Review

Viva la muerte (1970) von Fernando Arrabal
El Espíritu de la colmena (1973) von Victor Erice
Cría cuervos (1976) von Carlos Saura
El Laberinto del Fauno (2006) von Guillermo del Toro

In den 70er Jahren, während des allmählichen Verstummens des Franquismus, entstanden im Zuge gelockerter Zensurbestimmungen in Spanien durchaus Franco-kritische Spielfilme - im Ausland freilich eher gezeigt, als in Spanien selbst -, die ihr Anliegen in leicht verschleierter Form nach außen trugen: Die Schrecken des Franquismus wurden etwa gespiegelt in kindlichen Wahn- und (Alp-)Traumwelten - so in Erices Klassiker „El Espíritu de la colmena", in Sauras „Cría Cuervos", aber auch im „Viva la muerte" des Exil-Spaniers Arrabal, der mit seinem Werk am direktesten, offensivsten vorgeht; eine Direktheit, die in seinem öffentlichen „Brief an General Franco" (1972) ihren Gipfelpunkt erreichte. Im Gegensatz zu diesem eindeutigen und aggressiven Tonfall - Arrabals Beziehung zur „Mouvement Panique" schlägt sich deutlich nieder - kommen Erice und Saura mit ihren Filmen leiser, schleichender daher: wo der Exilant Arrabal den kindlichen Wahntraum nutzt, um die Realität in krasser Übersteigerung zu präsentieren, da nutzen die Spanier Erice und Saura den kindlichen Wahn in ihren Parabeln, um ihre Themen nicht allzu offensichtlich zu vermitteln. „El Laberinto del Fauno" des Mexikaners del Toro steht dann wieder stärker in der Tradition Arrabals, insofern er das Nebeneinander von Franco-Diktatur und Kinderphantasien ganz deutlich in Szene setzt, gleichzeitig lassen sich aber auch Aspekte Erices und Sauras wiederfinden.


„Viva la muerte" erweist sich bereits mit dem Vorspann als ungeheuerliches Werk: Zu Zeichnungen Roland Topors[1], welche mit ausgelassener Fantasie immer neue Bilder von grotesker Folter, Demütigung und von Mord, Totschlag auf den Zuschauer loslassen, ertönt ein heiteres Kinderlied - ein Vorspann von galliger Komik, unter dessen skuriller Oberfläche Momente lauern, die schwer im Magen liegen. Der Vorspann nimmt eigentlich die Grundstimmung des Films vorweg: die unheilvolle Verbindung von kindlicher Unschuld und bestialischer Grausamkeit, gleichzeitig die Übersteigerung dieser Grausamkeiten bis ins Absurde.
Im Anschluss daran ertönt aus schallenden Lautsprechern der Militärs die Drohung: „Der Krieg ist vorbei. Die Verräter werden rücksichtslos gejagt. Wenn nötig werden wir das halbe Land töten. Viva la muerte - Es lebe der Tod!"

Was folgt, basiert [Achtung: Spoiler!] in groben Zügen auf Arrabals eigener Biographie: das ungeklärte Verschwinden des eigenen - als Verräter verhafteten - Vaters, das Arrabal als Zehnjähriger einige Zeit nach Ende des spanischen Bürgerkrieges erleben und erleiden musste, wird zum zentralen Dreh- und Angelpunkt des Films, der das Leben im Umfeld des jungen Fando schildert, dessen Vater in seinem Beisein als „Roter" den Säuberungsaktionen unter Franco zum Opfer fällt.
Als wäre das Schicksal noch nicht hart genug, muss Fando aus einem Brief erfahren, dass seine eigene Mutter den Vater verraten hat - eine Erkenntnis, die in fiebernden Phantasien verarbeitet wird, welche sich fortan auch rebellisch gegen die Familie, gegen Erziehung, gegen den Katholizismus richten, die gleichzeitig aber auch so gewaltgesättigt wie die unbewusst erfassten Feindbilder sind.

