Während die Menschheit gerade die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs verarbeitet, steht ein Fleckchen Erde im finnischen Lappland still. Es ist ein aufrührendes, ein lautes Jahrzehnt, das sich hier dem Ende neigt. Die Oberfläche eines kleinen Sees, die unter einer Nebelwand glitzert, nimmt davon keine Notiz. Da ist nur das Plätschern, verursacht durch leichte Unebenheiten auf dem Wasser, übertönt vom schrillen Lachen der Menschen in einem Boot, deren primitive Artikulation an diesem abgeschiedenen Ort einfach mal eben Weltgeschichte überschreibt.
In dem keineswegs vom Raum, aber doch zweifellos von der Zeit entbundenen Sozialdrama mit dem lyrischen Titel „Die Erde ist ein sündiges Lied“ wird der Geltungsrahmen besonders eng gefasst. So eng, dass nicht einmal Finnland im Ganzen hineinpasst. Einmal unterhalten sich zwei Einheimische kurz angebunden über eine Reise nach Helsinki, von der sie offenbar keine Horizonterweiterung mit in die ländliche Heimat genommen haben, sondern bloß ein paar Geschlechtskrankheiten. Relevant ist am Ende nur, was sich innerhalb der Grenzen des Dorfes abspielt; zwischen Frau und Mann, Mensch und Tier, Gott und Mensch. Alles bleibt in den Wechselwirkungen eines autarken Kreislaufs gebannt, alles bleibt auf Tuchfühlung mit dem Erdreich und alles geht in einer einzelnen, endlosen Melodie auf. Damit verdient sich Rauni Mollbergs Adaption den Namen des zugrundeliegenden Romans von Timo K. Mukka.
Nicht nur das Lappland-Setting, auch die ungewöhnliche Ausdruckskraft der Bilder erinnert an den 21 Jahre zuvor entstandenen Folklore-Horrorklassiker „Das weiße Rentier“ (1952) von Erik Blomberg. Stilistisch bestehen allerdings markante Unterschiede. Während Blomberg in seinen Schwarzweiß-Kompositionen von der übernatürlichen Verführung der Vampirmythologie Gebrauch machte, was nicht zuletzt dank der hypnotischen Ausstrahlung von Mirjami Kousmanen problemlos gelang, setzt Mollberg im Gegenteil auf einen zermürbenden Naturalismus, der sich durch den Kontrast menschlicher Hässlichkeit inmitten unberührter finnischer Landschaft ergibt. Wo ein Lappländer die Szenerie betritt, verdrängt er die Schönheit regelrecht aus dem Bild. Ist bereits seine Physiognomie ausnahmslos von schiefen Proportionen gekennzeichnet, sein Körper von Deformationen und sein Geist vom trüben Ausdruck der Einfältigkeit, zieht er noch dazu eine schmutzige Wolke existenzieller Furcht mit sich, die den Blick auf die idyllische Landschaft endgültig versperrt. Detailaufnahmen von schlechten Zähnen und speckige Falten aus entblößten Leibern sind es vielmehr, die sich ins Gedächtnis bohren, dazu absonderliche Angewohnheiten, garniert mit grausamen Episoden menschlichen und tierischen Leids, das sich aus der Einfachheit des Lebens ergibt.
Obgleich hier ein finnischer Regisseur die geistigen Erzeugnisse eines finnischen Autoren verfilmt, bietet sich der Blick auf etwas durchweg Entartetes; auf das Nicht-Eigentliche von außerhalb, ein fremdartiges Objekt auf einem kalten Seziertisch. Mollberg betreibt radikale Alterisierung, indem er eine scharfe Grenze zieht zwischen dem, was er als Erschaffer repräsentiert, und dem, was er andererseits modelliert – fast so, als wolle er sich einen Fremdkörper aus dem eigenen Fleisch schneiden. Das Handeln seiner Figuren verurteilt er dabei ebenso wenig unmittelbar wie er es gutheißt. Empathie jedweder Art bleibt ohnehin völlig außen vor, eine Romantisierung findet trotz der idyllischen Beleuchtung durch die finnische Wintersonne zu keiner Zeit statt. Die Kamera beobachtet lediglich mit wachsamem Auge die Abweichungen von den Errungenschaften moderner Zivilisation. Schamgefühl spielt kaum noch eine Rolle, wenn sich die von Hauptdarstellerin Maritta Viitamäki offenherzig demonstrierte Freikörperkultur weit über die Sauna hinaus ihren Weg in den Alltag gebahnt hat und überdies mitten im Winter auch noch die jugendliche Libido erwacht. Sexuelles Verlangen, Alkoholismus, Eifersucht und weitere Sünden kollidieren nun fortlaufend miteinander und vermengen sich ausgerechnet vor den richtenden Augen Gottes zu einem Dunst, der sich mit dem Nebel über dem See vermengt und ebenso wie die Blutlachen geschlachteter Rentiere Löcher in den Schnee frisst.
