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Nachdem der Franzose Joël Séria („Marie, the Doll“) aufgrund eines Unfall seine Schauspielkarriere beenden musste, sattelte er aufs Regiefach um und debütierte im Jahre 1971 mit dem Drama „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“, zu dem er auch das Drehbuch selbst verfasst hatte und der zum Skandalfilm geriet: Bereits nach Drehbuchsichtung noch vor Drehbeginn prophezeite man ihm ein Totalverbot des antiklerikalen Films und so kam es auch. In Großbritannien indes wurde der Film erfolgreich als Exploiter vermarktet und über Umwege schließlich auch in seiner Heimat nachträglich anerkannt.

Die vierzehnjährigen Klosterschülerinnen Anne (Jeanne Goupil, „Mich machen alle an!“), die aus gutem Hause stammt, und Lore (Catherine Wagener, „Desirella“), aus einfacheren Verhältnissen kommend, verbindet eine tiefe Freundschaft. Unter der Bettdecke lesen sie zusammen die provokante und sexuell freizügige Erwachsenenliteratur de Lautréamonts und Baudelaires und schwören, ab sofort auf die christliche Lehre zu pfeifen und sich voll und ganz dem Bösen zu verschreiben. Federführend ist dabei Anne, Lore folgt ihr willfährig und so werden auf dem Beichtstuhl aufreizende Geschichten dem Pfaffen erzählt und lesbische Nonnen denunziert. Was jedoch noch verhältnismäßig harmlos beginnt, gewinnt an Boshaftigkeit, als Annes Eltern in den Sommerferien verreisen und ihre Tochter mit dem Personal alleinlassen. Lore kommt Anne besuchen und gemeinsam setzt man dem zurückgebliebenen Gärtner Leon und anderen Dorfbewohnern übel zu, provoziert den Bauern Emil sexuell, bis dieser beinahe Lore vergewaltigt und lockt schließlich einen unbekannten Mann ins Haus, der mit dem Auto liegen geblieben war. Die Situation eskaliert vollends...

„Und erlöse uns nicht von dem Bösen“, der mangels Geldgeber mit einem minimalen Budget auskommen musste und größtenteils mit Laiendarstellern realisiert wurde (was man ihm indes zu keinem Zeitpunkt anmerkt), ist einerseits inspiriert vom neuseeländischen Fall der jugendlichen Muttermörderinnen Pauline Parker und Juliet Hulme (von Peter Jackson als „Heavenly Creatures“ verfilmt), andererseits von Sérias persönlichen Erfahrungen als Klosterschüler, weshalb der Film u.a. zu einer wütenden Abrechnung sowohl mit dem bigotten Klerikus wurde, was ihm seine Blasphemie-Vorwürfe einbrachte, als auch mit Eltern, die ihre Kinder schlichtweg in derartige, von ihm als Gefängnisse bezeichnete Einrichtungen abschieben. So wird die kirchliche Doppelmoral aufs Korn genommen, wenn Klosterschwestern lesbische Beziehungen unterhalten und der Pfarrer rote Ohren bekommt und zugleich die Gefahr autoritärer religiöser Erziehung bei Vernachlässigung durch die eigenen Eltern aufgezeigt: Die indoktrinierte Lehre kann aus Protest ins Gegenteil verkehrt werden und dadurch nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten, Kinder und Jugendliche suchen sich in Ermangelung der Eltern eigene Bezugspersonen und Vorbilder, hier die skandalträchtigen Dichter, deren Worte die Mädchen für bare Münze nehmen.

In oft wunderschönen sommerlichen Bildern radeln die Mädchen durch die trügerische Idylle und lachen vergnügt, dass man meinen könnte, man befände sich in einem Heimatfilm. Fröhliche Musik geht einher mit leicht melancholischen Orgelklängen und Séria versteht es, mittels beider (zwar jung aussehenden, aber zum Drehzeitpunkt volljährigen) Hauptdarstellerinnen eine subtile Erotik zu erzeugen, ohne ihnen eine lesbische Beziehung andichten zu müssen. Doch manch Szene tut richtiggehend weh; bewusst wird die Grenze des Erträglichen ausgereizt, wenn Vögel vergiftet werden oder Mitglieder der christlichen Gemeinde auffallend schnell vom frommen Hörigen zum geifernden Triebgesteuerten werden und sich auf Lore stürzen. Andere Szenen wie die einer satanischen Prozession der Mädchen bieten Anlass für schon beinahe irreal durchkomponierte Bilder mit einer ganz eigenen, faszinierenden Ästhetik. Zwischenzeitlich eingestreute Zweifel Annes erinnern den Zuschauer daran, dass es sich nach wie vor um ein menschliches, emotionales Wesen handelt, was es zusätzlich erschwert, sie schlicht zu hassen – der Zuschauer bleibt eine Art Komplize der beiden, die zwischen anarchischen Streichen und garstiger Boshaftigkeit agieren. So auch, wenn sie am Schluss bei einer Schulaufführung statt der abgesprochenen christlichen Texte Baudelaire rezitieren und schließlich die unfassbare Konsequenz aus den Vorfällen um den unbekannten Mann mit der Autopanne ziehen.

Welch ein Schlusspunkt unter diesen Film, der ein wunderbares Beispiel dafür ist, welch schier unerschöpfliches Füllhorn die ’70er an originellen Filmen waren! Mit zum Gelingen trugen die Hauptdarstellerinnen bei, von denen unglaublicherweise die unheimlich ausdrucksstarke Jeanne Goupil im Gegensatz zu ihrer Kollegin Catherine Wagener über keinerlei Schauspielerfahrung verfügte, jedoch erfrischend frech, natürlich und unbedarft aufspielt, dass es der reinste Genuss ist. Sie blieb der Schauspielerei fortan erhalten und wurde Joël Sérias Ehefrau. Aber generell gibt es hier keine darstellerischen Ausfälle zu beklagen, ebenso wenig gibt es handwerklich etwas zu bemängeln. Ein auch in Zeiten zurückgegangenen Einflusses der Kirchen nach wie vor gleichermaßen faszinierender wie verstörender Film, der sowohl als doppelbödiger Autorenfilm als auch als Exploitation-Film die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, für ein letzteres erwartendes Publikum aber diverses den reinen Unterhaltungseffekt Torpedierendes bereithält.

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