Zusatzinfos

von Stefan M

Interview Hitchcock/Truffaut

Truffaut: Wir haben jetzt 1950, und Ihre Situation ist nicht gerade rosig, genau wie 1933, nach “Waltzes from Vienna” und vor dem Wiederaufstieg mit “The Man Who Knew Too Much” [“Der Mann, der zuviel wußte”]. Mit “Under Capricorn” [“Sklavin des Herzens”] und “Stage Fright” [“Die rote Lola”] hatten Sie zwei Mißerfolge nacheinander gehabt, und auch dieses Mal gab es mit “Strangers on a Train” ein spektakuläres Comeback.

Hitchcock: Es ist immer wieder die Philosophie des “run for cover”. “Strangers on a Train” war kein Film, der mir vorgeschlagen wurde, sondern ich habe den Roman selbst ausgewählt. Das war ein guter Stoff für mich.

Truffaut: Ich habe ihn gelesen. Es ist ein guter Roman, aber sehr schwierig zu adaptieren.

Hitchcock: Allerdings. Das bringt uns noch zu einem anderen Punkt. Ich habe noch nie gut arbeiten können mit Schriftstellern, die wie ich spezialisiert waren auf Grusel, Thriller und Suspense.

Truffaut: Sie meinen hier Raymond Chandler.

Hitchcock: Ja, mit uns klappte es überhaupt nicht. Ich saß neben ihm und suchte eine Idee, und dann sagte ich: “Weshalb machen wir es nicht so?” Und er antwortete: “Na, wenn Sie selbst die Lösungen finden, wozu brauchen Sie mich dann noch?” Die Arbeit, die er gemacht hatte, war nicht gut, und schließlich habe ich Czenzi Ormonde engagieren lassen, eine Mitarbeiterin von Ben Hecht. Als ich das Treatment fertig hatte, suchte der Chef der Warner jemand für die Dialoge, aber kein Schriftsteller wollte sich darauf einlassen. Niemand fand es gut.

Truffaut: Das wundert mich gar nicht. Gerade bei diesem Film habe ich mir oft gesagt, wenn ich das Drehbuch vorher gelesen hätte, hätte ich es bestimmt auch nicht gut gefunden. Man muß wirklich den Film sehen. Ich glaube, dasselbe Drehbuch von einem anderen verfilmt hätte einen schlechten Film ergeben. Das ist ganz in Ordnung, wie sollte man sonst erklären, daß alle die Leute, die Thriller à la Hitchcock haben machen wollen, unweigerlich auf die Nase gefallen sind?

Hitchcock: Das stimmt. Meine größte Chance war eben, daß ich für diese Ausdrucksform gewissermaßen das Monopol hatte. Niemand sonst interessierte es, ihre Regeln zu studieren.

Truffaut: Welche Regeln?

Hitchcock: Die Regeln des Suspense. Deshalb hatte ich letztlich die ganze Domäne für mich allein. Selznick hatte gesagt, ich sei für ihn der einzige Regisseur, dem er voll und ganz vertraute. Dabei hat er sich, als ich für ihn arbeitete, einmal sehr beklagt. Er hat gesagt, meine Art zu arbeiten sei ein Rebus, unverständlich wie die Kästchen beim Kreuzworträtsel. Weshalb? Weil ich immer nur ganz kleine Stückchen Film drehte und sonst nichts. Ohne mich hätte man sie nicht zusammensetzen können. Man hätte keinen anderen Schnitt machen können als den, den ich beim Drehen im Kopf hatte. Selznick kam aus einer Schule, in der man viel Material anhäufte und dann endlos im Schneideraum damit spielte. Wenn man so arbeitet wie ich, kann man sicher sein, daß einem die Firma nicht hinterher den Film vermasselt. Auf diese Weise habe ich auch bei dem Krach um “Suspicion” [“Verdacht”] gewonnen.

Truffaut: Das spürt man ganz genau in Ihren Filmen, man merkt, daß jede einzelne Einstellung nur auf eine Weise gedreht worden ist, von einem Standpunkt aus, mit einer bestimmten Dauer, ausgenommen vielleicht die Gerichts- und Prozeßszenen, überhaupt die Szenen mit viel Komparserie.

Hitchcock: Da ist es unvermeidlich, da geht es nicht anders. In “Strangers on a Train” ging es so mit dem Tennismatch. Ich hatte zuviel Material gedreht, und wenn man zuviel Material hat für eine Szene, ist man nicht mehr in der Lage, allein damit fertigzuwerden, dann gibt man es dem Cutter, daß er es trennt, und hinterher weiß man dann nicht, was er mit dem Rest gemacht hat. Das ist das Risiko.

Truffaut: Die Exposition von “Strangers on a Train” ist allgemein bewundert worden. Die Fahrtaufnahmen mit den Füßen, erst in der einen, dann in der anderen Richtung, und dann die Einstellung auf die Schienen. Die Schienen, die zusammenlaufen und sich wieder voneinander entfernen, das ist etwas symbolisch, wie die Richtungspfeile zu Beginn von “I Confess” [“Zum Schweigen verurteilt”]. Sie fangen Ihre Filme gern mit solchen Effekten an.