Diese Phantasien bestehen etwa aus den ersonnenen Folterungen und Hinrichtungen des Vaters durch die Mutter oder franquistische Henker und Folterknechte: vom surrealen Bild des bis zum Hals im Boden vergrabenen Vaters, dessen Haupt unter den Hufen galoppierender Reiter zerschmettert wird - ein erschreckendes Bild von morbider Schönheit und unerträglicher Spannung, das zu den bekanntesten des Films zählen dürfte - reicht die Bandbreite bishin zur grellen „panique"-performance, in der die dämonisch überzeichnete Mutter die Folter ihres Gatten leitet oder ihm ins Antlitz scheißt: Es ist sicherlich beachtlich, mit welcher Konsequenz Arrabal 5 Jahre vor Pasolinis „Salò o le 120 giornate di sodoma" (1975) seine faschistischen Machtmenschen als hohnlachende Sadisten abbildet, die ihre Opfer missbrauchen, demütigen, martern und richten.
In der filmischen Realität scheinen solche Exzesse kaum sonderlich weit von den tatsächlichen Umständen entfernt zu sein: die Erschießung eines Gefangenen durch dessen Anus, die Exekution auf einem Friedhof während einer Beerdigungszeremonie ist bereits selbst absonderlich genug.
Dabei ist die Gewalt überall und keineswegs bloß den Militärs vorbehalten: die Züchtigung innerhalb der Familie - die Großmutter hält den Finger des Enkels in die Flamme einer Kerze, die Mutter ist Fando bei dessen Selbstgeißelung behilflich, die Tante lässt sich nach dem Tode des Großvaters mit nacktem Oberkörper von Fando auspeitschen -, wo sie immer schon religiös motiviert und bisweilen mit sexuell-/inzestuös-aufgeladenen Tönen in Erscheinung tritt[2], zeigt die Gewalt bereits im engsten Umkreis. Der strenge Katholizismus - im Franquismus zum Nationalkatholizismus
avanciert - erweist sich dabei - gerade in Verbindung mit verbotenen sexuellen Gelüsten - als eine Ursache der Gewalt, die jeden eigenen oder fremden Regelverstoß, jede verbotene Regung gegeißelt sehen will.
Dass Fando in diesem dumpfen Umfeld aus Verbot und Unterdrückung, in dem sich teilweise die nahestehendsten Mitmenschen als bedrohlich erweisen, in dem sich jeder befreiten Lust eine repressive Feindseligkeit entgegenstellt, nicht nur darauf beschränkt, sich Folterszenarien im Zusammenhang mit seinem verschleppten Vaters auszumalen, sondern auch dazu übergeht, Gewaltphantasien gegenüber Geistlichen - einem Priester werden die Hoden abgeschnitten, die er dann unter Lobpreisungen und Dankesreden zu verspeisen hat - oder gleich gegenüber allen - mit seinem Urinstrahl spühlt Fando in einer Phantasie gleich die gesamte Umgebung hinfort - auszumalen, verwundert da kaum. Dass sich dieses gewalttätige Denken dann in der Realität ansatzweise entlädt - Fando zerschneidet im Schulunterricht Käfer, misshandelt einmal sogar seine Schulfreundin - ist nur konsequent.
Für diesen Dunstkreis aus Gewalt, religiöser Repression und sexueller Begierde findet Arrabal ein stimmiges Bild, das Frandos Mutter während einer rituellen Zeremonie im Blut eines frisch geschlachteten Ochsen baden lässt: Tod, Sterben, Ekstase (religiös wie sexuell) sind hier vorhanden, der Schock des realen Sterbens des Tieres vor der Kamera erschwert dem Zuschauer eine distanzierte Betrachtung.

