Kognitive Dissonanz nennt die Psychologie die Unvereinbarkeit neuer Informationen mit dem durch persönliche Entscheidungen geformten Erfahrungsschatz und der daraus resultierenden Einstellung des Individuums gegenüber bestimmten Sachverhalten. Wenn das Individuum also eine neue Information erhält und deren Gehalt mit der persönlichen Einstellung unvereinbar ist, entstehen innere Spannungen. Das Individuum hat nun zwei Möglichkeiten, diese Spannungen zu lösen: Entweder, es überdenkt aufgrund der neuen Information die eigene Einstellung und ändert sie entsprechend ab, oder aber, und das ist die häufigere, weil einfachere Variante, die neue Information wird gemäß der eigenen Einstellung modifiziert, damit sie ins eigene Gefüge passt, ohne Widersprüche zu verursachen.
Kognitive Dissonanzen sind nun in vielerlei Hinsicht mit Guy Ritchies bislang jüngstem und verdammt kühnen Werk “Revolver” verbunden. Denn sie beherrschen erstens die Verhaltensweisen sämtlicher Charaktere aus dem “Revolver”-Universum. Zweitens bestimmen sie die komplette narrative und inszenatorische Struktur des Films. Drittens ergeben sie sich automatisch durch die Berücksichtigung der beiden laut gefeierten Durchbruchswerke Ritchies, nämlich “Bube, Dame, König, grAs” und “Snatch”, die den jungen britischen Filmemacher bereits zum Entertainment-Only-Tarantino machten. Denn was mit “Revolver” aufgefahren wird, lässt sich kaum mehr mit der zwanglosen Gangster-Comedy von einst vergleichen. Viertens stellen sich Dissonanzen mit Sicherheit bei eingeschworenen Fans der genannten Gangster-Komödien ein, bei denen Ritchie trotz “Swept Away” noch eine Lobby haben dürfte, diese aber nun mit dem vorliegenden Werk aufs Spiel setzt. Und fünftens habe auch ich selbst mit Dissonanzen zu kämpfen gehabt. Denn obwohl ich (trotz zahlreicher Ausflüge in den No-Brainer-Sektor, die ich auch nicht missen möchte) eigentlich grundsätzlich jede Maßnahme begrüße, die einen Inhalt tiefer, signifikanter und intelligenter werden lässt, sehe ich das finale Resultat nun etwas zwiegespalten. Die neue Zutat verleiht dem bewährten Gericht nicht ganz die Raffinesse, nach der ich mich gesehnt hatte.
Dabei ist sie am Ende doch noch mehr als genießbar und damit weit weg von dem, was Kritiker in, wie ich annehmen muss, blinder Gier nach einem saftigen Verriss an Spott aufgefahren hatten, von wegen “Swept Away”, der künstlerisch wie kommerziell gefloppte Ausrutscher Ritchies, sei ein Meisterwerk im Vergleich zu “Revolver”. Das ist nicht einmal annähernd der Fall, und wer es doch behauptet, muss schon ein Künstler der Rhetorik sein, um seinen Standpunkt plausibel zu machen. Dennoch waren “Bube, Dame...” und “Snatch” die deutlich runderen, feiner verarbeiteten Filme. “Revolver” ist im Sinne des Experimentalismus noch mit sichtbaren Nähten versehen, das neue Element, die psychologische Meta-Ebene, an den Gangsterfilm-Korpus mit all seinen Interessengruppen aus verschrobenen Charakteren anzunähen.
Damit sind wir beim Hauptproblem des Filmes. Unter der Prämisse, einen psychologisch konstruierten Unterbau an das Gerüst zu hängen, verliert das von Ritchie seit jeher so perfekt beherrschte Spiel mit skurrilen Szenarien, verrückten Figuren und umworbenen MacGuffins an Kontrolle. Wie eine dunkle Wolke schwebt die Vorgabe, durch vertrackte Schachzüge Metaebenen erreichen zu müssen, über der Interaktion der zentralen Spielfiguren Jake Green (Jason Statham), Avi (André Benjamin), Zach (Vincent Pastore) und Macha (Ray Liotta). Die Grundstimmung ist klar düsterer als ansonsten aus Ritchies Filmen bekannt, was ja nun zunächst einmal keine schlechte Sache sein muss; hierdurch jedoch werden die Figuren ihres natürlichen “Lebensraumes” beraubt, innerhalb dessen einzig und allein sie hundertprozentig funktionieren. Die Folge: Nur Jason Statham schafft es gerade noch mit Hilfe seiner sich fast durch den kompletten Film ziehenden Gedankenmonologe, sich als Unikat zu beweisen und sich dauerhaft als einzigartiger Charakter zu profilieren. Durch seine fast wuchernde Gesichts- und Kopfbehaarung unterscheidet er sich von seinen sämtlichen anderen Rollen dabei nicht nur optisch; auch schauspielerisch werden ihm einige Szenen zuteil, in denen er über sein gewohntes Maß