Dass eine Sozialstudie mit solch radikalen Mitteln und ohne Rücksicht auf das ästhetische Empfinden des Betrachters eine aufwühlende Wirkung hinterlassen muss, versteht sich von selbst. Einige Szenen sind wahrlich schwer zu ertragen, weil sie die Unerbittlichkeit im Kreislauf des Lebens auf eine besonders drastische Weise illustrieren. Gleichwohl ist der vermeintliche Naturalismus, der in den erdigen Farbkompositionen lebt, nur ein überzeugend nachgestellter Schein. „Die Erde ist ein sündiges Lied“ bedient offensiv Vorurteile gegenüber dem primitiv erscheinenden Landvolk, dessen Handeln vor allem über Bigotterie definiert wird. Gottesfurcht kollidiert dabei ungebremst mit dem Hang zum gotteslästerlichem Handeln. Der Zusammenhang fällt den Handelnden dabei oft nicht einmal dann auf, wenn Beides in einem Satz zur Sprache kommt. Der hier dargestellte Mikrokosmos gerät dadurch zunehmend zum spottenden Zerrbild moralischer Aufrichtigkeit.
Diese recht einseitige Darstellung kann man Mollberg durchaus zum Vorwurf machen, gerade weil sein dramaturgisches Konzept nicht derselben karikaturistischen Logik folgt, sondern auf natürlichem Wege mit dem Wechsel der Jahreszeiten einfach ausläuft – halb poetisch, halb dokumentarisch. Dass der Film an diesem Zwiespalt nicht zerschellt, liegt an der feinen Detailzeichnung der Figuren. Manchmal blitzen für Sekundenbruchteile Zweifel und Selbstreflexion in ihrem Verhalten auf, auch von eindeutigen Gut-Böse-Kategorisierungen wird Abstand genommen. Die Dinge sind bei näherem Hinsehen doch nicht immer so einfach, wie sie scheinen. Wenn etwa eine Gruppe von drei Personen aufopferungsvoll um das Leben einer Kuh kämpft, die unter Komplikationen ein Kalb gebiert, wird die unendliche Last spürbar, die diesen vermeintlich so tumben Landbewohnern von einer höheren Gewalt auferlegt wird. Die widersprüchlichen Entscheidungen der Figuren werden also nicht immer als moralische Schwäche interpretiert, sondern auch als Menschlichkeit in all ihrem Facettenreichtum. Mit Zynismus gestraft wird dabei das Böse in Gestalt der Natur, nicht jene, die nach den Gesetzen der Natur handeln.
Über jeden Zweifel erhaben ist das Formale. Mollberg weiß bereits in seiner ersten Regiearbeit ganz genau, welche Wirkung er mit welchen Mitteln zu erzeugen hat, was nicht ganz so überraschend ist, wenn man bedenkt, dass er zu jenem Zeitpunkt bereits 20 Jahre Erfahrung in Theater und Fernsehen gesammelt hatte. Die Arrangements sind ganz bewusst so vorausgeplant, wie man sie nun ohne Kompromiss im Endschnitt vorfindet. Jede Anweisung hat Methode. Gerade die Schauspielführung sticht heraus, der nahezu ausschließlich mit Laien besetzte und dadurch hohe Authentizität verströmende Cast bewegt sich wie ein einzelner Organismus durch den Film, dessen Glieder eigenwillige Entscheidungen treffen mögen, die im Ganzen aber einer Linie folgen.
Im Nachhall hinterlässt „Die Erde ist ein sündiges Lied“ dann doch eine gewisse Leere, weil man nicht so recht weiß, wie man umzugehen hat mit den drastischen, bisweilen auch provozierenden Bildern. Das hat auch damit zu tun, dass eine gewisses Gefühl der Handlungsunfähigkeit bewusst suggeriert wird. So unterkühlt der Blick auf diese fast außerirdisch wirkende Parallelwelt im finnischen Norden erscheinen mag – die Frustration, die bei ihrer Betrachtung entsteht, ist in jedem Fall real.