Arrabal, der gerne betonte, dass er auf Gott und Heimat scheiße, rechnet hier mit dem Franquismus ab, dessen Anfangsphase er in krasser Überhöhung als Pandämonium aus Gewalt jedweder Art präsentiert, wobei der Katholizismus im Hinblick auf seine spätere Rolle als Nationalkatholizismus ebenfalls ausgiebig verurteilt wird. Ein bloß realistisch gezeichnetes Bild genügt ihm dabei für seine Zwecke nicht: die Wahnbilder sind es vor allem, die ihm dienlich sind, aus dem Franquismus das herauszudestillieren, was seinen wahren Kern ausmacht.
8/10

1.) Topor war zusammen mit Arrabal und Alejandro Jodorowsky, der mit Fando y Lis auch ein Stück von Arrabal inszenierte, einer der Gründer der Panik Gruppe, der auch Juan Lopez Moctezuma angehörte, dem der Horrorfilmliebhaber kleine Perlen wie „La Mansion de la locura" (1971) oder „Alucarda, la hija de las tinieblas" (1978) verdankt.
2.) Das inzestuöse Begehren wird mehrmals angeschnitten: In den innigen Umarmungen und liebevollen Küssen zwischen Fando und der Mutter und in dem mehrmaligen Blick auf die Beine, den Masturbationsakt hinter Schlüsselöchern (eine während der Dreharbeiten entstandene Photographie lässt übrigens erkennen, dass die Mutter während des Masturbationsaktes vor offenem Fenster ihren linken Fuß auf ein an der Wand hängendes Holzkreuz gestellt hat - ein frivoles, ebenso frevelhaftes wie erregendes Bild), die aufreizenden Strumpfhosen und die halbentblößten Brüste der Tante aber auch der der Mutter.



„El Espíritu de la colmena" kommt drei Jahre später weniger deutlich, teils ausgesprochen kryptisch daher [Achtung: Spoiler!]: Im Jahre 1940 wächst die junge Ana - gespielt von Ana Torrent, die im Anschluss auch mehrfach als bevorzugte Kinderdarstellerin von Carlos Saura eingesetzt worden ist und die Jahre später als jugendliche Protagonistin im Snuff-Thriller „Tesis" (1996) etwas breitenwirksamer bekannt geworden ist - mit ihrer etwas älteren Schwester bei der ewig Liebesbriefe schreibenden Mutter und dem ewig seine Bienen versorgenden Vater auf. Eine Aufführung von James Whales „Frankenstein" (1931) wirkt nachhaltig auf das junge Mädchen ein, das sich hier nicht nur mit Tod und Sterben konfrontiert sieht - besonders die damals noch in der Motivation zensierte Szene, in der Boris Karloff ein junges Mädchen unwissentlich dem Tod aussetzt, hat sich verstörend bei ihr eingeprägt -, sondern vor allem den Gründen für die Morde des Films - an dem Mädchen, an dem Monster - mit großer Erklärungsnot begegnet. Das Geschehen auf der Leinwand verlagert sich in die reale Welt hinein: ein Flüchtling, vermutlich ein Widerstandskämpfer, den Ana zufällig in einer Scheune entdeckt und dem sie behilflich ist - sie überreicht ihm Brot, einen Mantel und die Uhr des Vaters -, ist einige Zeit später ohne jede Erklärung tot, sein Leichnam taucht vor der Kinoleinwand in der Scheune aufgebahrt auf. Ana findet nur noch einen blutgetränkten Rest des Brotlaibs vor - vielleicht als christliches Symbol aufopfernder Hingabe zu lesen -, als sie den Fremden erneut aufzusuchen gedenkt. Vor dem Vater, an dem sie wieder seine Uhr bemerkt - man hat sie dem Toten als vermeintliches Diebsgut entnommen und dem Besitzer zurückgegeben -, flieht Ana, als er am Ort des Geschehens - besser: des Geschehenem - auftaucht. Während die Dörfler nach der Entflohenen suchend des nachts die Wälder durchkämmen, imaginiert sich die junge Ana in düsterer Nacht eine Begegnung mit dem Monster des Films. Am nächsten Morgen wird sie von den Suchenden gefunden; die Mutter findet sie verändert, der untersuchende Arzt gibt an, das würde sich nach und nach wieder legen. Der Film schließt mit Ana, die in finsterer Nacht am Fenster steht und in das Dunkel blickt.

