„Everything counts in large amounts…“
Es ist müßig, die Band DEPECHE MODE (oder wie ich sie im Vorschulalter nannte: Dieper Schmod) vorzustellen. Den britischen Synthie-Pop/Wave-Pionieren ist das Kunststück gelungen, sowohl mega-erfolgreich als auch eine Kultband zu sein, indem sie sich nicht am ‘80er-Mainstream orientierte, sondern ihn mit ihrem Auftreten zwischen Modernismus und Postmoderne veränderte und prägte.
Als man in der zweiten Hälfte der 1980er einen Band-Film andachte, heuerte man nach verschiedenen konzeptionellen Überlegungen den erfahrenen US-amerikanischen Dokumentarfilmer D.A. Pennebaker an, der bereits mit Bob Dylan, Alice Cooper und David Bowie zusammengearbeitet hatte. Dieser warf anscheinend sämtliche Ideen über Bord und setzte seine eigenen Vorstellungen eines entschlackten, unterhaltsamen, kinotauglichen Films durch. Das zusammen mit den Regisseuren Chris Hegedus und David Dawkins Ergebnis „101“ konzentriert sich auf die größte Stärke DEPECHE MODEs: ihre Musik. So begleitet das Filmteam die Band auf dem finalen USA-Abschnitt ihrer 101 Konzerte umfassenden Welttournee zum sechsten Studioalbum „Music for the Masses“, die ihren Abschluss und Höhepunkt am 18. Juni 1988 im Rose Bowl Stadium in Pasadena, Kalifornien, findet, wo MODE vor 60- bis 70.000 Fans spielen und ihnen der endgültige Durchbruch auch in den USA gelingt.
Außerdem wählte man aus einer Vielzahl Interessentinnen und Interessenten eine Gruppe Jugendlicher aus, die „Bus Kids“, die der Band von Konzert zu Konzert in einem eigens gecharterten Bus hinterherfahren und ihr gelegentlich auch persönlich begegnen. Das fertig geschnittene Resultat ist eine zweistündige unkommentierte Collage aus hochqualitativen, faszinierenden Live-Aufnahmen verschiedener Orte, Backstage-Momentaufnahmen, ein paar kurzen Interviews und einer Art beiläufigem Porträt des Selbstverständnisses sowie der Lebenseinstellung und des Lebensgefühls von DEPECHE-MODE-Fans anhand der „Bus Kids“, wobei man eher exaltierte, expressionistische Exemplare auswählte. Diese repräsentieren bevorzugt einen tief in den ‘80ern verwurzelten, subkulturellen Mode-Chic, dem noch deutlich die Verwandtschaft zum Punk anzusehen ist, den sie jedoch hinter sich lassen und sich moderneren Klängen hingeben wollen. Diese Menschen sind lebenslustig, nicht unsympathisch und sehen (verglichen mit manch ‘80er-Modeverirrungen) so klasse aus, dass sie in entsprechenden Kreisen auch heute im Prinzip genauso auftreten könnten, ohne wie Relikte einer vergangenen Zeit zu wirken.
Ihre tatsächlichen Berührungspunkte mit der Band sind indes rar gesät. Man reist getrennt und nächtigt getrennt, zu einer Verschmelzung von Band und Fans kommt es nicht. Dennoch hätten sicherlich nicht wenige ihren linken Arm dafür gegeben, dabei sein zu dürfen – nicht nur wegen all des Spaßes, den man offenbar hatte. Nichtsdestotrotz sollte man nicht dem Irrtum erliegen, die „Bus Kids“ als stellvertretend für typische DEPECHE-MODE-Fans zu erachten – es ist davon auszugehen, dass ihre Kameratauglichkeit eine entscheidende bei ihrer Wahl gespielt hat. Und falls Pennebaker im Sinn hatte, anhand dieses Konzepts eine besondere Fan-Nähe der Band zu suggerieren, ist dies nicht gelungen.
In der Live-Situation wirken die DEPECHE-MODE-Songs kühl-distanziert und organisch zugleich, stärker als die Studioaufnahmen. Sowohl Dave Gahans Performances als Frontmann und Leadsänger als auch die der Musiker, die verdeutlichen, welche Klänge elektronisch erzeugt werden und welche eben nicht, wurden perfekt eingefangen und vermitteln ein viel intensiveres Gefühl für die Musik der Band als es die immer gleichen durchs Radio gejagten Single-Hits tun. Alan Wilder gewährt dann auch ein paar technische Einblicke in seine Synthesizer-Keyboards, wobei es der Film aber belässt. Den größten zusammenhängenden Abschnitt bilden die Aufnahmen des Rose-Bowl-Freiluftkonzerts, das zu einem überwältigenden Ereignis für Band und Fans geriert und unmissverständlich die eingangs aufgeworfene Frage klärte, ob man jene Arena überhaupt vollbekommen würde. Selten hat man einen Dave Gahan so glücklich gesehen, die Bilder spiegeln die Magie der Musik perfekt wider. Parallel zu – passenderweise – „Everything Counts“ wird im Hintergrund das Geld gezählt und der Erfolg auch aus ökonomischer Sicht seitens des Managements gefeiert.
Meines Erachtens befand sich die Band damals auf ihrem Zenit (ohne den weiteren Verlauf ihrer Karriere schmälern zu wollen). Das parallel veröffentlichte Live-Doppelalbum „101“ ist aufgrund seines Best-of-Charakters und seiner unvergleichlichen Live-Atmosphäre mein persönlicher Favorit innerhalb der DEPECHE-MODE-Diskografie. Sicherlich kann man monieren, dass dieser Film lediglich an der Oberfläche kratzt, zu wenige Fragen stellt bzw. beantwortet, nie wirklich intim wird und die Band weder kulturell einordnet noch musikhistorisch aufarbeitet. Dagegenhalten könnte man, dass DEPECHE MODE und die Bilder dieses Films für sich selbst sprechen. In jedem Falle macht es irre Spaß, sich dieses wichtige Stück konservierter ‘80er Populärkultur anzusehen – und dazu geeignet, dieser Musik bisher indifferent gegenüberstehende Menschen anzufixen, ist es zweifelsohne. Wiederentdeckenswert!
P.S.: Leider hatte man es damals versäumt, das Rose-Bowl-Konzert vollständig mitzuschneiden. O.g. Doppelalbum allerdings setzt sich angeblich komplett aus den Rose-Bowl-Aufnahmen zusammen. Im Film allerdings werden diese mitunter anderen Konzerten zugeordnet. Hatte man also zumindest den Audioteil in der Rose-Bowl-Arena komplett aufgezeichnet und den Auftritt lediglich nicht vollständig mitgefilmt? Und hat man dann also die Bilder anderer Konzerte mit dem Ton aus der Rose-Bowl-Arena unterlegt? Das ist mir noch nicht klar. Für sachdienliche Hinweise bin ich dankbar.