PSYCHE IM ZWIELICHT
Yevgeni Bauers Werk ist in der Zeit des Sozialismus verschütt gegangen. Leider, denn er gehörte unbestritten zu den Meistern seines Fachs, das er früh mit durchkomponiertem Set-Design, bewusster Lichtsetzung und ungewöhnlicher Kameraarbeit ausgelotet hat. Diese formalen Elemente der Bildgestaltung standen dabei stets im Dienste der erzählten Psychologie seiner Figuren und damit ist er ein bemerkenswerter Regisseur nicht nur des zaristischen Films, sondern des Stummfilms überhaupt.
In seinem Filmschaffen griff er zurück auf seine Ausbildung an der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Architektur, die er 1887 abschloss, und seine vielfältigen Tätigkeiten, die er bis zum Beginn seiner filmischen Arbeit im Jahr 1913 ausübte: er arbeitete unter Anderem als Karikaturist, Satiriker, Journalist, Fotograf, Theaterdirektor und insbesondere als Bühnenbildner. So verband Bauer in seinen Filmen das an der Abbildung interessierte Auge des Fotografen mit dem gestaltenden Auge des Set Designers und schuf in diesem Zusammenspiel ausgewogene Geschichten, wo andere Regisseure entweder dem Einen oder dem Anderen den Vorzug gaben.
Sein Film Twilight of a Woman's Soul gehört zu seinen frühen Filmen, mit denen seine Entwicklung als Filmkünstler allerdings rasch begann, denn sein gesamtes filmisches Werk entstand zwischen 1913 und dem Jahr 1917, in dem er 52-jährig an einer Lungenentzündung starb. Doch bereits hier sind die Qualitäten seiner Regiearbeit, wie er sie in den späteren Filmen weiter ausprägte, vorhanden. Bemerkenswert ist die Tiefe des Bildes, das im Vorder-, Mittel- und Hintergrund gleichermaßen seine Gestaltung und damit seine ungewöhnliche Lebendigkeit erhält. Ein Beispiel hierzu: die Gesellschaft, die im Elternhaus der Hauptfigur Vera gegeben wird, ist durch Gespräche Sitzender im Vordergrund, Tanzende im Mittelgrund und die Gespräche stehender Personen im Hintergrund sowohl räumlich als auch rhythmisch strukturiert. Die Kamera blickt dabei auf einen großen rahmenartigen Durchgang zu einem dahinterliegenden Raum, der mit seinen Palmen beinahe einem Gewächshaus gleicht. Vera entzieht sich lieber der gemeinsamen Feierlichkeit und separiert sich - die Kamera blickt nun aus der genau entgegengesetzten Richtung - in den dschungelhaften Hinterraum. Nachdem Vera die Bitte um einen weiteren Tanz abgelehnt hat, setzt sie sich an einen kleinen Tisch - und die Kamera, plötzlich aus ihrer Starre gelöst, folgt ihr sanft in einer sehr intim wirkenden Bewegung. Mit diesen beiden Einstellungen des Tanzraumes und des Pflanzenraumes gestaltet Bauer gleich mehrere ineinander verschränkte Themenkomplexe, in denen sich die kommende Geschichte bewegt und die sich in Gegensatzpaaren greifen lassen: die Konventionen der Gesellschaft versus die in sich gekehrte Persönlichkeit, die Ordnung (der korrekt gekleideten Tanzenden) versus die Unordnung (der wuchernden Pflanzen) und die salonfähig gesitteten Umgangsformen versus die Sexualität verbildlicht im Pflanzenseparee. Letzteres könnte, wenn auch der Dschungel häufig als Bild für die triebhaften Dimensionen des Menschen benutzt wurde und wird, als zu weit gehende Interpretation gesehen werden, würde die Geschichte, die Bauer uns erzählt nicht gerade diesen Weg weiter gehen: Vera wird nach einem Besuch im Armenviertel vergewaltigt werden und daraufhin einen Mord begehen, ihr Leben wird von Grund auf erschüttert sein und ihr Inneres unruhig und zerrissen, zumal sie später ihrem künftigen Ehemann Prinz Dol'skii mehrfach ihre Schuld und verlorene Unschuld (!) gestehen will - das erste Mal eben wieder inmitten der Pflanzen -, aber erst nach der Hochzeit dazu kommt. Beider Leben wird als langfristiges Resultat aus den Ereignissen im Armenviertel unstet sein: sie als Schauspielerin, die also die gesellschaftlichen Konventionen nun im wahren Wortsinne mitspielt, er auf der jahrelangen Suche nach ihr, nachdem er der Dimension ihres Geständnisses zunächst überhaupt nicht gewachsen war.
Ein weiteres Beispiel: in ihrem Schlafzimmer befindet sich Vera im hellen Hintergrund, durch einen von der Decke hängenden Schleier wie entrückt vom Vordergrund, der silhouettenhaft dunkel bleibt. Erst wenn sie zur Kamera heran tritt, selber dunkel wird, und das Fenster öffnet, legt sich von draußen das Licht auf sie: jetzt ist sie im Zwielicht. Gleich zwei derartige Szenen gibt es: die erste führt Vera zur teilnahmslosen Teilnahme an der Tanzgesellschaft im elterlichen Haus, in der zweiten entdeckt sie den verlogenen Brief, der sie ins Armenviertel lockt und so den Weg in die Katastrophe bahnt. Auch dieses Innen und Außen ist ein Gegensatzpaar in Bauers Film. Ebenso gibt es ein Oben und ein Unten: die erste arme Familie, die Vera mit ihrer Mutter besucht, wohnt in einem Souterrain, Maxim, der Mann, der sie schänden und den sie umbringen wird, haust in einer Dachwohnung. In Bauers Filmen steckt auch ein kritischer Blick auf die russische Gesellschaft im Zarenreich vor der Revolution. Aber so ganz einfach und klar ist das nicht mit den Gegensatzpaaren bei Yevgeni Bauer. Gerade in Twilight of a Woman's Soul löst er die Schwarzweißzeichnung, die Polarisierungen in Innen und Außen, Reiche und Arme, Gesellschaft und Individuum auf, indem er sich mit dem Zwielicht, den Zwischentönen, den Unklarheiten beschäftigt. Ihn interessiert die Psychologie mehr als die Soziologie. Deshalb sind auch Träume und Traumartiges immer wieder Element seiner Inszenierungen. Bauer wollte das innere Gestrüpp der menschlichen Persönlichkeit in ihren Widersprüchlichkeiten und ihrer Uneindeutigkeit sichtbar machen. Und das gelang ihm im Medium Film ganz hervorragend.
Obwohl nicht einmal einer der besten Filme Yevgeni Bauers, ist Twilight of a Woman's Soul dennoch in seiner sicheren Gestaltung ein beeindruckender Film, der seine Geschichte und seine Figuren ungewöhnlich komplex darstellt und mit einer erstaunlichen Finesse über die damals üblichen gestalterischen Mittel hinausgeht.