The dreams in which I‘m dying are the best I‘ve ever had. Wer entscheidet, was Traum ist und was Realität? Oder ein anderer Traum. Ein Traum im Traum? Wer glaubt, dass der Verlust der Realitätskontrolle in MULHOLLAND DRIVE oder INLAND EMPIRE bereits das Ende der Fahnenstange ist? Kann am Ende der Straße nicht die schreckliche Erkenntnis reifen, dass es im Traum zu einem Traum kommen kann? Wer INCEPTION gesehen hat kennt die Popcorn-Antwort auf diese Frage, aber was ist, wenn die Antwort so verklausuliert daherkommt, dass die Ebene des Traums von derjenigen der Realität nicht mehr unterscheidbar ist? Ein Problem, dass Christopher Nolan in INCEPTION auf bemerkenswert einfache Weise löst, aber Sion Sono lebt und filmt halt in einem Traum, der der Realität verdammt nahe kommt, und wo einfache Lösungen immer gleichbedeutend sind mit Aufwachen. Keine gute Idee …
Die kleine Mitsuki wird von ihrem Vater vergewaltigt. Aber er sperrt sie auch in einen Cellokasten mit einem Guckloch und zwingt sie, dem Sex mit ihrer Mutter zuzuschauen. Umgekehrt sperrt er die Mutter in den Cellokasten und zwingt diese, dem Sex mit der Tochter zuzuschauen. Mutter und Tochter werden zu einem, ihre Gestalten überlagern sich, und gleichzeitig wächst die Eifersucht der Mutter ins Unermessliche. Als ein Ohrring verschwindet beschuldigt die Mutter die Tochter, den Ohrring gestohlen zu haben. Im Laufe dieses Streits fällt die Mutter die Treppe hinunter und stirbt. Mitsuki, die nach einem daraufhin durchgeführten Selbstmordversuch querschnittsgelähmt ist, verarbeitet ihre Schuld, in dem sie unter dem Namen Taeko erotisch-autobiografische Romane schreibt. Als den Assistenten des Verlegers lernt sie den jungen Yuji kennen, der sie fortan begleitet. Aber Yuji ist nicht Yuji. Und Taeko ist nicht Mitsuki. Oder doch? Ist Taeko vielleicht mehrere Personen? Und ist Yuji möglicherweise Mitsuki?
Die letzten Fragen sind ernst gemeint! Nichts ist hier wie es scheint, und hinter jeder erzählerischen Ebene taucht ein neuer Zerrspiegel auf, in dem die gleichen Personen in andere Charaktere schlüpfen. Wer ist wer in diesem Zirkus, in diesem Cabaret des Bizarren und Grausamen? Bei meiner Geburt wurde ich zum Tode verurteilt. Vielleicht wurde aber auch meine Mutter hingerichtet, und wir tauschten Rollen? Solange ich zurückdenken kann, war ich immer von Guillotinen umgeben. Sion Sono lässt Rollen tauschen, widerruft Geschehnisse und zeigt beim zweiten Mal einen ganz anderen Ablauf als beim ersten Mal, referenziert Takashi Miikes AUDITION in seinen schrecklichsten Momenten, und führt den Zuschauer durch ein Panoptikum des Grauens, ein Kaleidoskop des Bizarren und des Unglaublichen.
Leicht macht es STRANGE CIRCUS dem Zuschauer dabei nicht. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, und vermutlich würden wiederholte Sichtungen wiederholte offene Fragen aufwerfen. Der Film ist ein wilder Ritt durch Dinge wie Popkultur, Pädophilie und Sexualität, gewürzt mit Bordersyndrom, Depression und Einsamkeit, und dargestellt als Farbspektakel in grotesken und absonderlichen Kulissen. Wenn Frederico Fellini, Jess Franco und David Lynch jemals einen Film zusammen gemacht hätten, dann könnte, die passenden Designerdrogen unterstellt, vielleicht so etwas raumübergreifendes wie STRANGE CIRCUS entstehen, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass Sion Sono dem Stoff noch seine ganz eigene Prise Wahnsinn beimischt. Ein Film, der sicher nicht für jedermann geeignet ist, der aber eine ganz eigene Art verstörender Befriedigung bietet.