Hitchcock: Die Richtungspfeile gibt es in Quebec wirklich, sie bezeichnen Einbahnstraßen. In “Strangers on a Train” waren die Bilder von den Schienen die logische Fortsetzung des Motivs mit den Füßen. Praktisch ging es gar nicht anders.

Truffaut: Ah so, weshalb nicht?

Hitchcock: Die Kamera streifte die Schienen fast, weil sie nicht hochgehen konnte. Ich durfte, ich wollte es nicht, bis die Füße von Farley Granger und Robert Walker im Abteil aneinanderstießen.

Truffaut: Ah so. Das stimmt, denn ihre Füße, wie sie aneinanderstoßen, sind der Ausgangspunkt ihrer Beziehungen. Bis dahin mußten Sie dabei bleiben, ihre Gesichter nicht zu zeigen. Aber die Schienen legen auch die Vorstellung von Wegen nahe, die sich trennen.

Hitchcock: Natürlich. Ist es nicht ein faszinierendes Muster? Man könnte es stundenlang anschauen.

Truffaut: In Ihren Filmen begibt sich oft jemand irgendwohin, und dort erwartet ihn eine Überraschung. Ich glaube, in solch einem Fall - ich denke dabei nicht einmal an “Psycho” - schaffen Sie mit einem Trick immer einen Ablenkungs-Suspense, damit die Überraschung gleich darauf vollkommen ist.

Hitchcock: Das kann sein. Können Sie mir ein Beispiel nennen?

Truffaut: In “Strangers on a Train” hat Guy - Farley Granger - dem anderen, Bruno - Robert Walker -, das Versprechen gegeben, dessen Vater umzubringen, aber in Wahrheit denkt er nicht daran. Im Gegenteil, er will Brunos Vater warnen. So dringt Guy nachts in das Haus ein. Er muß in die erste Etage, in das Zimmer von Brunos Vater. Würde er ruhig die Treppe hinaufgehen, so würde der Zuschauer versuchen weiterzudenken, und vielleicht käme er darauf, daß nicht Brunos Vater ihn oben an der Treppe erwartet, sondern Bruno selbst. Aber darauf kommt man unmöglich, weil Sie einen kleinen Suspense einbauen mit einem großen Hund, der mitten auf der Treppe steht, und einen Augenblick lang ist es die Frage, ob der Hund Guy vorbeilassen wird, ohne ihn zu beißen. Stimmt das?

Hitchcock: Ja, das stimmt. In der Szene, die Sie erwähnen, haben wir zunächst einen Suspense-Effekt durch den drohenden Hund, und dann haben wir einen Überraschungseffekt, wenn im Zimmer nicht Brunos Vater ist, sondern Bruno selbst. Ich erinnere mich übrigens, daß wir Schwierigkeiten mit diesem Hund hatten, als er Farley Granger die Hand lecken sollte.

Truffaut: Ja, man spürt einen Trick, die Bilder sind in Zeitlupe aufgenommen oder doppelt kopiert.

Hitchcock: Das kann sein.

Truffaut: Ein bemerkenswerter Aspekt des Films ist die Manipulation mit der Zeit. Zunächst einmal die Spannung bei dem Tennismatch, das Granger in fünf Sätzen gewinnen muß, und als Parallelmontage dazu die Panik, die Robert Walker ergreift, wenn ihm durch Zufall Grangers Feuerzeug mit den Initialen G. H. - für Guy Haines - in den Gully fällt. In diesen beiden Szenen pressen Sie die Zeit besonders stark, wie man eine Zitrone preßt. Dann, wenn Bruno - Robert Walker - auf der Insel ankommt, lockern Sie den Griff, lassen Sie die Zeit normal verlaufen: Solange es Tag ist, kann Walker das Feuerzeug, das Haines belasten soll, nicht auf den Rasen legen. “Wann wird es hier dunkel?” fragt er einen der Kirmesleute. Die reale Zeit kommt zu ihrem Recht, weil Walker gezwungen ist, auf den Einbruch der Nacht zu warten. Dieses Spiel mit der Zeit ist wirklich umwerfend.

Dagegen habe ich mich etwas unwohl gefühlt bei der Schlußsequenz mit dem Karussell, das anfängt, verrückt zu spielen. Dabei verstehe ich sehr gut, daß Sie einen Paroxysmus brauchten.

Hitchcock: Ich glaube tatsächlich, daß es nicht gut gewesen wäre, nach sovielen farbigen Passagen keine, wie die Musiker sagen, Coda zu haben. Aber was ich da gemacht habe, treibt mir noch heute den Schweiß auf die Stirn. Der Schausteller, der kleine Mann, der unter das rasende Karussell kriecht, hat wirklich sein Leben riskiert. Wenn der Mann den Kopf nur um fünf Millimeter gehoben hätte, wäre er tot gewesen. Das hätte ich mir nie verziehen. So eine Szene mache ich nie wieder.

