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Auf einer Zugfahrt lernt der berühmte Tennisspieler Guy Haines Bruno Anthony kennen, der sich als großer Fan vorstellt und darüber hinaus auch über sein Privatleben glänzend Bescheid weiß: Guy will sich von seiner biestigen Ehefrau Miriam scheiden lassen, um mit seiner neuen Freundin, der Senatorentochter Ann Morton ungestört zusammenleben zu können, doch seine „bessere“ Hälfte weigert sich vehement. Deshalb schlägt Bruno seinem Gegenüber ein unmoralisches Angebot vor: Mord über Kreuz! Bruno ermordet Miriam, während Guy als Gegenleistung Brunos verhaßten Vater tötet. Guy hält dies für einen absurden Scherz, doch er irrt gewaltig und wird schon bald als Mörder seiner Frau verdächtigt...
Einer von Hitchcocks populärsten Filmen ist „Der Fremde im Zug“, der Berühmtheit wahrscheinlich vor allem durch seine reizvolle Grundidee, dem Mord über Kreuz, erlangte. Danny De Vito drehte in den späten 80er Jahren mit „Schmeiß‘ die Mama aus dem Zug“ eine ziemlich gelungene Hommage, die verdeutlicht, daß das Thema dieses spannenden Thrillers noch immer aktuell ist und gern von diversen Regisseuren verwendet wird.
In der Tat ist der Plot ausgesprochen raffiniert aufgebaut, von der ersten Minute an wird das Interesse des Zuschauers geweckt, indem schon in den ersten fünf Minuten Brunos verrückter Plan präsentiert wird. Schnell ahnt man, daß dieser ein Psychopath ist, dem allerdings verblüffenderweise dennoch die Sympathien gehören - und das, obwohl er am Ende der langen, brillant aufgebauten Rummelplatz-Sequenz Miriam kaltblütig erwürgt und auch im folgenden Handlungsverlauf den Tennisstar drangsaliert, endlich seinen Vater umzubringen. Der Grund dafür findet sich sicherlich darin, daß Robert Walker (der kurz nach den Dreharbeiten starb) in der ersten Hälfte eine weitaus größere Rolle als der nominelle Hauptdarsteller Farley Granger einnimmt und Miriam-Darstellerin Laura Elliot wirklich das Musterbeispiel eines Miststücks abgibt, man also kaum um sie trauern muß. Selbst Guy Haines, mit dem man eigentlich mitfiebern sollte, immerhin ist er der „Gute“, ist nicht sonderlich sympathisch, was allerdings auch an Granger liegen dürfte, der hier - im Gegensatz zu „Cocktail für eine Leiche“ - erstaunlich blaß bleibt. Dies wiederum könnte an dem ganz starken Auftritt Walkers liegen, der für mich nach wie vor einen der besten Schurken verkörpert, den Hitchcock je zur Verfügung hatte.
„Der Fremde im Zug“ hat viele Höhepunkte: Neben der bereits angesprochenen Szene auf dem Rummelplatz, in der Bruno Miriam ermordet (was durch die Spiegelung in der auf den Boden gefallenen Brille des Opfers illustriert wird), ist das Finale auf dem Karussell gewiß ebenso zu nennen - oder die Szenen, in denen Bruno halbwahnsinnig wird, wenn er Anns Schwester (Nebenrolle für Hitchcocks Tochter Patricia) in die Augen schaut, da sie seinem Opfer Miriam in gewisser Weise ähnlich sieht. Aber ich will gar nicht zu sehr ins Detail gehen: Der Film ist angenehm spannend und ist auch beim wiederholten Ansehen für mich immer wieder eine Freude.
Doch so schön er auch sein mag, er ist dermaßen unrealistisch, daß einem die Augen bluten. Man kann wirklich nicht sagen, daß Hitchcock jemals Wert darauf gelegt hat, ob seine Filme in irgendeiner Weise logisch sind oder nicht, aber was der große Regisseur sich hier leistet, ist schon ziemlich happig. In „Der unsichtbare Dritte“ wurde durch pausenlosen Aktionismus die ungemein hohe Unwahrscheinlichkeit der Ereignisse vertuscht, „Der Fremde in Zug“ ist bei weitem nicht so rasant wie jener Agententhriller, und deshalb fällt es auch nicht schwer, einige Szenen sofort - und nicht erst im Nachhinein - als abstrus zu entlarven: So dringt Guy einmal mitten in der Nacht im Haus der Anthonys ein, mit einer Waffe in der Hand. Nun könnte man vermuten, er wolle Brunos Vater tatsächlich umbringen, bis sich am Ende der Szene herausstellt, daß er ihn nur warnen wollte. Das tut er in der Nacht? Mit einer Knarre in der Hand? Und ohne vorher an der Haustür zu klingeln? Stattdessen schleicht er durchs Haus. Eigentlich kann man an dieser Stelle nur mit dem Kopf schütteln.
Ein weiteres Beispiel: Bruno will Guy, indem er das Feuerzeug, das den Tennisstar belasten würde, an den Tatort bringt, den Mord an seiner Frau anhängen, und Guy muß währenddessen ein Tennisspiel bestreiten und es schnell hinter sich bringen, um ihn abzufangen. Warum sagt Guy das Spiel dann nicht einfach ab? Ich meine, es geht doch immerhin darum, ob er die nächsten Jahre im Gefängnis oder in Freiheit verbringen wird. Natürlich, Hitchcock erzeugt durch die Parallelmontage eine gehörige Portion Nervenkitzel, aber das wirkt doch alles sehr hanebüchen. Selbst ein noch so eingefleischter Hitchcock-Fan kann bei solch eklatanten Lücken in der Logik nicht einfach die Augen verschließen.
Davon abgesehen bleibt das Gesamtergebnis gerade aufgrund der „Mord-über-Kreuz“-Thematik sehr erfreulich, und da der Zuschauer letztlich noch mit einem packenden, wenn auch vorherzusehenden Ende belohnt wird, das in Sachen Spannung einiges zu bieten hat, insgesamt ein dicker Daumen nach oben für diesen Thriller, der nach Hitchcocks beiden reichlich enttäuschenden Werken „Sklavin des Herzens“ (1949) und „Die rote Lola“ (1950) endlich wieder auf dem Weg war, zu Bestform aufzulaufen.

Fazit: Sehr spannender Psychothriller mit einer - ich wiederhole mich gern - ausgesprochen originellen Grundidee, einem wunderbar charismatischen Filmbösewicht Robert Walker und einem ausreichend aufregenden Handlungsaufbau. Große Minuspunkte: Viele unübersehbare Logikfehler, die einige Fragen offen lassen, und das ziemlich miese Schauspiel des eigentlichen Helden Farley Granger. Nichtsdestotrotz ein hervorragender Hitchcock, der auch beim wiederholten Betrachten immer wieder gern gesehene Höhepunkte aufzubieten hat.
GESAMT: 8/10

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