Um es auf den Punkt zu bringen: “Alice im Wunderland”, die ursprüngliche Geschichte aus der Feder von Lewis Carroll, hatte nur Unsinn im Sinn. Alice symbolisiert die Flucht des Kindes aus der gesellschaftlich streng regulierten, mit Pflichten und Grenzen versehenen Erwachsenenwelt. Der Kaninchenbau fungiert dabei als Wurmloch, das in eine surrealistische Fantasiewelt führt, die deswegen surrealistisch ist, weil sie bezweckt, sich von der Realität abzuheben. Hierdurch bildet sie für das Kind einen Schutzwall. Der Nonsens ist der Sinn in dieser Welt, während der Sinn keinen Sinn macht. Kurz: Die Tatsache, dass es im “Wunderland” keine Konventionen gibt, weist darauf hin, dass - ansatzweise zu vergleichen mit Ingmar Bergmans “Fanny und Alexander” - die gesellschaftliche Ordnung der Realität unter Beobachtung und Kritik steht.
Oft, sehr oft wurde die Geschichte nicht nur zitiert, sondern mehrfach verfilmt und gleich in unzähligen Quasi-Varianten neu aufgelegt - auch jüngst noch (“MirrorMask”), aber leider nicht immer besonders gelungen oder gar innovativ. Dass nun ausgerechnet der im Zuge des “Brothers Grimm”-Reinfalls gnadenlos untergegangene “Tideland” von Terry Gilliam dem Alice-Konstrukt eine neue Lesart abgewinnt, haben nur noch die größten Optimisten erwartet. Insbesondere nach den teils niederschmetternden Kritiken, die dem Werk allerdings mehr als nur Unrecht tun.
Während Gilliam wie gehabt seine verschrobene Bildsprache zur Geltung bringt, die ja niemals verloren gegangen war, beginnt er schnell, die Grundidee des sich aus der Realität flüchtenden Mädchens zu demontieren und neu zusammenzusetzen. Die meisten “Alice”-Varianten versuchen, narrative Elemente zu variieren oder mit dem Surrealismus zu experimentieren. Doch Bildsprache und Erzählform sind bei Gilliam bereits festgelegt. Also stützt er sich auf den Katalysator der Story, ihren Ursprung. “Tideland” ist keineswegs der Kampf eines Mädchens gegen seine Eltern, die als Aposteln gesellschaftlicher Normen erscheinen... im Gegenteil. Anknüpfend an aktuelle gesellschaftliche Probleme sieht sich die von Jodelle Ferland gespielte Jeliza-Rose mit der Nichtexistenz familiärer Strukturen konfrontiert. Die Eltern sind bettlägerig, drogenabhängig und verwirrt, schon bald sogar tot.
Das Resultat ist die totale Umkehrung der Strukturen von “Alice im Wunderland”. Diesmal mangelt es nämlich der Realität an Konventionen und wenn das Mädchen beginnt, sich aus Selbstschutz eine Fantasiewelt zu gestalten, errichtet sie dort die Regeln, Regularitäten und Pfeiler der Vertrautheit, die sie in der wirklichen Welt nie geboten bekam.
Die Bilder, die man anfangs zu Gesicht bekommt, sind schockierend. Mit einer beispiellosen Selbstverständlichkeit wird Jeliza-Rose in den Drogenkonsum ihres Vaters einbezogen. Sie besorgt ihm auf eine erschreckend routinierte Art und Weise das Spritzbesteck und als die Dosis verabreicht ist, nimmt sie die Spritze in den Mund, um gleichzeitig ihren Vater auf dem Sessel in eine angenehme Liegeposition zu bringen. Die Mutter ist depressiv und launisch und als sie in ihrem Bett an einer Überdosis stirbt, öffnet die Parallelwelt langsam ihre Tore. Jeliza-Rose erkennt den Vorteil der Situation und freut sich über die Schokoriegel der Mutter, die sie und ihr Vater nun essen können. Von Trauer keine Spur.
