Sie existieren wirklich: echte Magier. Nicht die David Copperfields dieser Erde, diese vermeintlichen Zauberer, nicht die mit ihren Illusionen, sondern jene Menschen, die dazu fähig sind, uns zu verzaubern. Im Filmgeschäft gibt es niemanden, der diese Kunst besser beherrscht als Tim Burton. Er ist der Verfechter der Phantasie. Sein "Charlie und die Schokoladenfabrik", die Kinderbuchadaption nach Roald Dahl, entfaltet dieselbe Wirkung wie der Genuss eines zarten Stückes Lieblingsschokolade: einen Endorphin-Schub. Endorphin, wie Willy Wonka (Johnny Depp) weiß, das Wohlfühlhormon, das der Körper beim Verzehr von Schokolade freisetzt. An den Ort der Herstellung dieser und anderer sündhafter Leckereien entführt uns der Außenseiter Hollywoods diesmal. Burton und die Schokoladenfabrik - das wird ein Ausflug ins Wonderland.
Der Herr dieses Eldorados süßer Köstlichkeiten ist jener Willy Wonka - ein komischer Kauz, sieht aus wie ein Zirkusdirektor, ist ein extravagant gekleideter Freak mit Hut, der das Tageslicht wohl seit Jahren nicht gesehen hat; so blass ist sein Teint. Das ist ein Exzentriker mit einer Familienneurose, die Burton in Rückblenden aufschlüsselt. Sein Vater war keine Naschkatze, ein Zahnarzt, der seinem Sohn ein hässliches Mundkorsett ins Gesicht pflanzte. - So hat Willy Wonka seinen Vater in Erinnerung. Aber er ging seinen eigenen Weg und wurde zum berühmtesten Schokoladenfabrikanten der Welt, der die Gewinner fünf goldener Eintrittskarten nun zur Besichtigung seiner geheimnisvollen Brutstätte der Süßwaren einlädt.
Willy Wonka ist eine schrille Märchenfigur, seine Manufaktur ein Hort der greifbaren Phantasie. Dort gibt es gläserne, in alle Himmelsrichtungen fahrende Aufzüge und futuristische Fernsehräume, ein Heer von putzigen, dressierten Eichhörnchen und grüne, essbare Wiesen mit Früchten in allen Formen und Farben; Schokoladenteiche, Schokoladenflüsse und Schokoladenwasserfälle. Selbst die vertrautesten Süßigkeiten sind keineswegs konventioneller Art. Alleine das vorgeführte Repertoire an Kaugummisorten ist außergewöhnlich. Da gibt es solche, die ihren Geschmack nie verlieren, und solche, die ein ganzes Drei-Gänge-Menü ersetzen. Bis ins kleinste Detail präsentieren sich die wunderlichsten und eigentümlichsten Einfälle in bunten, fabulösen Bildern, glaciert mit den eindrucksvollen, lebendigen Klängen von Danny Elfman. Burton ist hier wieder einmal Burton, bei ihm ist alles ein Rausch der Sinne.
Im Inneren der Fabrik haust unbändige Kreativität und Innovation. Ganz anders dagegen ist der kontrastreiche Blick in die Außenwelt; nur graue Häuserlandschaften erstrecken sich dort. Selbst die von einer abweisend metallischen Außenfassade bekleidete Schokoladenfabrik ist ein imposanter und gleichwohl beängstigender Industriekoloss. Dazu der weiße Schnee. Er wirkt so kühl, scheint alle Emotionen unter sich zu begraben. Aus all der Monotonie ragt lediglich ein einziges Haus heraus; vielmehr ist es eine schiefe Bruchbude, gebaut auf einem unfruchtbaren Trümmerfeld. Hier wohnt Charlie Bucket (Freddie Highmore) mit seiner Familie auf nur wenigen Quadratmetern. Ein Bett und eine Bettdecke teilen sich die Großeltern und zu essen gibt es Kohlsuppe - ein Leben in größter Armut, nahezu wie im Krieg.