Bereits der Titel mag irritieren: „Der Geist des Bienenstocks". Dass der Anas Vater Imker und Insektenkundler ist, hilft nur bedingt weiter. Hilfreicher sind da die Wabenmuster, die die Fensterscheiben des Hauses durchziehen. Der Bienenstock des Titels umfasst freilich mehr, als der Bienenstock im Film. Die Welt der Eltern gleicht einem Leben im Bienenstock, darauf verweisen nicht bloß die wabenartigen Fenster des Hauses, sondern auch ihr emsiges Abarbeiten: die Mutter, die sich ständig ihren Briefen widmet, der Vater, der sich ständig den Bienen widmet - beide werden als Gefangene eines monotonen Alltagstrotts präsentiert, der durch Leblosigkeit, Stumpfsinnigkeit und Resignation gezeichnet ist: das Leben nach dem Bürgerkrieg als Realitätsflucht in banale Tätigkeiten, die als Ersatz für ein freies Leben dienen. Die Weggucker, die Vergessenden, die resignierenden Dulder bilden hier die Welt des kleinen Dorfes - im Gegensatz dazu steht der wahrscheinliche Widerstandskämpfer, vom dem am Ende nur - erlösermäßig - Blut und Brot bleibt.

Dieser Welt stehen die Geschwister Ana und Isabel gegenüber: ihre kindliche Welt verstößt alleine schon mit Kissenschlachten und langen nächtlichen Gerspächen gegen die Regelungen der Welt der Erwachsenen. Ihr scheuloser, kindlicher Umgang mit dem Tod verstärkt den Kontrast noch ungemein. Und wo die Erwachsenen der Realität entfliehen, indem sie sich monotoner Routine widmen - der Vater ist davon stärker beroffen als die Mutter, in deren Briefen der Bürgerkrieg noch nachhallt -, da versucht zumindest Ana mit ihrer Phantasie der Realität nicht zu entfliehen, sondern sie zu verstehen, sie zu begreifen. Whales „Frankenstein", der in der zensierten Fassung den ungeklärten Mord an einem Mädchen liefert, gerät zur Folie für das ungeklärte, gewaltsame Sterben des Flüchtlings; die Figur des Monsters wird für Ana zum Platzhalter für ein Morden, dessen Gründe ihr im höchsten Grade unklar sind.

Das Spannende an Erices Klassiker ist sicherlich seine unaufdringliche Themenvielfalt: man kann den Horror - hier am Beispiel „Frankenstein" eingebunden - als Wesen des Bürgerkrieges, des frühen Franquismus, vielleicht auch des Krieges generell lesen - „The horror! The horror!" (Joseph Conrad) -, man kann hier die Franco-Monster-Gleichung vermuten, wie man schon bei Portabellas „Cuadecuc vampir" (1970) oftmals auf eine Franco-Dracula-Gleichung zurückgriff, man kann die Thematisierung des Kinos als Ort möglicher Realitätserkundung entdecken - was für einen verschleiert Franco-kritischen Film in Franco-Spanien einen sehr selbstreflexiven Ansatz abgibt -, man kann ihn als Drama über die generelle Kluft zwischen kindlicher Unschuld und erwachsener Schuld lesen, oder noch konkreter als das Drama der Realitätsbewältigung eines Kindes in der frühen Franco-Diktatur; wenngleich der Film in diesem Punkt nicht so zentral daherkommt wie Arrabals autobiographisch geprägter Film.
9/10


