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Zu Beginn der dreißiger Jahre verabschiedet sich Martin Schulz in Amerika von seinem Freund Max Eisenstein. Die beiden haben in München und San Francisco einen Kunsthandel aufgezogen, und Schulz geht jetzt wieder zurück nach Deutschland. Max‘ Tochter Griselle, die eigentlich Schulz‘ Sohn Heinrich heiraten wollte, geht ebenfalls nach Europa: Sie will Schauspielerin werden, während Heinrich in Amerika bleibt und auf die Rückkehr seiner Angebeteten wartet.
Zurück im Deutschen Reich lernt Schulz den Baron von Fleischer kennen, über den er Karriere in der aufstrebenden Partei macht. Er ist kein großes Licht im Apparat, aber einer der seine Pflicht tut. Einer von denen, die man sehr viele Jahre später dann “Mitläufer“ nennen wird. Noch steht er in regem Briefkontakt mit seinem Freund Eisenstein, bis der Baron ihm nahelegt, dies aus Gründen der Staatsräson zu unterlassen: Briefe von Juden können auch als Verrat ausgelegt werden.
Eines Abends hat Griselle, die ihren Nachnamen aus künstlerischen Gründen in Stone geändert hat, ihren großen Auftritt in einem Theater, doch der anwesende Zensor enttarnt sie als Jüdin, und der Mob will sich auf sie stürzen, das Monster zu verbrennen. Griselle kann entkommen und flüchtet zu Schulz, doch der verwehrt ihr den Schutz, weswegen sie von den uniformierten Häschern erschossen wird. Ab diesem Zeitpunkt wird Schulz‘ kleine Welt auf den Kopf gestellt: Seine Frau distanziert sich zunehmend von ihm, aber viel schlimmer sind die Briefe, die er aus San Francisco bekommt, und die ganz offensichtlich einen ihm unbekannten Code enthalten. Und von den Zensurbehörden geöffnet wurden!

ADDRESS UNKOWN beginnt heiter-verspielt, als Mittelding aus einer Peinlichkeit in gebrochener amerikanischer Sprache  und einem Lustspiel für die deutsche Gemeinde in den USA (allein die Aufzählung typisch deutscher Speisen wie Gänsefleisch und Königsberger Klopse erzeugt Hunger und Heimweh zugleich). Putzig, dass im englischsprachigen Dialog ein paar wenige deutsche Worte auftauchen – Von Immigranten schnell gesprochen, ist das etwas ganz Natürliches, was hier für viel Realismus sorgt, und im Kinosaal die Sympathie der aus dem deutschsprachigen Raum kommenden sicher klar gemacht hat. Aber zurück in Deutschland ist das Ende der Heimeligkeit und der Gemütlichkeit schnell erreicht. Stattdessen wird eine unheimliche Spirale in das sichere Verderben in Gang gesetzt. Eine Erwähnung Adolf Hitlers in einem Münchener Lokal (laut dem damaligen Werbematerial eine exakte Nachbildung der von Hitler besuchten Kneipe), dadurch die Aufmerksamkeit eines Parteimitglieds, markige Worte die auf fruchtbaren Boden fallen: Wie vielen Menschen mag es damals ähnlich gegangen sein …? Und wie vielen Menschen im Publikum mag die Erinnerung an die eigene Verwandtschaft oder an den eigenen Freundeskreis gekommen sein, wo sich Menschen begonnen haben anders zu verhalten, fremd zu werden …?
Dank der außerordentlich gelungenen Kameraarbeit von Rudolph Maté (GILDA, DIE LADY VON SHANGHAI und unendlich vieles mehr) wird der Zuschauer in diesen Teufelskreis förmlich hineingesaugt, geht man den schrecklichen Weg von Schulz sehenden Auges mit, und kann doch nicht eingreifen. Die Charaktere stehen im Schatten, sie versuchen verzweifelt ins Licht zu kommen, aber die Silhouetten von Gitterstäben stehen dagegen. Bei der Flucht über das Land wirken sogar die Stämme der Birken wie Gitterstäbe, die Griselle festhalten wollen. Unendlich eindrucksvoll auch der Moment, wenn Griselle nach Hause kommt und Baron von Fleischer im Dunkel steht. Und dort auch für einige Dialogzeilen bleibt. Er geht nicht  ins Licht und spricht seinen Text, wie es jeder vernünftige Schauspieler tun würde, sondern er bleibt für einige Zeit stehen – als Mahnmal des Schreckens, als gesichtslose Drohung aus dem Reich der Dunkelheit. Hochgradig beeindruckend!