Doch dort, wo man über nur wenig materielle Habe verfügt und sich an Herzen erwärmt, gedeihen die aufrichtigsten Menschen, Menschen wie Charlie. Was wäre "Charlie und die Schokoladenfabrik" für ein Märchen, wenn nicht dieser gutmütige Junge das fünfte goldene Ticket in einer Willy-Wonka-Tafel entdecken würde? Der optische Befreiungsschlag folgt: Es geht in die Fabrik, zusammen mit fünf anderen verzogenen Kindern. Aber nur einem winkt ein großer Gewinn. Natürlich liegt der Ausgang auf der Hand, jedoch visualisierte Burton keine einfache Kindergeschichte. Da ist nicht nur die Zuckerwatte, da bleibt mehr als der einfache, an einem vorbeiziehende Dampf verpuffter Klischees, wenn der Zauber sein Ende gefunden hat. Hinter der audiovisuellen Ebene befindet sich nämlich eine gleichnishafte. Die anderen vier Kinder symbolisieren verkommene Charakterzüge; von Selbstgefälligkeit und Arroganz bis hin zum Ungehorsam und Übermut; vom Jungen, der nicht Maß halten kann bis hin zum widerlichsten Charakterschwein.
Die Skurrilität ist bei Burton der Schlüssel für die Aussage: Die vier unsympathischen Kinder sind gesellschaftskritische Überzeichnungen. Augustus Glupsch ist stark übergewichtig, Veruschka Salz ein hochnäsiges Mädchen, dem alles in den Hintern geschoben wird, Violetta Veregard, Weltmeisterin im Kaugummi kauen, eine auf Gewinnen abgerichtete Karategöre und Micky Schießer, 3D-Shooter-Experte, ist die Persiflage eines TV-Junkies und für Burton schließlich die grässlichste der nur erdenklichen kleinen Gestalten: ein neunmalkluger Rationalist. Die Eltern stehen ihren Kindern in nichts nach: Mrs. Glupsch hat das Antlitz eines Pfannkuchens, Mrs. Veregard trägt Joggingklamotten und sieht im schönheitsoperierten Gesicht aus wie eine Barbiepuppe, Mr. Salz ist Vollblutsnob und die zwischenmenschliche Beziehung von Mauerblümchen Mr. Schießer zu seinem Sohn ist zuweilen längst gekappt. In dieser karikaturistischen Auslese der Gesellschaft verbirgt sich ohne erhobenen Zeigefinger eine pädagogische Moral, denn die Kinder - die sind hier der deutliche Widerhall dessen, was ihre Eltern erzieherisch verbrochen haben.
In "Charlie und die Schokoladenfabrik" steckt allerdings noch wesentlich mehr Gehaltvolles; ob der Seitenhieb auf eine gesellschaftlich weit verbreitete, von Materialismus und Egoismus determinierte Mentalität, die sich offenbart, als Charlie das begehrte goldene Billett findet und dafür sofort Geldangebote erhält, oder das in nur wenigen Sequenzen gezeigte, aber verständliche Bildnis eines wirtschaftlichen Kreislaufes, den Charlies Vater durchlebt. Tim Burton vermag das alles mit seinem eigenwilligen Humor zu würzen, der manchmal erstaunlich brutal und sarkastisch sein kann. Harmlos, aber fabelhaft ist der Running-Gag mit den Umpa Lumpas in jeder Variation, den zwergwüchsigen Arbeitern Willy Wonkas, die alle von Deep Roy gespielt werden. Die Texte ihrer Gesangseinlagen, eingebettet in kitschigen, perfekt choreographierten Musicalshows, werden dann schon deutlich bissiger. Die zynischste Gestalt ist jedoch Wonka. Er verkündet gleich - nachdem er zur Begrüßung der Kinder ein paar Puppen abgefackelt hat - im ersten knallbunten Raum der Rundführung in Peter-Lustig-Manier, dass dort alles zu Sehende essbar sei - auch er selbst, was man dann aber Kannibalismus nennen würde.
"Charlie und die Schokoladenfabrik" ist ein echter, überdrehter Tim-Burton-Film, in dem es so vieles zu entdecken gibt - sogar amüsante Kubrick- und Hitchcock-Reverenzen. Was Burton zuletzt in "Big Fish" wunderschön brach, bricht er hier wieder: eine Lanze für das Märchen und die Phantasie. Er ist wahrlich ein Mann, der uns verzaubern kann, jemand, der uns die Herrlichkeit des Filmes fühlen lässt, der die unverfilmbarsten Geschichten verfilmt, den nicht greifbaren Regenbogen greifbar macht. Ach, gäbe es doch nur mehr Burtons in Hollywood.