hinaus agiert, was natürlich primär den Anforderungen durch seine Rolle zuzuschreiben ist. Mit Abstrichen ist auch noch der einmal mehr groß aufspielende Ray Liotta zu erwähnen - allerdings bleibt auch er nicht mehr nach den klassischen Ritchie-Kriterien im Gedächtnis, sondern einzig durch sein intensives Schauspiel. Was die Gambler- und Gangsterfilmelemente des Films betrifft, wirkt er gar wie ein Fremdkörper, fern der eigentümlichen Dialektik, wie sie sonst jeden Nebencharakter eines Ritchie-Films umweht. Vielleicht ist noch Mark Strong herauszuheben, der als eiskalter Killer in einer Schaffenskrise noch am meisten das Relikt der ausgehenden Gangster-Comedy darstellt. Strong stellt diesen Kontrast zwischen eiskalter Berechnung und Menschlichkeit mit subtilem Humor in Reinform, mit schauspielerischem Minimalismus, der aber auf Anhieb funktioniert. Nach diesem Schema haben sich Bricktop, Turkish, Sol, Eddie, Soap, Big Chris, Tommy, Frankie Four Fingers und wie sie alle heißen mit Leichtigkeit ins Hirn des Zuschauers eingebrannt. Von den genannten Ausnahmen abgesehen findet ein derartiges Einbrennen diesmal aber nicht statt. Grundsätzlich durchaus auch skurril angelegte Figuren wie die von Francesca Annis gespielte Lily Walker vergisst der Zuschauer einfach wieder zu schnell, und der Grund ist schnell gefunden: Die Charaktere mit ihren verrückten Eigenschaften sind nicht mehr das Zentrum des Drehbuchs. Sie sind nurmehr ein Teil davon, nicht mehr jedoch der Teil, auf den es ankommt.
An dieser Stelle tauchen wir nun ein in das neue Element. Die erste Frage, die sich zwangsläufig aufdrängt, lautet: Warum ist Ritchie von seinem Stil abgegangen? Und gleich darauf folgend: Ist es überhaupt nötig gewesen, das in sich hervorragend funktionierende Konstrukt seiner Filme von 1998 und 2000 durch eine metaphysische Komponente aufzubrechen?
Meine Vermutung ist die, dass die Neukonzeption in “Revolver” eine auf die funktionalen Mechanismen seiner Vorgängerfilme reduzierte Version seines Schaffens ist. Das bedeutet, die interne Verschachtelung, die gleichermaßen bei Psychologie und Philosophie an die Tür klopft, weist invers auf die Struktur hin, der “Bube, Dame...” und “Snatch” gefolgt sind. Das ist zumindest ein einzelner Aspekt der nahezu unüberschaubaren Umwälzung, die hier stattfindet. Alsbald Ritchie den Drang verspürte, höhere Ziele als reine Unterhaltung zu erreichen, musste er nämlich trotzdem über kurz oder lang auf seine alten Werkzeuge zurückkommen. So rechtfertigt er auch das erneute Stricken des Plots rund um rivalisierende Gangsterbanden in einem Casino-Szenario. Um sich für höhere Aufgaben zu empfehlen, sah er sich vermutlich gezwungen, auf alte Stärken zurückzugreifen. So brach er also seine Gangster-Comedy auf und ließ den dunklen Strom der Metaphysik einfließen, der sich nun aber durch die bereits vorhandenen Aderverzweigungen schlängeln musste. Sprich, das neue Material fließt durch alte Formen, wodurch “Revolver” in seiner gerade gen Ende zunehmenden Verschachtelung zu einer auf die Theorie reduzierten Variante der deutlich pragmatischer veranlagten Vorgänger wird.
War denn nun ein solcher Schritt notwendig? Rückwärtsgerichtet muss man die Frage verneinen. Welchen Sinn hat es, die Mechanismen einer Sache zu erklären, wenn die Sache selbst doch bisher so gut funktioniert hat? Manchmal hat man bei “Revolver”, vergleicht man ihn mit den Vorgängern, den Eindruck, er sei die erklärende Analyse zum intakten Konzept seines Erbes. Aber, um dieses Bildnis mal zu wagen, muss man einen Witz analysieren, um ihn witzig zu finden?
Doch man ist ja nicht gezwungen, “Revolver” im Hinblick auf “Bube, Dame...” und “Snatch” zu betrachten. Im Gegenteil, in diversen Punkten löst sich Ritchie unglaublich stark von seinen eigenen Wurzeln und überschüttet den Zuschauer in einem sagenhaften Ausmaß mit Elementen, die man ihm in dem Maße nie zugetraut hätte. Und bei der Fülle an Erzählebenen, Hinweisen, Symbolik, Metaphorik, Plottwists und visuellen und akustischen Stilmitteln bleibt letztendlich doch eines voller Respekt anzumerken: Wie sich die Puzzleteile auf all den verschiedenen Ebenen schließlich zusammenfügen, ist mit keinem anderen Wort zusammenzufassen als mit folgendem: Perfektion.