In „Cría cuervos" übernimmt Ana Torrent drei Jahre später erneut eine Hauptrolle - an ihrer Seite: Carlos Sauras Lebensgefährtin Geraldine Chaplin, die hier ihre Mutter und Anas späteres Ich als Erwachsene verkörpert. Wie schon bei Erice, so heißt auch hier Ana Torrents Rolle Ana. Der Einfluss von „El Espíritu de la colmena" ist auch durchaus spürbar, es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied: Spielte Erices Film - wie schon Arrabals Film - in den beginnenden 40er Jahren, so spielt Sauras Film in seiner Rahmung in der damaligen Zukunft, den 1990er Jahren, um seine Geschichte zu erzählen, die sich in der damaligen Gegenwart - 1975 - ereignet.
Die Repression gerät dementsprechend viel weniger offensichtlich: nicht mehr die Schrecken von Bürgerkrieg und Säuberungen, von Folter und Mord stehen hier - deutlich oder bloß angedeutet - im Mittelpunkt, sondern die vergleichsweise mildere, aber nicht weniger charakteristische Repression eigennütziger, herrschsüchtiger Charakterschweine, als welche Saura hier die Ehrenmänner der Gesellschaft hinstellt. Diese Inszenierung stellt den Film letztlich gar ein wenig in die Nähe eines Luis Bunuel, der den diskreten Charme der Bourgeoisie immer wieder zur Zielscheibe seines Spottes machte.

Anas Vater [Achtung: Spoiler!], ein angesehener Militärbeamter und notorischer Frauenheld, dem das Leiden seiner Frau egal ist, welche vor den Augen der hilflosen Ana an ihrer Krankheit einen langsamen Tod stirbt - Geraldine Chaplins Todesk(r)ampf dürfte mit entsprechenden Szenen aus Ingmar Bergmans wundervollem „Viskningar och rop" (1972) zu den unangenehmsten Schilderungen tödlichen Dahinsiechens überhaupt zählen - zeichnet Saura besonders genüsslich als widerlichen Egoisten, der seine Karriere und seine geheimen Vergnügungen verfolgt, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Diesem untreuen, mitleidslosen Vater, dem Ana die Schuld für den Tod der Mutter attestiert, schüttet sie eines Nachts ein vermeintlich tödliches Gift - tatsächlich ein ungefährliches Pulver - in sein Getränk: zufälligerweise verstirbt der Vater beim Sex mit einer Geliebten, die zugleich die Gattin seines Freundes - ebenfalls ein hoher Militäroffizier - ist, tatsächlich.
Zu Waisen geworden, werden Ana und ihre Geschwister nun von der kühl-distanzierten Schwester der Mutter erzogen, die ihrerseits ebenfalls mit dem Freund des toten Vaters befreundet ist. Anas Rebellion gegen diese autoritäre Erwachsenenwelt, von der einzig ihre leidende Mutter eine Ausnahme zu sein schien, drückt sich in bisweilen unverhohlener Feindseligkeit aus: der Tante und dem Freund des Vaters tritt sie einmal gar mit der geladenen Dienstwaffe des Vaters entgegen.
Der Tante, der sie mehrfach den Tod wünscht und ihr dies auch einmal ins Gesicht sagt, schüttet sie am Ende schließlich ebenfalls das vermeintliche Gift ins Getränk. Anas Illusion, mit dem geheimen Pulver Herrin über Leben und Tod sein zu können, wird am nächsten Morgen arg enttäuscht - die „Vergiftete" lebt noch.