Auch der Tod von Griselle geht unter die Haut. Immerhin ist K.T. Stevens die junge, hübsche, blonde Heldin, und man erwartet eigentlich, dass sie nach einigen Querelen davon kommt. Zwar verletzt, aber heil zurück zu ihrem Heinrich. Von wegen: Schulz zieht die Tür vor ihren Augen zu, das letzte was wir von ihr sehen ist, wie Schatten über ihr Gesicht fallen, und Schulz hört hinter der Tür mit an, wie sie erschossen wird. Da braucht es keine dramatischen Bilder und keinen Todeskampf, da reichen das Bild des zerbrechenden Schulz und die Schüsse auf der Tonspur vollkommen aus, um den Zuschauer in fassungsloses Entsetzen zu stürzen. Und Schulz ebenfalls. Die Szene wird dann aber tatsächlich nochmals gesteigert, als Schulz‘ Frau die Treppe herunterkommt, erkennt was er getan hat, und er ihr während des Wütens der SA-Leute auf der anderen Seite der Türe den Mund zuhält, damit sie sich nicht verrät. Ihr Grauen über die Tat ihres Mannes ist deutlich zu spüren und ist tatsächlich einer der stärksten Momente, die ich in einem Thriller jemals gesehen habe. DVD Beaver vergleicht ADDRESS UNKOWN mit Hitchcock,  und dem kann ich nur rückhaltlos zustimmen: Raymond Burr, der in DAS FENSTER ZUM HOF erkennt wer ihm auf der Spur ist, und James Stewart und den Zuschauer direkt anfunkelt und nur mit einem Blick puren kalten Tod verspricht. Diese Art Schrecken meine ich ..

Die Schlinge um Schulz zieht sich erbarmungslos zusammen, die geheimnisvollen Briefe aus San Francisco stoßen ihn  mitleidlos in das Verderben. In einen Abgrund, aus dem es kein Entkommen gibt. Das Parteibüro, aus dem er in einer früheren Szene gemeinsam mit von Fleischer stolz und geadelt herausgekommen ist, verlässt er jetzt als gebrochener Mann mit hängenden Schultern und schlurfendem Schritt. Seine Frau kann für sich noch die Reißleine ziehen, aber Schulz merkt erst viel zu spät, dass der Baron nicht der Freund ist für den er ihn gehalten hat. Und die letzten Bilder des Films, die ohne Worte die tatsächliche Herkunft der Briefe erklären, sind dann auch noch mal ein Schlag in die Magengrube.

Wie mag sich ein Schauspieler fühlen, wenn er eine Rolle spielt, die seiner eigenen Vergangenheit diametral entgegensteht. Tomas Milian, dessen Vater vom Batista-Regime ermordet wurde, spielt in HAVANNA einen Folterschergen ebendieses Batista-Regimes. Was haben die Schauspieler 1944 empfunden, die zum Teil ihre Erfahrungen mit den Nazis gemacht hatten? Willy Eichberg, dessen englisches Pseudonym Carl Esmond ist, war gebürtiger Wiener, der irgendwann nicht mehr zurück in das dann bereits angeschlossene Österreich wollte. Mady Christians, die 1933 in die USA emigrierte. Die große Ilka Grüning, bei der unter anderem Inge Meysel, Lili Palmer und Brigitte Horney gelernt haben, und die 1938 Deutschland verlassen hat, hat hier eine winzige Nebenrolle als Großmama. Der Regisseur und Schauspieler Erwin Kalser, der 1933 in die Schweiz gegangen ist. Lutz Altschul, der hier als Louis V. Arco eine kleine Rolle hat, und ebenfalls 1933 fortgegangen ist. Sie alle lassen ihre eigenen Lebensläufe  in ihre Figuren einfließen, was für den Zuschauer zu einem sehr intensiven Seherlebnis wird. Vor allem eben auch mit dem Wissen, dass die meisten der hier vor und hinter der Kamera versammelten Künstler aus Europa stammen. Paul Lukas, als Pál Lukács in Budapest geboren, ist neben Peter van Eyck einer der wenigen, die schon vor der Machtergreifung der Nazis in den USA gelebt und gearbeitet haben. Aber bei beiden ist deutlich zu spüren, dass eine „Was-wäre-wenn …“-Haltung gespielt und gelebt wird: Was wäre, wenn wir im Deutschen Reich geblieben wären? Paul Lukas erinnert mich in seiner Leutseligkeit oft an Siegfried Schürenberg: Jovial, vertrauensselig, bieder – Wie man sich einen Mitläufer eben so vorstellt. Einen, der zu spät erkennt, in welchem Spinnennetz er sich verfangen hat, und jetzt nicht mehr rauskommt. Einen, der aber doch klug genug ist zu erkennen, dass er unendliche Schuld auf sich geladen hat. Die Darstellung von Lukas geht in allen Szenen unter die Haut, ich hatte nicht ein einziges Mal das Gefühl, einen Schauspieler bei seiner Arbeit zu betrachten …

