Bei seinem Erscheinen sorgte "Tokio Dekadence" weltweit für Skandale und wilde Diskussionen. Er sei pornografisch und jugendgefährdend in der Darstellung extremer Sadomasochismus-Praktiken. Bis heute gehört er zu den am meisten verfolgten und zensierten Filmen der Geschichte.
Doch dass der Regisseur Ryu Murakami mit den explizit dargebotenen SM-Szenen tatsächlich an die Grenze des im Kino Zeigbaren stößt, heißt nicht automatisch, dass sein Film moralisch verwerflich ist. Denn im krassen Gegensatz zu den brutalen, oft abstoßenden Bildern konzentriert sich die Handlung auf die zarte und tieftraurige Geschichte einer verlorenen Liebe.
Die junge Ai verdient sich ihr Geld als Edelprostituierte. Dieser Job führt sie zu den verschiedensten Männern Tokios, die eines gemeinsam haben: viel Geld. In kalten, glanzlosen Bildern zeigt der Film ein modernes Tokio, in dem es scheinbar keine Gefühle mehr gibt, sondern nur seelische Leere, die durch Geld aufgefüllt zu werden versucht. Sowohl Prostituierte als auch Kunden finden keine Liebe mehr in ihrem Leben und müssen sich an diesen kurzen Beziehungen mit völlig Fremden aufputschen. Auf geniale Weise charakterisiert der Film sowohl die seelische Leere der Freier, die sie mit billigen Machtspielchen zu verdrängen versuchen, als auch die stille Verzweiflung der jungen Frauen, die sich für Geld demütigen lassen. Ai fällt es schwer, sich in diese Rolle einzufügen, in der sie meist heftig erniedrigt und beleidigt wird, denn sie spürt noch einen letzten Rest von Liebe, einen Rest Hoffnung: Sie will ihren Traummann wieder sehen, der sie einst verlassen hat und weggezogen ist. Diese Hoffnung hält sie am Leben - bis zum bitteren Ende.
Es fällt ein wenig schwer, den tieferen Sinn des Films zu erkennen, denn anstatt sich an einer final strukturierten Handlung zu orientieren, bleibt er gefangen in einer immer wiederkehrenden Folge von ähnlichen Sadomaso-Aufträgen. Ein Job folgt dem nächsten; man denkt bald, durch die Monotonie nicht mehr von den Inhalten geschockt werden zu können, und doch wird der nächste Auftrag wieder ekelhafter und verstörender als der vorherige. Dieser Kreislauf visualisiert die Gefangenschaft Ais in ihrem tristen Alltag. Ein Alltag, in dem Träume sterben, wenn man sie nicht hütet.
Das größte Plus des Films ist definitiv die Bildsprache. Nicht nur die Farbdramaturgie, auch die Komposition der einzelnen Szenen verleiht "Tokio Dekadenz" eine unabsprechbare künstlerische Eleganz. Schon in der ersten Szene wird Ai als modernes Schneewittchen dargestellt: schneeweiß, mit blutroten Lippen vor einem schwarzen Hintergrund. Sie wird verstoßen und irrt umher auf der Suche nach Hilfe - doch all die Männer, denen sie begegnet, brauchen selbst Hilfe und benutzen sie für ihre Zwecke. Erst ganz am Ende, als man schon denkt, sie kehrt nach ihrem kurzen Ausbruch in eine hoffnungsvolle Welt in dieses kalte, brutale Tokio zurück, blitzt ein kleiner Hoffnungsschimmer auf. Bis dahin allerdings erdrückt der Film mit seiner bitteren, düsteren Atmosphäre. Sicher keine leichte Kost, aber für jeden Cineasten nachdrücklich zu empfehlen.