Sauras Bild einer Gesellschaft, in der Männlichkeit, Ehre, Orden, Status, Ansehen, Beherrschtheit die wichtigsten Ideale bilden, wird nicht nur über die Verlogenheit, Untreue und Gefühllosigkeit eines angesehenen Repräsentanten dieser Ideale demontiert: Anas Faszination, die sie für den Tod empfindet, den sie diesen Autoritäten angedeihen lassen will, ist nicht bloß Ausdruck der Frustration, die Anas Kindheit auszeichnet - Geraldine Chaplin wird im Film als Erwachsene Ana der 90er Jahre einmal sagen, sie könne nicht der Aussage zustimmen, die Kindheit sei die schönste Zeit im Leben -, sondern auch das Bildnis des Untergangs dieser Repräsentanten des untergehenden Franco-Regimes. Gedreht während Francos langwierigen Dahinscheidens, wurde diese Inszenierung der - zumindest in Anas Tagträumereien und Wünschen - dem Tode entgegengehenden Repräsentanten der Franco-Zeit von der Zensur für einige Monate zurückgehalten, ehe dann Anfang 1976 die ersten Kinoaufführungen stattfanden.
Für Saura selbst stand der politische Aspekt immer im Hintergrund des Dramas einer furchtbaren Kindheit, der er sein Hauptaugenmerk widmete. Dieser emotionalere Zugang kehrt dabei Ana Torrents erstaunlich beherrschtes Spiel, ihre traurigen, dunklen Augen und die in sich gekehrte Mimik noch erfolgreicher hervor, als „El Espíritu de la colmena". Mit Geraldine Chaplins andauerndem Leiden und dem sehnsüchtigen Schlager „Porque te vas" von Jeanette strebt Sauras Film alles in allem eine emotionale Wirkung an, die Erices Film in diesem Ausmaß nicht zukam - dessen komplexe Vielschichtigkeit geht widerum Sauras Film weitestgehend ab.
Dennoch: dass sich diese Schrecken der Kindheit hier mit dieser autoritären Erziehung eines selbstsüchtigen Militärs verbinden, weitest das Kindheitsdrama entschieden ins Politische aus - und dass sich das Wunschdenken der kindlichen Hauptfigur mit ihrem vermeintlichen Todespulver um den Tod dreht, den sie den entsprechenden Autoritäten wünscht, macht aus dieser Ausweitung beinahe schon eine Kriegserklärung.
Dieses Wunschdenken, diese Phantasien nehmen dabei keinesfalls mehr den Stellenwert ein, den sie noch bei Arrabal hatten. Selbst Erice geht mit der imaginierten Begegnung mit dem Monster noch weiter als Saura, der die Phantasien nicht visualisiert, sondern nur Erinnerungsbilder in die Handlung einschiebt.
9/10


In Del Toros „El Laberinto del Fauno" nehmen diese Phantasien wieder einen bedeutenden Stellenwert ein - derartig, dass aus dem Film ein insgesamt phantastisches, tendenziell vor allem zum Wundersamen neigendes Werk geworden ist. Wie bei Saura gibt es auch bei del Toro [Achtung: Spoiler!] den autoritären, egoistischen - darüber hinaus auch noch ausgesprochen sadistischen - (Stief-)Vater und die - im Zuge ihrer Schwangerschaft - kränkliche Mutter. Und wie bei Arrabal und Erice geben die frühen 40er Jahre den geschichtlichen Hintergrund ab.
Im Hinblick auf den Charakter der Phantasien, steht del Toro Erice besonders nahe - während die reine Quantität an Arrabals „Viva la muerte" erinnert -, da es sich hier nicht um alptraumhafte Schreckgespinste von Folter und Hinrichtungen handelt (Arrabal), auch nicht um Todeswünsche (Saura), sondern um Phantasien, die vor allem der Kunst entstammen und deren Motive übernehmen: aus Whales „Frankenstein" werden hier Märchenbücher. Doch wird bei Erice der Horror des Films im Film genutzt, um damit den für die Hauptfigur Ana ähnlich unerklärlichen Mord in der Realität irgendwie von dieser verarbeiten zu lassen - was auf einer Metaebene den Horror des Krieges ins Spiel bringt -, so ist das Versenken in die Welt der Märchen bei del Toro viel eher jene Realitätsflucht, die Erice am Beispiel der monotonen Alltagsroutine mit ihren überwichtigen, dabei banalen Tätigkeiten noch verurteilt hat: Ofelia, die junge Heldin des Films, erlebt inmitten der Gräuel ihrer Umgebung ihre Phantasiewelten, wobei nicht einmal der zwingende Eindruck entsteht, dass diese Flucht in die Phantasie tatsächlich durch die realen Schrecken verursacht worden ist.
Letztendlich lässt der Film dann nicht nur die Möglichkeit offen, dass es sich bei den Phantasien Ofelias - die einer komplexen Dramaturgie folgen, die sich zusammenhängend durch den gesamten Film zieht - um die Realität handeln könnte: dadurch, dass er etwa eine Flucht Ofelias nur auf der phantastischen Ebene logisch zu erklären vermag, spricht sogar recht viel gegen eine realistische oder bloß unentschiedene Lesart zugunsten des Wunderbaren, sodass „El Laberinto del Fauno" weniger einen Film über die Flucht in die Phantasie als Verarbeitung der Realität darstellt, als vielmehr eine eigene Flucht aus dem Alltagsleben in ein opulentes, unterhaltsames Fantasy-Spektakel, das seinen vermeintlich politischen oder moralischen Anstrich - der über 30 Jahre nach Francos Tod und außerhalb Spaniens entstanden ohnehin weniger aufsehenswert wäre - als bloßen Kulissenlieferant verwendet; der historische Hintergrund liefert allein nostalgische Bilder und eine für Spannung garantierende Ausgangssituation.

