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Als Vorlage für den dritten Spionagefilm in Folge dienten Hitchcock und Drehbuchautor Charles Bennett zwei Spionage-Kurzgeschichten von Somerset Maugham rund um die Abenteuer des Agenten Ashenden und eine Theaterfassung von Campbell Dixon: Der britische Offizier Edgar Brodie (Gielgud) wird vom Geheimdienst offiziell für tot erklärt und soll - mit dem falschen Namen Richard Ashenden ausgestattet - in der Schweiz einen feindlichen Spion ausfindig und anschließend unschädlich machen. Ihm zur Seite stehen Elsa (Madeleine Carroll), die sich fortan als seine Ehefrau ausgibt, und „der mexikanische General“ (Lorre), ein ungehobeltes Riesenbaby, das jedem ihm über den Weg laufenden weiblichen Geschöpf hinterherläuft und mit Freude andere Menschen meuchelt, sollte es nötig sein. Durch Zufall kommt das Trio dem vermeintlich Gesuchten auf die Spur. Was es nicht weiß: Es ist der Falsche...

Ja, es stimmt: Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem typischen James-Bond-Film läßt sich rein vom Inhalt her nicht leugnen. Richard Ashenden könnte glatt als Vorläufer seines ungleich bekannteren Kollegen durchgehen - ein charmanter Gentleman und gelegentlicher Macho, stets elegant gekleidet in exotischen Schauplätze stapfend (etwa durch die verschneiten Berge), umgeben von bizarren Gestalten (der General) und einem höchst attraktiven, sogenannten Bond-Girl (Elsa). Dennoch unterscheidet er sich in einem Punkt ganz gravierend von der Jahrzehnte später erfundenen Romanfigur Ian Flemings: Er hat wenig Freude an seinem aufregenden Job und obendrein Probleme damit, andere Menschen umzubringen - und als versehentlich ein Unschuldiger sterben muß (nicht durch seine Hand, sondern durch die des grobschlächtigen Generals), entwickelt er derartige Skrupel, daß er sogar kurzzeitig mit dem Gedanken spielt, seine Mission aufzugeben und mit Elsa, in die er sich verliebt hat, durchzubrennen. Bei Bond undenkbar! Das war ein Aspekt, der Hitchcock im Nachhinein störte, wie er Truffaut bereitwillig erzählte: „In ‘The Secret Agent’ hat der Held zwar eine Aufgabe zu vollbringen, aber die ist ihm zuwider, und er versucht, ihr auszuweichen. [...] Das ist ein negatives Ziel, und das Ergebnis ist ein Abenteuerfilm, der nicht vorankommt, der leerläuft.“ Diese Meinung teile ich gerade nicht mit dem Regisseur, denn dadurch bleibt Ashenden ein glaubwürdiger Charakter und erscheint nicht als unverletzlicher Übermensch wie Bond insbesondere in den neuerlichen Pierce-Brosnan-Effektspektakeln, wie überhaupt angemerkt werden muß, daß er für die Heldenrolle erstaunlich wenig Heldenhaftes leistet (selbst im Finale nicht), was man wiederum als großen Minuspunkt ansehen könnte. Andererseits: Wann sieht man schon einmal heutzutage einen Geheimagenten, der zum Erledigen seines Auftragziels so gut wie gar nichts beiträgt und alles mehr oder weniger dem Zufall oder seinem Kollegen überläßt? Das ist ja fast schon wieder innovativ.

Einmal mehr unendlich Spaß macht Peter Lorre, als „General“ mit gelockter Dauerwelle und einer Schwäche für junge Frauen selbst in Hitchcocks langem Filmschaffen ein echtes Unikum in Sachen Skurrilität. Seine damalige ausgeprägte Morphiumsucht machte allen Beteiligten das Leben schwer, davon sieht man ihm nichts an. Abermals reißt Lorre jede Szene an sich, immer an der Grenze zum Overacting wandelnd. Der übertriebene Wutausbruch des Generals, nachdem dieser von Ashenden erfahren mußte, für die Mission keine Partnerin zur Verfügung gestellt bekommen zu haben, ist albern und schlichtweg herrlich. Weniger zufrieden sein kann man damit, wie die weibliche Hauptfigur Elsa in dem Film wegkommt. Hitchcock, bekannt dafür, die Frauen in seinen Filmen nicht immer von ihrer besten Seite zu zeigen (in „Frenzy“ am deutlichsten), setzt Madeleine Carroll in allen ihren Auftritten zwar ausgezeichnet in Szene (kein Wunder: Er hatte sich nämlich während der Dreharbeiten in sie verguckt), präsentiert sie darüber hinaus aber als naives und nicht sonderlich helles Dummchen, für die das Agentendasein nichts als ein lustiges Spiel darstellt, weshalb man sich als Zuschauer mehr und mehr fragt, wie ihr Chef bloß auf die Schnapsidee kommen konnte, sie für diesen heiklen Auftrag auszuerwählen.

