Review

In der Regel werte ich es eher als Nachteil wenn ein Regisseur keinen oder nur minimalen Anteil am Drehbuch seines Films hat. Zu oft zeugt das von mangelndem Interesse eines Regisseurs (im Falle einer Auftragsarbeit) oder von mangelnder kreativer Energie. Je nach Talent des Regisseurs – und seien es nur seine Vorzüge oder eben Schwächen als Autor – stellt sich dies gelegentlich aber auch als Gewinn heraus. Wie im Falle von Stuart Gordons „Edmond“. Der Regisseur von Kultsplatterfilmen wie „Re-Animator“ (1985), „From Beyond“ (1987) oder den modernen Gothic-Horror-Variationen „Castle Freak“ (1995) und „Dagon“ (2001) überrascht mit einem Film, der in einem für seine Verhältnisse schon beinahe kontroversen Ausmaß in menschliche Untiefen vordringt. Diese Tiefen schlummern in Edmond Burks, einem unauffälligen, biederen Bürohengst (William H. Macy) der eines Abend einen folgenschweren Entschluss fasst: In seinem Leben muss sich etwas verändern. Über fast 30 Jahre hinweg tiefer und tiefer in das Korsett des perfekten, durchschnittlichen und einfachen New Yorkers gepresst, ist Edmond jedoch unfähig, seinen plötzlichen Drang nach Freiheit und Leben in gesunde und gemäßigte Bahnen zu lenken und sich zu artikulieren was erwartungsgemäß in einer Katastrophe endet.

Es hat in den letzten Jahren viele Filme wie „Edmond“ gegeben, interessanterweise besonders aus den USA. Das Bedürfnis, den verkrampften, starren Zustand einer entmenschlichten und moralisch wie ethisch entarteten Gesellschaft auf diesem Wege offen zu legen scheint allerdings, ebenso wie diese Gesellschaft selbst, schon länger zu bestehen und das nicht nur in den USA. Nicht selten erinnert man sich zurück an Rainer Werner Fassbinders „Warum läuft Herr R. Amok“ der seinerzeit ungleich wütender aber mit recht ähnlichen Grundmotiven das deutsche Spießbürgertum – und damit auch einen Großteil der deutschen Bevölkerung – sezierte. In beiden Filmen endet die Befreiung der Protagonisten aus ihrem seelischen und materialistischen Gefängnis mit einem unvermittelt und aus Konfliktunfähigkeit heraus begangenen Mord. „Edmond“ stellt nun aber die schillernde Sardinenbüchse New York aus, unter deren gleißender, nobler Oberfläche die Menschen als objektivierte Fleischstücke lagern, eingefroren in emotionaler Kälte.

Edmond ist als eckige Rechenmaschine auf zwei Beinen geradezu prädestiniert, dieses Zustands besonders schmerzlich gewahr werden. Ohne großen Aufstand, nüchtern und gelassen trennt er sich verbal von seiner aufgebrachten Frau und stürzt sich in eine andere Welt – in das Nachtleben von New York. Eine fremde und gefährliche Welt. Nach einem zufälligen Gespräch mit einem Fremden an einer Bar verweist dieser Edmond an ein Etablissement, das sich schnell als Bordell entpuppt das er nach einer überaus peinlichen Begegnung mit einer Prostituierten (Denise Richards) mit hochrotem Kopf verlässt. Gleiches wiederholt sich später in einer Peep-Show, deren voyeuristisches Prinzip Edmond nicht begreift und aus der er, vom spöttischen Lachen der Tänzerin (Bai Ling) verfolgt, ebenso schnell flieht.

Die Fixierung auf freien und ohne eheliche Konventionen und romantische Pflichtgefühle ausgelebten, egoistischen Sex als Synonym für Freiheit und Ausbruch aus der eigenen, banalen Existenz führt Edmond schließlich auf die erste Stufe einer steilen Treppe ins Abseits. Von zwei schwarzen Trickbetrügern verprügelt und ausgeraubt, taumelt er ohne Zuhause und Geld durch die Straßen. Selbst der Pförtner eines schäbigen Hotels (Jeffrey Combs) verwehrt ihm einen Anruf bei der Polizei. Bezeichnend für die endgültige Wandlung Edmonds vom stillen Biedermann zum urbanen Outlaw ist sein wenig später folgender Besuch in einem Pfandhaus: Hier versetzt er seinen Ehering, jenes Symbol bürgerlicher Solidarität, kauft von einem Teil des Geldes ein scharfes Armeemesser, das ihm der Pfandleiher anbietet und haut den Rest „standesgemäß“ in einer Bar auf den Kopf wo er auch dem späteren, unschuldigen Opfer seiner frustrierten Eruption, Glenna (Julia Stiles) begegnet. Ab hier schwebt Martin Scorseses „Taxi Driver“ als stetige Inspirationsquelle für David Mamet, Autor des Drehbuchs und ihm zugrunde liegenden Theaterstücks, über dem Film. Nur das man das finale Desaster im Grunde als weitaus fataler wahrnimmt als jenes im Klassiker von 1976 von Robert de Niro angerichtete Blutbad – denn hier richtet sich geballte, aus Frustration und Selbstverleugnung erwachsene Wut auf die gesamte Menschheit willkürlich gegen eine einzelne, unbeteiligte Person.

