im Gegenteil hatte die Zeit des Nationalsozialismus die vorsichtige Emanzipationsbewegung der 20er Jahre wieder zurückgeworfen.
„Die ist richtig – mit dem Einen kommt sie, mit dem Anderen geht sie“
Mit dieser wenig anerkennend gemeinten Aussage stand die Konzertbesucherin sicherlich nicht allein. Helene Willfüer (Ruth Niehaus) war in Begleitung ihres Doktor-Vaters Professor Matthias (Hans Söhnker) zum Konzert-Saal gekommen, um diesen gemeinsam mit dem Arzt Dr. Rainer (Erik Schumann), der zuvor als Dirigent das Konzert gegeben hatte, wieder zu verlassen. Eine Frau riskierte schnell ihren „guten Ruf“, doch Ruth Niehaus erwies sich als Idealbesetzung zwischen größtmöglicher Ernsthaftigkeit und einem frei bestimmten Leben. Wie schon in ihrer ersten Hauptrolle im Heimatfilm „Rosen blühen auf dem Heidegrab“ (1952) blieb ihre Sexualität hinter ihrem so schönen, wie züchtigen Äußeren nur unterschwellig spürbar und wirkte sie im Umgang mit den beiden Männern nie berechnend. Diese Position nahm Elma Karlowa als Yvonne Matthias ein, die Ehefrau des Professors, die ihn nicht nur mit Dr.Rainer betrügt, sondern alles unternimmt, um die Nebenbuhlerin Helene Willfüer auszuschalten. Karlowa, die schon in „Rosenmontag“ (1955) an der Seite von Ruth Niehaus spielte, gab hier den weiblichen Antipoden und schuf damit erst den Freiraum für Willfüers den damaligen Regeln widersprechendes Verhalten.
Es ist Jugert und seinem Drehbuchautoren Frederick Kohner hoch anzurechnen, dass sie diese negativ besetzte Figur nicht vollständig demontierten, sondern in ihrer Emotionalität menschlich nachvollziehbar werden ließen. Es bleibt der Moment in Erinnerung, in dem sie ihre Einsamkeit an der Seite eines Ehemanns ausdrückt, für den sie ihre Karriere als Musikerin aufgab, der seine Zeit aber am liebsten im Forschungslabor verbringt. Hans Söhnker, in den 50er Jahren prädestiniert für die Rolle des älteren Liebhabers („Männer im gefährlichen Alter“ (1953)), kann hier nur schwerlich vermitteln, wie es zu der Verbindung zu der sehr emotionalen Musikerin gekommen war. An Karlowas Seite wirkt er als Forscher seltsam passiv, fast schon hilflos gegenüber dem exaltierten Verhalten seiner Ehefrau. Wirklich konsequent ist er nur gegenüber Helene Willfüer, die er nicht nur sofort als Assistentin zu sich ins Labor holt, sondern niemals Zweifel an ihr äußert – weder als sie wegen Mordverdachts verhaftet wird, noch als sie ein uneheliches Kind bekommt.
Diese Idealisierung eines gereiften, hoch angesehenen Mannes, dessen Haltung außerhalb der vorherrschenden Meinung stand, hatte schon in Baums Roman die Funktion, eine größere Akzeptanz beim Leser für die Protagonistin zu erzeugen – und sorgte letztlich auch für deren Legitimation. Jugert deutete dieses Ende im Gegensatz zu Vicki Baum nur an, aber er blieb der Romanvorlage in ihrem unterhaltenden Charakter treu. Besonders Harald Juhnke als Kommilitone Meier und Ina Peters als quirlige Mitbewohnerin nehmen der Handlung viel von ihrer Ernsthaftigkeit. Wenn Juhnke sich den Säugling packt, um ihn mit modernen Methoden zu windeln, hat der Zuschauer schon fast vergessen, dass Helene Willfüer den Heiratsantrag des Kindsvaters ablehnte, weil sie ihre Karriere nicht als Ehefrau eines Landarztes aufgeben wollte, sondern stattdessen vorhatte, das Kind, von dem er nichts wusste, abzutreiben.
Die von Erik Schumann gespielte tragische Rolle des jungen Arztes, der lieber Musiker geworden wäre als die Familien-Tradition als Landarzt fortzusetzen, wurde in Jugerts Film zusätzlich in Richtung einer Kriminalhandlung gewichtet. Nach dem abgelehnten Heiratsantrag stirbt er durch eine Injektion, wofür Helene Willfüer verantwortlich gemacht wird, die den Toten auffindet. Die gesamte folgende nicht in Baums Roman enthaltene Gerichtssequenz wirkt übertrieben und sollte nur von den tatsächlichen Inhalten ablenken. Der Betrachter weiß, dass Helene unschuldig ist, aber Jugert überspielte damit die Zeit ihrer Schwangerschaft, die sie im Gefängnis verbringt, so wie der uneheliche Verkehr zwischen ihr und dem Verstorbenen zuvor nur angedeutet wurde. Auch von Seiten der Bevölkerung sind kaum kritische Stimmen zu hören. Einmal deutet Helene kurz an, dass sie wegziehen will, weil sie die unausgesprochenen Vorwürfe spürt, aber näher konkretisiert der Film das nicht.
Die Absicht dahinter liegt auf der Hand. Regisseur und Autor vermieden negativ besetzte Details, um die Identifikation mit der Hauptfigur aufrecht zu erhalten. Kombiniert mit einer Vielzahl an unterhaltsamen Elementen wurde der eigentliche Handlungsschwerpunkt relativiert, wodurch Helene Willfüers für die damalige Zeit ungewöhnlich mutige Konsequenz fast einen nebensächlichen Charakter erhielt. Das nahm „Studentin Helene Willfüer“ zu Unrecht die Reputation, denn gerade die Vorsicht, mit der Rudolf Jugert seine Handlung vorantrieb, vermittelt, wie gewagt es in den 50er Jahren noch war, eine selbstbewusst und eigenständig agierende Frau in den Mittelpunkt eines Unterhaltungsfilms zu stellen. (8/10)