Jennifer Tilly und Jeff Bridges sind als Eltern nur in den ersten Minuten darstellerisch beschäftigt, um dann der damals 11-jährigen Jodelle Ferland vollständig die Bühne zu überlassen. Der Protagonistin wird durch das Drehbuch ein großer Facettenreichtum abverlangt. Schließlich muss das Mädchen den Film quasi alleine tragen und dabei auch noch mehrere unterschiedliche Persönlichkeiten erschaffen, die sich auf ihre vier Puppenköpfe, die ihre besten Freunde sind, übertragen. Die durch “Silent Hill” bekannt gewordene Ferland meistert diese riesigen Ansprüche mit der einzig richtigen Strategie: Bodenständigkeit und Zurückhaltung. Was im Naturell der schon viel beschäftigten jungen Schauspielerin zu liegen scheint, kommt dem Film zugute: die Art und Weise, wie Ferland zwischen der Darstellung der extremen schizophrenen Alter Egos und ihrer eigenen defensiven Persönlichkeit zu pendeln weiß, gibt dem bravourösen Umkehrungsprinzip Gilliams seine Basis.
Denn Jodelle Ferland zum Dank wird der sich durch Traumebenen bildende Schutzwall des von den Eltern verlassenen Mädchens richtig greifbar. Psychologisch ausgereift, aber keineswegs verkopft geht die typische Bildsprache Gilliams - grelle, fiebertraumhafte Farben, asynchrone Kameraperspektiven, extravagante Sets - mit dem kognitiven Innenleben der Protagonistin eine in sich schlüssige Symbiose ein.
So überzeugt der Film immer dann besonders, wenn die Konstruktion der Fantasiewelt sich unbemerkt in die Realität einschmiegt, welche optisch nach den Regeln des Kinos sowieso schon aussieht wie ein Traum: überladen, bunt und zerbrechlich. Es gibt keinen sichtbaren Übergang und ebenso wenig eine greifbare Barrikade zwischen Jeliza-Roses gedanklichen Konstrukten und ihrer faktischen Umwelt. Alles ist sozusagen ein Brei, und doch ist anhand der Geschehnisse im Plot zu filtern, mit welchen Bedrohungen das Mädchen konfrontiert wird und wie sie diese verarbeitet.
Dabei wird wahrlich kein Blatt vor den Mund genommen oder ein Themenpunkt schamvoll umgangen. Die Ansätze von Pädophilie haben Diskussionen ausgelöst und werden es noch tun, nicht zuletzt aufgrund der ausgesprochen unangenehmen Bilder, die sich in den Szenen mit Jodelle Ferland und Brendan Fletcher ergeben. Sie stehen aber für einen konsequenten Umgang mit dem Thema und eine Intimität, die so durchdringend wirkt, dass die Freude am Film beziehungsweise der Unterhaltungswert für den Zuschauer mitunter fast schon auf der Kippe steht. Und das ist großartig, denn es zeugt von einem Mut, der sich auch in der Aussage Gilliams wiederspiegelt, “Tideland” sei ein Film, der nur einer kleinen Auswahl von Zuschauern gefallen dürfte und das auch gut so sei.
Es bleibt zwar letztendlich nur die alte Geschichte des ihrer Bezugspersonen beraubten Mädchens, das in einer feindlichen Welt um ihr (geistiges) Überleben kämpft, doch “Tideland” weiß auf dem zertrampelten Feld durchaus neue Pfade zu beschreiten. Wer durch “Brothers Grimm” von Terry Gilliam enttäuscht wurde, sollte die Verrisse zum gleichjährigen Parallelwerk mit Ignoranz strafen und sich unbedingt ein eigenes Bild machen. Meines Ermessens bleibt ein Film, der den Großtaten des Regisseurs kaum in etwas nachsteht. Folglich ist ein Geheimtipp zu konstatieren, auch wenn es eine Schande ist, diesen Terminus bei einem Gilliam aus dem Jahr 2005 noch anwenden zu müssen.
(8.5/10)