Melancholischer, leiser Jazz, kühle Bilder die die Sterilität von Edmonds Umwelt einfangen, einer Stadt deren Bewohner ihre Mitmenschen sortieren, nach Aussehen, Einkommen und Funktionalität und William H. Macy sind die drei pragmatischen Grundsteine für das sehr wohl metaphysische Fundament von „Edmond“. Kurz nach einem mit seinem neuen Messer erfolgreich abgewehrten Angriff eines Straßenräubers spricht Edmond in der U-Bahn eine Frau an: „My mom had the same hat!“. Als die Frau unangenehm berührt aufsteht und Anstalten macht, ihren Sitzplatz zu wechseln springt Edmond auf und beginnt, in einer gewaltigen verbalen Explosion seiner Verzweiflung über unmenschliche und ablehnende Verhalten der Großstadtbewohner Raum zu machen wobei er auch auf jeden der anderen Passagiere deutet. Erst im Kontext mit der Realität und dem übrigen Film entfaltet diese Sequenz ihre volle Bedeutung für eine erfolgreiche Rezeption des Films: Jeder von uns wird schon einer ähnliche Situation beigewohnt haben, in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder auf der Straße: irgendein Betrunkener, Obdachloser, Rentner oder anderweitig „Auffälliger“, der wutentbrannt ganz unbedarft Gott, die Welt und die Menschheit im Allgemeinen anklagt. Die meisten Menschen gehen einem solchen Szenario verständlicherweise entweder spöttisch lächelnd oder aber unangenehm berührt aus dem Weg. Hier wird einer solchen, durchaus realistischen Situation eine dezent überzeichnete, aber nicht unglaubwürdige Einleitung vorangestellt und der Moment selbst aus der Perspektive des Protagonisten gezeigt – wodurch sich auch die Sicht des Zuschauers verändert, der sich – würde man die Sequenz aus ihrem Zusammenhang reißen – eher in der Nähe der Passagiere wähnen würde. Ein bezeichnender Moment. Immer wieder ist die dramaturgische Gratwanderung erstaunlich, die einem als Zuschauer stetige Kostümwechsel ermöglicht. Nahezu alle prägnanten Szenen des Films sind sowohl aus Edmonds Perspektive als auch aus der seiner Gegenüber nachvollziehbar, obwohl man Gordons Film ohne weiteres als „One Man Show“ von William H. Macy bezeichnen könnte, der mit ungeahnter Intensität und nuanciert seine gebrochene Figur auf die Leinwand transportiert und sich damit mühelos in die Reihe großer Charaktermimen in ähnlichen Rollen wie Joe Spinell („Maniac“), Erwin Leder („Angst“), Angela Bettis („May“), Philipe Nahon („Menschenfeind“) oder Klaus Kinski („Woyzeck“) einfügt.
Was auch immer man Stuart Gordon vorwerfen mag – vom Theater geschult, wo er seine Regie-Karriere begann, hatte er schon immer ein besonderes Gespür für Schauspielarbeit, das schon in seinem Debüt „Re-Animator“ – einer sonst eher durchschnittlichen, schwarzen Splatterkomödie – auffiel und auch hier tragend zur Geltung kommt.

Im letzten Abschnitt des Films sehen wir den inzwischen kahlgeschorenen Edmond in seinem tristen Gefängnisalltag – erleichtert, weil befreit von der Last seines bisherigen Lebens. Das Bett teilt er inzwischen mit seinem Zellennachbarn, einem bulligen Schwarzen, der ihn bei seiner Einweisung noch zu sexuellen Gefälligkeiten gezwungen hatte. Die Erinnerung des Zuschauers an Edmonds rassistische und homophobe Äußerungen während seiner letzten Nacht in „Freiheit“ sind noch präsent. Diese Schlusspointe mag aufgesetzt und plump wirken, ist aber nur ein gedanklicher Anstoß. Denn offensichtlich ist Edmond hier, hinter Gittern und abgeschottet von der übrigen Welt – freier, glücklicher und zufriedener als jemals zuvor, im Einklang mit sich selbst und hat durch die beinahe vollständige Befreiung der eigenen Person wie auch seiner Umwelt von materialistischem Leistungsdruck und anderen profanen Motivationen sowie der Einschränkung der sozialen Kontakte – die meiste Zeit verbringt er notgedrungen in seiner Zelle mit seinem Nachbarn – endlich erfahren, das zwischenmenschliche Beziehungen auch ehrlich sein und von reiner Sympathie getragen werden können. Ein sentimental verklärter oder gar optimistischer Schlusspunkt ist das nicht – nur die ironisch formulierte Frage, von welchen gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen und Normen sich ein Mensch wie Edmond befreien muss, um zu Wahrheit und Erfüllung innerhalb seiner menschlichen Existenz und in seiner Seele zu finden. Eine Frage, die sich – und hier schließt sich der Kreis – auch seine ehemaligen Mitmenschen aus den gleichen Gründen stellen könnten und letztlich in dem gleichen Gefängnis öffentlicher „Freiheit“ weiterleben. Das Ende von „Edmond“ darf also durchaus metaphorisch verstanden werden – das nur, um etwaige Ablehnung von pikierten Zuschauern zu vermeiden. Und Optimismus ist auch hier nicht auszumachen, schwingt doch selbst an diesem Punkt nicht nur ein Funken Hoffnung, sondern auch immer noch ein nicht gerade unterschwelliger Ton des Misstrauens mit.

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