Die Rolle eines filmischen Protestes geht del Toros Werk allein schon aus entstehungszeitlichen Gründen ab, der Versuch, den Einfluss der historischen Ereignisse auf eine kindliche Wahrnehmung zu analysieren, bleibt bereits in den ersten Ansätzen stecken: Die Geschichte der kleinen Ofelia, die - während ihr Stiefvater eine Gruppierung von Widerständlern bekriegt - die Aufgaben eines Fauns zu erfüllen gedenkt, was ihr schließlich einen Platz als Prinzessin in einem phantastischen Jenseits sichern soll, wobei sie letztlich in dieses Jenseits überwechselt - oder auch bloß davon träumt, wobei für erstere Version mehr spricht -, während ihr Stiefvater sie ermordet, würde allenfalls als Kritik am Eskapismus funktionieren, hätte der Film die wunderbaren Elemente eindeutig als bloße Imagination ausgewiesen. Die Unentschiedenheit zwischen realistischem und wunderbaren Erklärungsansatz würde ein klassisches Beispiel minimalistischer Phantastik aus dem Stoff machen, aber der Lauf der Dinge legt letztlich die wunderbare Erklärung nahe - wenn er sie auch nicht explizit bestätigt - sodass ein ungemein naives Stückchen Fantasy dabei herauskommt, das im Hinblick auf den Gehalt auch an mögliche - und immer wieder angeführte - Vorbilder wie „Wizard of Oz" oder „Alice in Wonderland" nicht heranreicht.
Siedelt man del Toros Film in der Nähe der Franco-Parabeln der 70er Jahre an - und die Auswahl einiger Aspekte legt diese Nähe nahe -, erweist er sich als letztlich trivialisierte und alles andere als konsequente Version, die auch ohne den direkten Vergleich mit solchen Vor-Bildern mit reichlich viel Naivität daherkommt.
Mit den verschnörkelten, farbenprächtigen, gelackten und kreativen Traumwelten, die den Film im Hinblick auf die Optik in der Nähe Tim Burtons, Jean-Pierre Jeunets oder Terry Gilliams stehen lassen, liefert er aber dafür reichlich opulente Bilder, die das naive Märchen, das letztlich immerhin Werte wie Selbstlosigkeit predigt, handwerklich beeindruckend ausfallen lassen.
„El Laberinto del Fauno" ist insgesamt ein rundum unterhaltsamer, kitschiger, aber dabei ziemlich hübscher Märchenfilm, der aber als Franco-Kommentar, der häufig in del Toros Film gesehen wird, in keinster Weise funktioniert.
7/10

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