Truffaut: Aber wenn dann das Karussell auseinanderbricht?

Hitchcock: Oh, das war dann natürlich ein Modell. Die Hauptschwierigkeiten in dieser Szene bereiteten die Rückprojektionen, sie mußten nämlich der Einstellung entsprechend verschieden geneigt werden. Jedesmal, wenn wir den Einstellungswinkel wechselten, mußten wir auch den Projektor für die Rückprojektion neigen, wir hatten nämlich eine Menge Einstellungen aus Untersicht, mit der Kamera auf dem Boden, und wir verloren viel Zeit damit, die Einstellungsränder im Sucher der Kamera mit den Rändern der Rückprojektion in Übereinstimmung zu bringen. Wenn das Karussell auseinanderfällt, hatten wir ein vergrößertes Modell auf der Rückprojektion und ein richtiges Karussell vor der Leinwand.

Truffaut: Die Situation in “Strangers on a Train” ähnelt sehr der in “A Place in the Sun”, und ich frage mich, ob Patricia Highsmiths Roman nicht beeinflußt ist von Theodore Dreisers Roman “An American Tragedy”, nach dem George Stevens “A Place in the Sun” gedreht hat.

Hitchcock: Das ist nicht ausgeschlossen. Ich glaube, die Schwächen von “Strangers on a Train” liegen darin, daß die beiden Hauptdarsteller nicht stark genug waren und daß das Drehbuch nicht ganz perfekt war. Wäre der Dialog besser gewesen, hätte man eine stärkere Profilierung der Personen erreicht. Sehen Sie, das große Problem bei Filmen dieser Art ist, daß aus den Hauptpersonen zu leicht bloße Figuren werden.

Truffaut: Algebraische Figuren? Das ist das große Dilemma in allen Filmen und für alle Filmmacher: Eine starke Situation mit starren Figuren oder aber subtile Figuren in einer schlaffen Situation. Ich glaube, Ihre Filme haben immer starke Situationen, und “Strangers on a Train” gleicht eindeutig einer Grafik. Wenn die Stilisierung so berückend für die Augen und für den Geist wird, dann fasziniert sie auch die große Masse des Publikums.

Hitchcock: Ja, ich war sehr zufrieden mit der Form des Films im allgemeinen und auch mit den Nebenrollen. Ich mochte sehr gern die Frau, die umgebracht wird, ein wirkliches Luder, die, die im Schallplattenladen arbeitet, und auch Brunos Mutter, die mindestens so verrückt ist wie ihr Sohn.

Truffaut: Der einzige Vorwurf, den man dem Film machen könnte, betrifft den weiblichen Star, Ruth Roman.

Hitchcock: Sie war Star bei der Warner, und ich mußte sie nehmen, weil ich sonst keine Schauspieler der Firma im Film hatte. Aber unter uns, auch mit Farley Granger war ich nicht zufrieden. Er ist ein guter Schauspieler, aber ich hätte lieber William Holden gehabt, der ist stärker. In einer Geschichte wie dieser ist die Situation umso stärker, je stärker der Mann ist.

Truffaut: Granger war in “Rope” [“Cocktail für eine Leiche”] ganz ausgezeichnet, in “Strangers on a Train” ist er nicht sehr sympathisch. Ich hatte geglaubt, daß das Absicht sei, daß man ihn als einen Emporkömmling und Playboy sehen sollte. Ihm gegenüber hat Robert Walker natürlich sehr viel Poesie, und er wirkt ganz eindeutig sympathischer. Man spürt deutlich, daß hier der Schurke Ihre Sympathie hatte.

Hitchcock: Natürlich, das ist ganz klar.

Truffaut: Es gibt in Ihren Filmen und vor allem in “Strangers on a Train” häufig Unwahrscheinlichkeiten, nicht nur Zufälligkeiten, sondern ganz Willkürliches, Sachen, die nicht gerechtfertigt werden, die sich aber auf der Leinwand nur durch Ihre Autorität und durch eine ganz persönliche filmische Logik in Stärken verkehren.

Hitchcock: Diese filmische Logik, das sind die Gesetze des Suspense. Das ist wieder eine von den Geschichten, die den alten Vorwurf provozieren: “Weshalb ist er denn nicht zur Polizei gegangen?” Aber Sie dürfen nicht vergessen , daß immerhin Gründe aufgeführt wurden, weshalb er sich nicht an die Polizei wenden konnte.

Truffaut: Ich glaube, niemand kann an diesem Punkt Einwände machen. Wie “Shadow of a Doubt” [“Im Schatten des Zweifels”] ist dieser Film systematisch auf die Ziffer zwei aufgebaut, und wie dort könnten auch hier die beiden Personen denselben Vornamen haben, Guy oder Bruno. Es handelt sich eindeutig um eine Person geteilt in zwei.

Hitchcock: Bruno hat Guys Frau getötet, aber für Guy ist es genau, als ob er sie umgebracht hätte. Bruno ist ganz offensichtlich ein Psychopath.

Quelle: “Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?” von Francois Truffaut

Details
Ähnliche Filme