Mag der Gesamteindruck nach dem Film auch möglicherweise eher verwachsener Natur sein, eines kann man dem Film nicht vorwerfen, nämlich dass er intern nicht logisch wäre. Und das ist insofern schier unglaublich, als dass es sich Ritchie angemaßt hat, wirklich in jeder Hinsicht seine Vision durchzusetzen, den Film zu einem Schachspiel auf mehreren Levels zu gestalten, ein “Spiel im Spiel im Spiel”. Aber es funktioniert! Alleine visuell ist “Revolver” ein bedeutungsschwangeres Kunstwerk von einem Film. Schaut man genau hin, und viele Details werden wohl erst nach der zweiten oder dritten Sichtung klar, so ist keiner der eingesetzten Farbfilter selbstzweckhaft, keines der Setpieces nur reine Dekoration, kein Mono- oder Dialog ein Werkzeug lediglich zur Darstellung von Coolness. Sehr offen, daran kann sich der Zuschauer relativ unkompliziert selbst auf die höhere Ebene ziehen, wird das Schachspiel als Hauptmetapher für die Filmhandlung eingeführt. Davon ausgehend ist alles andere interpretierbar. Zeichen können in teils infinitem Optionalismus gedeutet werden, geben vorab schon Hinweise auf die Plottwists, nehmen sie aber eigentlich nie wirklich vorweg; erst nach dem Twist wird ihr Zeichencharakter deutlich. In welche Richtung man seine Interpretation nun laufen lässt, ist bis zu einem gewissen Grad sogar vom eigenen Ermessen abhängig.
Es ist schon kurios, wie die vielen Kritiker des Films über diese Qualitäten einfach hinwegsehen konnten, denn es bleibt nicht nur bei den unbestreitbar gelungenen, visuell transportierten Informationen, auch handlungstechnisch erleben wir einen stimmigen Übergang auf die nächsthöhere Ebene, auch wenn die offensichtlichen Vorbilder (die ich jetzt aus vergleichender Spoilergefahr nicht nennen möchte) nicht zu leugnen sind. Doch ist Ritchie hier weniger abhängig von der Effektivität seiner Plottwists; auch davon unabhängig funktioniert sein Konzept, weil es so viel mehr ist als ein in diesen Zeiten fast schon widersprüchlicherweise “gewöhnlicher” Mindfuck. Es geht schließlich immer noch um den (Schach-)Spielcharakter der Filmhandlung, und der ist nicht notwendigerweise ausschließlich gebunden an die Momentwirkung einer Handlungswende. Er ist durch seine vielfache Interpretierbarkeit nach oben und nach unten hin abgesichert. Deswegen ist die Qualität der Auflösung auch nicht so stark von der Effektivität der Twists abhängig, sondern vielmehr von der Charakterzeichnung der vier, fünf wichtigsten Filmfiguren, von der Vielschichtigkeit des Konzeptes und der Funktionalität der Metaphern und Symbole.
Das ändert alles nichts daran, dass im Gesamtbild “Revolver” nicht etwa zu einem Meisterwerk mutiert - das noch nicht einmal annähernd. Dafür sind in diesem Experiment zu viele funktionierende Elemente geopfert worden, “nur” um mehr Tiefgang einzubringen. Aber ist doch ein “guter” Film geworden - ein Film, der seine eigene Handschrift besitzt, auf eine zunächst noch undefinierbare Weise fasziniert und dem Betrachter das Gefühl vermittelt, gerade etwas von Belang gesehen zu haben. Und selbst wer an den alten Filmen hängt, sollte nicht ganz leer ausgehen. Die Schießerei in Treppenhaus/Wohnung führt den verqueren Schnitt- und Kamerastil, eines der Markenzeichen von Ritchie-Filmen, gekonnt weiter und beschert uns eine dynamische, saumäßig cool aussehende Ballerei. Man denke auch an den Durchstoß der Autofensterscheibe, der nicht nur für die ursprüngliche Zielgruppe von Interesse ist, sondern durch seinen Ablauf zudem mit einer besonderen Bedeutung für die Spielzug-Thematik bedacht wurde.
Im Bild der kognitiven Dissonanz ist das von Guy Ritchie neu hinzugefügte metaphysische Moment diejenige Information, die sich nicht mit unseren Erfahrungen deckt und die von Natur aus bei vielen Zuschauern für innere Spannungen sorgen wird. Mit einer solchen Erweiterung des Horizonts hat niemand gerechnet, schon gar nicht nach dem in Wirklichkeit zweideutigen Titel des Films, den man in Kenntnis von Ritchies bisheriger Filmografie aber nur auf eine Weise interpretieren konnte - als ein weiterer der typischen Ritchie-MacGuffins, eine Waffe, die aus einem bestimmten Grund zum begehrten Objekt mehrerer Gangstergruppen wird. Das Filmposter mit all den aufgereihten Charakterköpfen, einem Revolver und Spielkarten verstärkte den Eindruck. Doch dem ist nicht so, und daran werden sich viele die Zähne ausbeißen. Sie werden die neue Information als dissonant einstufen und wieder abstoßen. Doch wer sich darauf einlässt, statt dessen den schwierigeren Weg zu gehen und die eigene Einstellung gegenüber dem Film zu modifizieren, seinen eigenen Horizont für eine neue Ebene zu erweitern, wie es Ritchie selbst auch gemacht hat, der wird möglicherweise doch noch ziemlich positiv überrascht werden.