Jeliza-Rose ist ein etwa 9-jähriges Mädchen, das keinen guten Start ins Leben hatte. Die Eltern drogenabhängig und asozial: der Vater, ehemaliger Rockmusiker, und die abgestürzte Mutter, deren beider Lebensinhalt aus der Frage besteht, ob sie eher Methadon oder Heroin konsumieren wollen. Sehr um die Familie bemüht, spielt das Mädchen den fürsorglichen Ruhepol. Sie tröstet die emotional fertige Mutter und bereitet dem weltfernen Vater Noah die täglichen Dosen Heroin vor, unter Absicherung der näheren Umgebung. Nach dem tragischen Tod der Mutter flüchtet Noah mit dem Töchterchen in seine weit abgelegene Heimat in Texas, um sie aus dem Elend rauszuholen und selbst Ruhe zu finden. Nachdem sich Noah den üblichen Fix genehmigt hat, wacht auch er aus seinem regungslosen Rausch nicht mehr auf und lässt Jeliza-Rose nunmehr mutterseelenallein zurück. Eingenommen von der Einöde und ohne Bezug zu einer Normalität, betreibt sie mit ihren vier Fingerpuppen Konversation und rettet sich in eine eigene Welt, in die nach kurzer Zeit eine sonderbare Frau und ihr zurückgebliebener Bruder Dickens eintreten. Alsbald sind die beiden ihr einziger sozialer Kontakt, allerdings so ganz ohne Erfüllung der ersehnten Zuneigung, derer das Mädchen, nach der langen, von emotionaler Kälte gezeichneten Zeit, sehr bedarf. Mit einem Eichhörnchen im Gebälk des Hauses begibt sich Jeliza-Rose auf einen emotionalen Trip durch eine Welt von Kuriositäten.
In dieser surrealen und endlosen Landschaft aus Gras und noch viel mehr Gras, geht der Bezug zur Realität verloren und das Mädchen versucht, eine eigene Realität und Normalität aufzubauen. Dies geschieht in Form von vier Puppenköpfen, in deren unbewegliche Münder sie stereotype Rollen und entsprechende Spracheigenschafen legt. Die Puppen nehmen die Positionen von Personentypen ein, mit denen es dem Mädchen Zeit seines Lebens vergönnt blieb, Kontakt zu bekommen. So ist die eine die ideale, Rat gebende und vorbildhafte Mutter und daneben das Gör, was schelmische Sprüche reißend um Aufmerksamkeit heischt. In ganz wenigen Sequenzen wird dem Zuschauer bewusst gezeigt, daß es neben dem Gezeigten eine reelle Welt gibt. Doch hat das Mädchen hinreichend genug zu tun, seine eigene Realität mit Hilfe der Puppengemeinschaft zu meistern. Immerhin versucht sie, die idealen Rollen in ihrem neuen Umfeld zu finden. Doch auch dieses Vorhaben scheitert kläglich.
Lustig, traurig, ergreifend, erschütternd, überraschend und grausam zugleich tritt „Tideland“ dem Publikum gegenüber. So etwas Tiefgehendes findet man nicht häufig unter den vielen Veröffentlichungen, die um die Gunst des Zuschauers werben. Allerdings ist der Film nicht einfach. Selbst geübten Zuschauern verlangt der Film sicherlich einiges an Toleranz ab und versucht, die Distanz zum Geschehen zu rauben. Vergessen sollte man hier aber nicht, von was der Film handelt. Von Distanz kann hierbei keine Rede sein, sondern - wenn überhaupt - vom Klarkommen mit der Situation. Und das verlangt der Film nicht nur von seiner Hauptfigur, das verlangt er auch vom Zuschauer. Er muss mit dem Geschehen klarkommen und es bewältigen. Unverschämt ist der Film, weil er das Kind durch die Puppen die stereotype Einnahme anderer Rollen erlernen, bzw. seine eigene Realität verarbeiten lässt, im Gegenzug aber dem Zuschauer, insbesondere Eltern, rotzfrech das Empathiegefühl für das Kind unterjubelt und Ängste erwecken möchte, in Sorge um das ‚Wohl’ des Kindes. Der Kontext kehrt sich um in einer schon erfolgten Aneignung des Einfühlungsvermögens. Das Schicksal und die Realitätsflucht der Kleinen, der dauerhafte Liebesentzug und die latente Gefahr durch das Umfeld schmerzen und das funktioniert so gut, weil wir uns in die Kleine hineinversetzen und irgendwie versuchen nachzuvollziehen, was sie für Empfindungen durchlebt und welche sie insbesondere verdrängt.
