Der sehr frei adaptierten Verfilmung der Kinderbücher „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll war vor sechzig Jahren kein großer Erfolg beschieden. Sie wurde, in einer Zeit, in der Disney-Produktionen noch für ausschließlich hohe Qualität standen, ehe der Niedergang in den 60er Jahren zu verzeichnen war, schnell in die Schublade der entbehrlichen Disneys gepackt und erst später als verkannte Perle wiederentdeckt.
Es ist nicht ganz unverständlich, warum „Alice im Wunderland“ seinerzeit wenig Zulauf fand, zu bonbon-bunt, zu abgefahren, zu fremdartig erschien diese Achterbahnfahrt, die ein seinesgleichen suchendes Tempo an den Tag legt und den Zuschauer mit den unglaublichsten Ideen schlichtweg überfordert. Das Ergebnis ist ein 70-minütiger Rauschzustand, so proppevoll, daß die Dauer des Films rückblickend wesentlich länger erscheint, als sie tatsächlich ist.
Insgesamt drei Regisseure und 13 (!) aufgelistete Autoren steuerten ihre persönlichen Storyentwürfe bei, aber anstatt daß viele Köche den Brei verderben, fügen sich all die kleinen Episoden zu einem harmonischen, sprich: chaotisch-verrückten Ganzen zusammen. Sobald Alice nach der knappen Einleitung dem weißen Kaninchen in das Wunderland folgt, sind der überbordenden Phantasie der Autoren keine Grenzen mehr gesetzt, und einer scheint den anderen übertreffen zu wollen. Werkgetreu mag das alles nicht sein, Carrolls sprühendem Einfallsreichtum macht der Film trotzdem Ehre. Hier geben sich sprechende Türen und Blumen, Tigerkatzen, pfeiferauchende Raupen und verrückte Hutmacher die Klinke in die Hand, und der Titelfigur bleibt kaum Zeit, um zu verschnaufen, weil sie schon wieder mittendrin ist im nächsten Abenteuer.
Dazu muß sie allerlei Dinge essen, um wahlweise groß, klein oder normalgroß zu werden und ihrem Ziel, dem weißen Kaninchen, das ständig zu spät kommt, folgen zu können. Dabei befindet sie sich ständig auf der Suche nach hilfreichen Figuren in diesem ganzen Theater und muß irgendwann traurig feststellen, niemanden zu finden, weil allen hier eines gemein ist: Sie haben nicht mehr alle Tassen im Schrank, die einen auf eine liebenswerte, die anderen auf eine bösartige Art, wie die furchterregende Herzkönigin, die ein Schreckensimperium errichtet hat und in auffälliger Häufung Enthauptungen für all diejenigen fordert, die sich ihr widersetzen.
Dies gibt dem nach außen hin hemmungslos verspielten Charakter des Films eine zusätzliche zweite unterschwellige Ebene, in der Isolation und Hilflosigkeit eine große Rolle spielen. Alice verzweifelt regelrecht daran, daß alle Gestalten, die ihren Weg kreuzen oder sie auch dauerhaft begleiten, unkooperativ sind und kein Ohr für sie haben. Am Anfang noch begeistert von dieser fremden Zauberwelt, will sie am Ende nur noch eins, nämlich da raus. Von der treu auftauchenden Tigerkatze kommen lediglich wenig hilfreiche Wegbeschreibungen, die kreuz und quer mal nach links, mal nach rechts zeigen, und zum Schluß ist sie es, die mit ihren albernen Spielereien für eine für Alice aussichtslose Gerichtsverhandlung sorgt.
In einer dringend benötigten Ruhepause im stockfinsteren Wald, in dem neben brilletragenden Bleistiften und Vögel mit einem Spiegel als Augenersatz noch allerlei andere kuriose Gestalten ihr Unwesen treiben, entsteht kurzzeitig sogar ein offen bedrohliches und beklommenes Gefühl nicht nur beim jungen Zuschauer, das sich bis dahin noch leise im Hintergrund gehalten hat, wenn Alice zu weinen anfängt, nachdem ein Besenhund auch den letztmöglichen (rosa) Weg mit Kopf und Schwanz weggewedelt hat, und in ihrer Einsamkeit ein Lied singt, um ihr dringendes Bedürfnis auszudrücken, endlich wieder nach Hause zu wollen, also quasi ein verschleierter Verzweiflungsschrei, aus diesem Alptraum zu erwachen. Nicht nur in diesem Punkt erinnert der Film an die kleine Dorothy und „Das zauberhafte Land“ (bzw. „Der Zauberer von Oz“ von L. Frank Baum).
Die Songs schwanken zwischen hörbar und disney-typisch schwer erträglich. Teilweise sind die Lieder kaum als solche erkennbar und erscheinen eher als Sprechsang (etwa wenn Diedeldei und Diedeldum die Geschichte vom Walroß und dem Zimmermann zum Besten geben oder das „Zu spät“ von dem weißen Kaninchen), allerdings kann man auch getrost betonen, daß die Songs in einem Disney selten besser hineingepaßt haben als hier. Sehr flüssig und angenehm in der Hinsicht erscheint „Vorwärts, vorwärts, vorwärts, vorwärts, laufen wir geschwind...“, das das Wunderlandszenario einklammert.
Das Schönste an diesem Spektakel ist, daß bei der Vielzahl der Szenen, diesem grellen Spektrum aus psychedelischem Slapstick und etwas Dramatik (die besagte Austern-Geschichte), sich jeder seinen persönlichen Liebling herauspicken kann. Beinahe jede für sich zählt zu den denkwürdigsten, die bis heute die Disney-Studios verlassen haben, am innovativsten aber mit Sicherheit die Nichtgeburtstagsfeier mit verrücktem Hutmacher (wunderbar synchronisiert von Wolfgang Kieling!) und dem Märzhasen, die sogar im Rahmen dieses Trips eine Sonderstellung einnimmt, angereichert mit einer unzähligen Masse an Extras, die beim einmaligen Sehen gar nicht alle erfaßt werden können. Was hier an minimalen Details rund um das Teetrinken (Untertassen, die als Beilage in den Tee eingestippt werden; Untertassen, Tassen und Tee, die nacheinander durch die Teekanne ausgeschenkt werden) aufgefahren wird, ist in seiner Kreativität ein großes Staunen mit offenstehendem Mund wert. Doch auch die gesamte Sequenz bei der Herzkönigin mit dem unvergeßlichen Kricket-Spiel ist unvergeßlich, um nur noch eine weitere aufzuzählen. Im Prinzip tut man aber allen Unrecht, die hier nicht genannt werden.
Ein wenig madig machen kann einen aus Erwachsenensicht die sehr naive Hauptfigur, ansonsten ist „Alice im Wunderland“ wahrscheinlich einer der ganz wenigen Disneys, die einem im Alter noch mehr Spaß machen als als Kind, weil man erst dann zu schätzen weiß, welche Wundertüte man vor sich hat, immer mit der Frage im Hinterkopf: „Wie viele Einfälle kann man in 70 Minuten pressen?“ Unerreichter Disney-Klassiker mit Kultstatus. 9/10.