Womit wir nahtlos bei der Handlung wären: Sie auf Wahrscheinlichkeit abzuklopfen, das sollte man lieber gleich ganz unterlassen. Hier wimmelt es - reichlich unlogisch - nur so vor Spionen, nahezu jede Figur entpuppt sich als ein solcher, Ashenden läßt unbeaufsichtigt die falschen Ausweise von sich und seiner Scheinfrau im Hotelzimmer liegen und hantiert später unvorsichtig mit einem (dem einzigen!) wichtigen Mordindiz am Roulettetisch vor Dutzenden von Augenpaaren herum. Dem Mann, der sich später als an dem Spionagekomplott gänzlich unbeteiligt zu erkennen gibt, kommt man durch einen haarsträubenden Zufall auf die Schliche (ihm fehlt wie dem wirklichen Gesuchten ein Manschettenknopf) und alsbald stoßen Ashenden und der General auf die als grundsolide Fließbandarbeiter getarnten feindlichen Spione in einer Schokoladenfabrik, die dafür, daß sie sich aufgrund der unwillkommenen Gäste möglichst unauffällig verhalten müßten, viel zu fahrlässig mit ihren geheimen Zettelbotschaften umgehen.

Logische Ungereimtheiten hin oder her - Hitchcocks ausgeprägter Sinn für schwarzen britischen Humor, der sich in den vorherigen Werken des Vielfilmers bereits andeutete, schimmert an allen Ecken und Enden durch, vor allem in der wesentlich witzigeren (und auch gelungeneren) ersten Hälfte. Die Eingangssequenz ist dafür ein Musterbeispiel, wenn der Sarg des vermeintlich toten Brodie/Ashenden unter größter Anstrengung von einem einarmigen (!) Butler abtransportiert werden soll, oder die Szene in der Kirche, als sich Ashenden und sein Partner auf der Suche nach ihrem Kontaktmann über die Herkunft eines lauten, nicht enden wollenden brummenden Tons wundern und sehr bald feststellen müssen, daß er durch den Kopf des getöteten Kirchenmusikers auf den Orgeltasten verursacht wird. Ähnlich einprägsam, wenn auch weniger aus komischen als tragischen Gesichtspunkten die Parallelmontage, in der das herzzerreißende Gejaule eines Hundes und dessen Gekratze an der Haustür - als besäße er telepathische Fähigkeiten (ja, auch das ist mehr als unlogisch) - drohendes Unheil ankündigen, weil der General - aus sicherer Entfernung vom mordunwilligen Kollegen Ashenden beobachtet - jeden Moment das Herrchen einen Berg herunterschubsen wird. Der Mord könnte weniger aufsehenerregend nicht inszeniert sein, die Vorbereitung darauf weckt mit wirkungsvoll aneinandermontierten Bildern jedoch höchste Aufmerksamkeit und Anteilnahme.

Von echter Fingernägelkauen verursachender Spannung kann auch hier noch nicht die Rede sein, das Ende fällt vergleichsweise unauffällig und unspektakulär aus, auch wenn wir abschließend in den Genuss einer Zugkarambolage, der singulären Actionszene des Films, kommen, die heutigen Standards bei weitem nicht mehr genügt und inzwischen geradezu einen erschreckend lachhaften Eindruck macht, weil sich die entgleisende Eisenbahn überdeutlich als Modell identifizieren lässt. Ansonsten ist „Secret Agent“ technisch sauber. Im Besonderen bei der Szene in den Bergen sind die umfassenden Studiokulissen professionell genug aufgestellt und die Rückprojektionen so klug gewählt, dass man nicht meckern kann.

Nach dem - wie gesagt - etwas holprig und episodenhaft aufgebauten „Die 39 Stufen“ kann man Hitchcock bei „Secret Agent“ eine sichtbare Verbesserung bescheinigen. Deutlich zurückgefahren wurde das Tempo, dafür gerät die Exposition ausführlicher und die Charaktere sind besser gezeichnet als beim Vorgänger. Außerdem sorgen einige köstliche und zumindest in der englischen Originalfassung zweideutige Dialoge sowie ein wunderbarer Peter Lorre für ausreichend Heiterkeit. An dem kurzweiligen Gesamteindruck kann die düstere, etwas schwächelnde Schlußhalbestunde nicht ernsthaft rütteln. „Der Film war voll von Ideen, aber im Ganzen etwas mißglückt“, meinte Hitchcock rückblickend (in Truffauts „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“). Kein Einspruch! Gut ist er aber trotzdem. 7/10.

(Originalartikel auf www.kinetoskop.de)

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