Und neben den schauspielerischen Leistungen auch immer wieder die Kameraführung, die den Film vor dem möglichen Propagandavorwurf schützt und ihn aus der Masse heraushebt. Classic Film Freak schreibt, dass ADDRESS UNKOWN einige der feinsten Aufnahmen enthält, die jemals in Schwarzweiß gedreht wurden. Was ich uneingeschränkt unterschreibe. Allein die Inszenierung der Theateraufführung, bei der Griselle schlussendlich als Jüdin angeprangert wird, ist bei aller Plakativität ein großartiges Spiel aus Licht und Dunkelheit: Die Nonnen, die langsam und rhythmisch über die Bühne gleiten, während allmählich das Licht zuerst Griselle erfasst und dann über eine Marienstatue gleitet, bis auf fast zärtliche Weise ein Dom aus Licht, eine Burg aus Glauben und Wärme geschaffen wurde – Eine Gänsehautszene, die dann von dem kleinen, geifernden Zensor auf eine geradezu widerliche und obszöne Weise zerstört wird.

Dieser Zensor ist, auch wenn er nur zwei Auftritte hat, eine Symbolfigur für das gesamte Regime. Ein kleiner, widerlicher Mann, mit einem Mund aus dem nur Obszönitäten kommen (können), und der in seiner ganzen Anlage mit dem Wort hässlich beschreiben werden kann. Sein erster Auftritt im Theater erinnert gar an die komische Figur des Charly Chaplin – Der Tramp, der den Gang entlang schlendert und mit seinem Stöckchen spielt. Ein deutlicher Verweis auf DER GROSSE DIKTATOR, der sich Jahre vor dem Krieg lustig gemacht hat über das Grauen. Doch auch jetzt, so wie später beim Auftritt Griselles, wird der komische Eindruck durch eine Welle von Bosheit und Hass zerstört. Dabei fällt auf, dass der Zensor immer unten steht. Immer ist er der kleine Mann vor den hohen Herrschaften wie dem Regisseur oder der Schauspielerin. Und gleichzeitig ist er derjenige, der den Ton angibt, der Befehle absondert wie schleimiges Sekret, vor denen sich alle zu beugen haben. Selbst der Pöbel hört auf den kleinen widerlichen Mann – eine klare Beschreibung Hitlers, der den Mob fest in der Hand hat und schreckliche Befehle herausschleudert, die über Leben und Tod entscheiden. Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang, dass das Äußere des Zensors stark an die nationalsozialistischen Darstellungen der Juden im Dritten Reich erinnert, während sein Verhalten einer bürokratischen Version einer SA-Schutzstaffel entspricht. Eine Figur zum Angstmachen …

