„Ein unschuldiger Mann hat nichts zu befürchten!“
Diesem Satz sollte man normalerweise vorbehaltlos Glauben schenken können. Doch immer wieder geschieht es, dass Unschuldige unter erdrückenden „Beweisen“ zusammengebrochen am Boden liegen und ihrer scheinbar unabwendbaren Verurteilung entgegenblicken. Alfred Hitchcock thematisierte die Qualen, die ein zu Unrecht in den Focus polizeilicher Ermittlungen genommener, rechtschaffener Bürger erlebt, im – betrachtet man sein gesamtes Oeuvre – eher Hitchcock-untypischen, durch eine wahre Begebenheit inspirierten „The Wrong Man“.
Christopher Emmanuel Balestrero (Henry Fonda) wird eines Abends verhaftet, weil er angeblich einige Überfälle begangen haben soll. Doch auch wenn er von Beginn an seine Unschuld beteuert, die Beweise lasten ihm die Taten an: Die Mitarbeiterinnen einer überfallenen Versicherungsgesellschaft identifizieren ihn als Täter, sein eigentlich hieb- und stichfestes Alibi wird immer löchriger, weil Zeugen, die seine Unschuldsbekundungen bekräftigen könnten, tot oder nicht mehr aufzufinden sind und die Polizei „erwirtschaftet“ sich überaus fragwürdige Indizien.
Alfred Hitchcock dokumentiert die Leidenstage dieses unrechtmäßig an den Pranger der Exekutive und Judikative gestellten Jedermanns ungewohnt nüchtern, ohne den Anflug jeglichen – für ihn so typischen – Humors, verlässt sich vollkommen auf die bedrückende Wirkung seines Hauptthemas. Der Kampf des unschuldigen kleinen Mannes, eines Don Quichote, der unerbittlich gegen die Windmühlen des staatlichen Systems ankämpft, um dann letztlich doch schon fast resignierend aufzugeben, fesselt ungemein, auch wenn das Thema gerade aus heutiger Betrachtung heraus schon fast den Charakter eines immer wiederkehrenden Bekannten in Film und Fernsehen hat.
Doch woher rührt dieses Fesselnde, das „Der falsche Mann“ über 100 Minuten interessant und trotz seiner über 50 Jahre frisch erscheinen lässt? Wieso ist gerade hier das Thema, dessen man schon fast müde sein müsste, so spannend, dass man sich als Zuschauer vollkommen dem „Master of Suspense“ ergibt?
In erster Linie rührt es aus der Kombination Hitchcock/Fonda her, einer hier offensichtlich perfekt aufeinander abgestimmten Symbiose aus großem filmischem Genie und beachtlichem schauspielerischem Understatement. Hitchcock fängt mit stilistischen Mitteln die wesentlichen Aspekte der Unterdrückung Balestreros in Bildern ein, die meist erst auf den zweiten Blick ihre wahre symbolische Tragkraft zu entfalten wissen und erschafft seinem Hauptdarsteller zugleich innerhalb eines gradlinigen, spannungsgeladenen Drehbuchs eine Bühne, auf der er mit seinen Qualitäten voll zur Geltung kommen kann. Fonda überzeichnet den Jedermann, der in den von Justiz und Polizei gemeinsam konstruierten Fängen gefesselt ist, als „Der falsche Mann“ nie. Er verleiht ihm zunächst eine stoische Würde, die jeder Zuschauer gerne in solch einer Situation an den Tag legen würde, um mit zunehmendem Fortschritt der Beweisfindung gleichermaßen in einer schier spürbaren Resignation aufzugehen, die ebenso nachvollziehbar ist. So gelingt es ihm, die Distanz zwischen Protagonist und Publikum auf ein Minimum zu reduzieren und den Zuschauer mit jeder Etappe seiner Tour de Force gegen die Bürokratie stärker in den Bann des Geschehens zu ziehen.
Dass unter einer solchen neuen, ungewohnten und belastenden Situation auch das private Umfeld des Beschuldigten leidet, ist eine nachvollziehbare „Randerscheinung“, die Hitchcock ebenso beleuchtet wie die immer stärker werdenden Ängste Balestreros. Dabei erweist sich Vera Miles als würdige Mitspielerin Fondas, indem sie die mit Fortschreiten des Geschehens aufkeimenden Zweifel von Rose Balestrero an der Unschuld ihres Mannes gekonnt darstellt. Zweifel, die Rose Balestrero in letzter Konsequenz an den Rand des Nervenzusammenbruchs und darüber hinaus treiben.
Hier zeigt sich dann auch die kritische Komponente von „The Wrong Man“ in seiner Gänze. Ungerechtfertigte Verdächtigung, voreilige Verurteilung von Verdächtigen, können das Leben eines Menschen und seiner Angehörigen gänzlich in seinen Grundfesten erschüttern, sogar zerstören. Eine Moral, die Henry Fonda nur kurze Zeit später in „Die zwölf Geschworenen“ in ähnlicher Form wieder begegnen sollte…
Auch wenn Hitchcock dadurch, dass er versucht, mit einer finalen Texttafel noch einmal einiges des Geschehenen umzukehren, der Mut zu konsequenter Umsetzung seiner Botschaft etwas in Abrede gestellt werden kann, ist ihm mit „Der falsche Mann“ ein Film geglückt, der in seiner Gesamtheit rundum stimmig erscheint. Zwar keineswegs in einem Atemzug mit seinen „Größten“ wie „Der unsichtbare Dritte“ oder „Vertigo“ zu nennen, aber in der zweiten Reihe des Hitchcock’schen Schaffens findet sich auf jeden Fall ein Platz für diesen so untypischen Hitchcock, von dem man dann doch wieder sagen könnte: „Typisch Hitchcock“… 9/10