Ob das beim Zuschauer immer so klappt ist natürlich fraglich, aber betrachtet man mehr als die grandiose Optik des Geschehens, bemerkt man die Idee dahinter recht schnell und erkennt die Qualität, mit der dieses Vorhaben umgesetzt ist. Aber das Ideal ist der von Gilliam gespielte Puppenkopf eines gefühlvollen Zuschauers, der sich in die Erlebniswelt hineinstürzt. Da gibt es unter den Zuschauern weit häufiger die starren ‚Erwachsenen’, die über einige Sequenzen stolpern dürften, bei denen einfach das Verständnis für die Geschichte und das Geschehen fehlt, mancher wertet nach fertigen moralischen Regeln. Letztlich kommen einige Typen von Zuschauern mit der gegebenen Situation nicht klar, zumal der Film auch mehr verlangt als die stumpfe Haltung im Fernsehsessel. So mancher dieser Konsumenten sollte vielleicht noch mal ein paar Entwicklungsphasen zurückgehen und von Grund auf an seinem Verständnis arbeiten, was Empathie eigentlich bedeutet.
Auf welcher Stufe stehen Sie denn?
Was vom Wellengang übrig blieb:
Gilliam hatte es mit dem Film nicht so leicht, wie bei anderen Produktionen, die man als Kinohits anpreisen kann. Dieser sehr visuelle Film steht dem sehr schwer kommunizierbaren Thema entgegen. Auch ist er arm an den erfolgssichernden Faktoren wie ‚Action’ oder ‚Stars’. Die Bekannten aus dem Filmbusiness wie Jennifer Tilly oder Jeff Bridges, treten hier in den Hintergrund. Nachdem sie dem eigentlichen Star des Films zu Beginn eine Steilvorlage liefern, wird die Geschichte alleine von Jodelle Ferland getragen. Zuschauern von „Silent Hill“ (der erst nach „Tideland“ gedreht wurde) dürfte ihre ruhige, aber doch erschütternde Performance vielleicht schon bekannt sein. Dieser Film ist alleinig ihre Bühne und sie füllt diese grandios.
Ein Film von Gilliam ist ein Film von Gilliam. Dies betrifft alle Aspekte; die positiven so wie die negativen. Terry Gilliam hat ein gutes Händchen für die Inszenierung seiner meist sehr gut gewählten Stoffe. Auch ist er sehr erpicht auf eine detaillierte und facettenreiche Darstellung, Inszenierung und Fotographie. Doch oftmals stolpert Gilliam schlicht über Gilliam und er verrennt sich in den Sequenzen, die sich als reine Huldigung des jeweiligen ‚Grades an Schrägheit’ anfühlen. Auch hier glänzen die arg schrägen Charaktere oftmals durch zu überzogenes Schauspiel, welches den Figuren ein besonderes Leben einhauchen soll. Allerdings passt das hier halbwegs in das Gesamtkonzept im Sinne einer Variation des „Alice im Wunderland“-Motivs, so daß sich „Tideland“ zu seinem bisher weit besten und intensivsten Film entpuppt.
Habt sie gern, fürchtet Euch um Jeliza-Rose und begreift; schaut diesen Film!
„It’s me, Jeliza-Rose, […] and just as excited as anything, 'cause today we are going on a GREAT TRIP!“