Aber eigentlich war ich ja bei der Kameraführung. Gegen Ende konzentriert sich die Geschichte komplett auf Schulz. Seine Ausweglosigkeit wird ihm immer bewusster, und fast obsessiv wartet er auf den Briefträger der ihm die codierten Briefe bringt, nur um danach in noch größere Agonie zu verfallen. Die Kamera verkleinert dabei Schulz‘ Welt zunehmend. Sein Bewegungsradius wird immer kleiner, enger und dunkler – Vom Grundstück zum Haus zum Zimmer, aus dem er am Ende nur noch durch einen kleinen Ausschnitt nach draußen sehen kann, um sein Verhängnis heranziehen zu sehen. Einen kleinen viereckigen Ausschnitt, der nicht von ungefähr an das Fenster einer Zellentür erinnert, denn nichts anderes ist sein Haus für ihn geworden als ein Gefängnis. Wie Schulz Stück für Stück demontiert und ihm der Boden förmlich unter den Füßen weggezogen wird ist meisterhaft, und fast scheint es, als ob Maté Rache nehmen wollte an all den Opportunisten in Deutschland, die das Leben dort so düster und traurig gemacht haben. Doch auch das Schlussbild bringt keine Freude, ist kein Happyend. Wir erfahren wer die codierten Briefe geschrieben hat, und auch diese Person steht hinter Gittern und ist in ihrem persönlichen Unglück gefangen. Sie (die Person) hat einen anderen Menschen ins Verderben gestürzt, und wird mit dieser Schuld immer leben müssen.

In manche Szenen stehlen sich Unglück und Angst wie durch die Hintertür hinein. Wie sich schleichend das Misstrauen zwischen die Menschen zwängt, das wird zum Beispiel bei der Taufe nur durch die Blicke zwischen Schulz und seiner Frau gezeigt. Nette freundliche Worte an der Oberfläche, und diese bodenlosen Blicke voller Zweifel, Abneigung, Enttäuschung …
In anderen Szenen ist das Elend schier mit den Händen zu greifen: Nach ihrer Flucht aus dem Theater rettet sich Griselle durch eine Tür. Beim Schließen der Tür sehen wir ein großes aufgemaltes J – Griselle sucht Schutz bei Juden. Ausgerechnet. Wie sich die Tür schließt, das Licht dahinter verbirgt und die Dunkelheit über den Bildschirm resp. die Leinwand flutet, das lässt den Zuschauer in der Finsternis fast ertrinken. Kaum ist Griselle aus der Tür wieder heraus, kommt bereits ein SA-Trupp, sieht das J und klopft an die Tür. In diesen Zeiten gibt es keine Sicherheit, und schon gar nicht für die Verfemten.

Spannend, aber vielleicht wieder ein wenig plakativ, sind dann die Gegenüberstellungen der alten und düsteren Welt in Europa und der neuen, hellen und übersichtlichen Welt der USA: Schulz tigert in seinem schlossartigen und düster-labyrinthischen Haus wie in einem Karzer hin und her, ein Schnitt, und in einem hellen und freundlichen großen (!) Raum empfängt Eisenstein einen Brief seines früheren Freundes. Der Amerikaner, der mit Knautschgesicht und Bodenständigkeit die Nazi-Bürokraten in ihrem eigenen Büro in die Schranken weist, grenzt dagegen schon fast an Peinlichkeit, auch wenn er einige Zeit die Lacher des Publikums auf seiner Seite hat. Zumindest bis er das Büro Schulz‘ betritt, wo ihm das Lachen dann doch vergeht. “Kraut“ zischt er Schulz am Ende entgegen und geht ohne einen Blick zurück davon. Sehr bildhaft, aber aus heutiger Sicht eine, für das Kriegsjahr 1944, durchaus zu tolerierende Botschaft …

Denn von genau solchen plakativen Bildern lebt ADDRESS UNKNOWN. Die oben beschriebene Tür mit dem J ist pures, manipulatives Kintopp. Aber die Botschaft ist klar, und mit diesen eindrücklichen Bildern hämmert sie sich auch problemlos in die Köpfe der Zuschauer: Wer solche Dinge tut ist böse böse böse. Er lebt in der Finsternis, er tut schreckliche Dinge – Er ist der Satan. Die oben angeführte Marienstatue bei der Theateraufführung wird bewusst als lichter Gegenpol zur Dunkelheit gezeigt, und das Gesicht Griselles, wenn sie die vorher verbotenen Zeilen singt, ist wie von einem inneren Licht erfüllt. Plakativ? Billig? Mag sein, aber verdammt wirkungsvoll und effektiv! Und von einem kinematografischen Gesichtspunkt ein absoluter Höhepunkt!! So wie der ganze Film …

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