(Diesem Review liegen Informationen aus dem Booklet der DVD-Collection „The Early Years“ zugrunde.)
Alfred Hitchcock sagte über seine Filme einst, sie seien wie ein Stück Kuchen. Geht man von diesem Zitat aus, ist „The Lodger“ zwar kein fertiges Backwerk, dafür aber ein großes Küchenbrett, auf dem sich die leckersten Zutaten nebeneinander aufbahren. Eine ausgewogene Mischung ist noch nicht da, aber womit Hitchcock backt, das sollte sich von Beginn an bis zum Ende niemals ändern.
Der Stummfilm von 1926 ist zwar nicht Hitchcocks erster Film, aber doch der erste, der veröffentlicht wurde – und sogleich war er von wesentlichem Erfolg geprägt, so dass schließlich auch die Vorgängerfilme uraufgeführt wurden.
Die Geschichte bleibt basierend auf Marie Belloc-Lowndes Roman „The Lodger“ relativ konventionell, was vor allem daran liegt, dass die Auflösung gegenüber der Vorlage massenkompatibel abgeändert wurde (insbesondere in Hinblick auf das Image von Ivor Novello, der den Mieter spielt). Wo heute nämlich alles nach Innovation und unerwarteten Wendungen schreit, galt es damals, das Publikum nicht zu überfordern, war der Film doch erst wenige Jahrzehnte alt. So gibt sich die Geschichte als solche recht simpel und halbwegs vorhersehbar, jedoch dem Zeitgeist entsprechend, was das Interesse an der Thematik betrifft.
Was hier jedoch viel mehr interessiert, ist die Inszenierung, die in vielerlei Hinsicht Hitchcocks spätere Meisterwerke erahnen ließ und in Anbetracht der Innovativität des Gezeigten möglicherweise zu Recht als bester britischer Film der Zeit erachtet wurde.
Wie nur wenige, vielleicht auch gar keine anderen Werke bis dato vermochte es Hitchcock nämlich schon hier, eine stechende und jederzeit präsente Atmosphäre aufzubauen. Im Stummfilm kann dies natürlich nicht über den Dialog vonstatten gehen; um so mehr sticht die musikalische Untermalung hervor, die hier wie ein unheilvolles Wechselbad der Emotionen anmutet. In beinahe unregelmäßiger Regelmäßigkeit wechseln sich klassische, fröhlich wirkende Trompeten- und Orchestertöne ab mit unbehaglichen Streichern. Erstere erinnern an den x-beinig getanzten „Charleston“, der in der hedonistischen Nachkriegsgesellschaft zum Ausdruck der verschwenderischen Ausgelassenheit wurde. Ihre Funktion hier besteht darin, einen möglichst bizarren Kontrast zu den letztgenannten Streichern darzustellen, die als eigentlicher atmosphärischer Klimax fungieren und in Folge der zuvorgehenden beruhigenden Normierung besonders spannungsreich ihre Wirkung entfalten können. Und geben sich die fröhlichen Klänge noch eher als Zitierung der Zeit, verbreiten die unbehaglichen Kompositionen Hitchcockschen Individualismus, der noch beinahe ein halbes Jahrhundert lang begeistern sollte. Genau hier beginnt das Novum, das „The Lodger“ von anderen Filmen der Zeit abtrennte.
Aber auch visuell setzte Hitchcock bereits unverwechselbare Akzente. Das beginnt bereits in der ersten Szene, bei der wir als Zuschauer fast mit Tunnelblick die hysterische Aufgeregtheit der Szenerie miterleben dürfen und einem fahrenden Wagen über die Schulter schauen, während die Menschen am Strassenrand aufgebracht hin- und herscheuchen, während die Schlagzeilen der Tageszeitung im close-up eingeblendet werden und das Dunkel in einen bis dahin ruhigen Ort einbricht, für den Morde bis dahin wie die Sagen aus einer fernen Welt erscheinen.
Das optische Highlight ist aber sicherlich der Mieter, wie er ein Stockwerk höher aufgeregt hin- und hergeht, was durch das „Durchsichtigmachen“ der Decke veranschaulicht wird. Zu diesem Zweck ließ man Ivor Novello über eine Glasplatte gehen, die von unten gefilmt wurde, wodurch der Effekt entstand, dass man durch die Decke ins darüberliegende Zimmer hineinsehen konnte. Würde man dies in der heutigen Zeit durch aufwändige Special Effects lösen, die je nach Regie letztendlich vermutlich nur von der intendierten Wirkung ablenken würden, ist die Wirkung dieser raffiniert getricksten Szene unglaublich stark: Hitchcocks Primärziel, die Akteure bis zum Ende hin möglichst unberechenbar und geheimnisvoll erscheinen zu lassen (was er wegen äußerer Zwänge nicht bis in die Auflösung des Films hineinretten konnte), wird hier eindrucksvoll dokumentiert.
Entsprechend der genannten Aspekte verfliegen die 70 Minuten wie im Traum, wobei selbst nach heutigen Sehgewohnheiten kaum Langeweile aufkommt. Dafür fordert Hitchcock sein Publikum schon zu sehr und lässt es aktiv in den Verlauf mit hineinfliessen. Am Ende besitzt er sogar die Dreistigkeit, die Regeln und Regularitäten der bisherigen Filmhistorie und von Geschichten im Allgemeinen ironisch auf den Arm zu nehmen, was ein lockeres Aufspielen beweist, das mit der aufsehenerregenden Inszenierung einhergeht.
Die Schauspieler verlieren sich allerdings entsprechend der Konventionen des Stummfilms im Overacting, das durch die übertriebene Maske noch ausgereizt wird. Eine Bewertung des Schauspiels nach gängigen Maßstäben muss daher zwangsläufig entfallen, zumal Stummfilmdarsteller bei Ausflügen in den Tonfilm nicht selten auf die Nase fielen. Insgesamt ist das Acting jedoch nicht den sonstigen Innovationen des Films zuzusprechen, da man es in der Form auch in zahlreichen weiteren Filmen der Zeit finden konnte, womit die angesprochene Anspielung auf die Zahnräder narrativer Strukturen durch diesen Aspekt nicht verstärkt wird.
Nach 70 Minuten hat man eine atmosphärisch verblüffend packende und innovativ inszenierte, dafür jedoch allzu simple Geschichte miterlebt, die in vielerlei Hinsicht das Potential Hitchcocks erahnen lässt. Zwar sind die neuwertigen Einbindungen noch relativ selbstgebunden und vermischen sich kaum so ergiebig wie in den späteren Karrierehöhepunkten um „Psycho“ oder „Der unsichtbare Dritte“, doch reichte Hitchcocks Erzählweise aus, um Aufmerksamkeit zu erregen. Da war durchaus noch etwas rauszuholen, und das tat der Meister der Erzählkunst schließlich in mehr als 50 Anläufen erfolgreich.