Tokio Dekadenz (1992)

Tokyo Decadence
(Asian Film Network)

Tokyo Decadence, oder Topaz (so der Alternativtitel) ist ein Meisterwerk! Umstritten, skandalös, tabulos und verstörend, aber mittlerweile ein Klassiker unter den erotischen Filmen. Wobei es mir bei Tokyo Decadence schwer fällt, von einem Erotikfilm zu sprechen, ist es doch eher eine tiefgehende psychologische Betrachtung des Seelenlebens einer japanischen Edelprostituierten, die ihren Schwerpunkt auf die Befriedigung der teils sehr absonderlichen Bedürfnisse ihrer reicher Kunden gelegt hat.
Schon der Einstieg ist schwer verdaulich, wir sehen unsere Protagonistin Ai (dargestellt von der zierlichen, überaus talentierten Miho Nikaido, welche trotz diverser anderer Auftritte, zum Beispiel in Henry Fool oder Fay Grim für mich immer Ai bleiben wird) auf einen Stuhl gefesselt und mit einem speziellen Knebel ausgestattet, wie sie von einem Freier verbal und körperlich unterdrückt wird, und dabei von ihm eine Spritze mit einer unbekannten Flüssigkeit verabreicht bekommt. Diese Szene ist trotz ihrer totalen Ruhe extrem verstörend und beängstigend, zeigt es doch deutlich die Situation der jungen Frau, die ihrem Kunden willenlos ausgeliefert ist. Solche Szenen werden sich im späteren Verlauf der Geschichte immer wieder zeigen, der berufliche Alltag der Prostituierten besteht aus Erniedrigung, Perversionen und seelischer Grausamkeiten. Die sensible Ai verliert durch diese alltäglichen seelischen Misshandlungen immer mehr den Bezug zur Realität und droht daran zu zerbrechen.
Autor und Regisseur Ryû Murakami (zeichnet sich als Autor unter anderem für das beeindruckend verstörende Script zu Takashi Miikes Audition verantwortlich) zeichnet diesen Weg auf der einen Seite als gelungene Studie eines geistigen Kontrollverlustes, auf der anderen Seite bedient er gekonnt voyeuristische Bedürfnisse des Zuschauers. Dabei ist der komplette Film sehr modern und stylisch gefilmt, und liefert durch seine beeindruckend guten Schauspieler auch bei den verschrobensten Charakteren seitens der Freier keine Karikaturen.
Tokyo Decadence liegt hier in einer Neuveröffentlichung vor, die allen Fans des Filmes leuchtende Augen beschert hat. Waren alle bisher erhältlichen deutschsprachigen Versionen stark geschnitten, liefert Asian Film Network erstmals die ungeschnittene Langfassung mit 113 Minuten mit neu abgetasteten Bild und Ton. Diese liefern nun nahezu fehlerfreien Genuss dieses Klassikers. Diese vorliegende Veröffentlichung ist somit allen Fans dieses Filmes zu empfehlen, da man bisher nie die Chance hat, ihn in deutscher Sprache in seiner ursprünglichen Form zu genießen, aber auch jeder Cineast, der Wert auf ein ausgefeiltes Drehbuch, gute Darsteller und einer morbide verstörenden Atmosphäre legt, sei Tokyo Decadence ohne Einschränkung ans Herz gelegt!

CFS