Hier und dort sagt man mir ja manchmal nach, mein Hang zu bildlicher Sprache sei zu ausgeprägt. Doch wo Woody Allen mit dem Tennisspiel - genauer gesagt, mit dem Netzlupfer - selbst eine Metapher zum Ausgangspunkt seiner 37. Regiearbeit macht, möchte ich unbedingt eine weitere Metapher hinzufügen, um noch deutlicher zu machen, was hinter "Match Point" steckt, dem Portrait der Metrokultur Londons, die Allen hier ungewohnt düster inszeniert. Zu diesem Zweck verweise ich auf den Videospielklassiker "Pac-Man".
Das in den menschlichen Genen verankerte Streben nach Fortentwicklung und Aufstieg lässt sich anhand der mechanisch Punkte fressenden Spielfigur ("wacka-wacka-wacka") recht adäquat festmachen: Es geht darum, möglichst alle im Labyrinth (des Lebens?) verteilten Punkte zu fressen, um auf das nächste Level zu steigen. Behindert wird man durch vier Geister, deren Aufgabe es ist, das Fressen der Punkte und somit den Levelaufstieg zu verhindern. Der Pac-Man an sich ist ein Musterbeispiel für effizienten, erfolgsorientierten Reduktionismus: ein riesiges, gelbes Mondgesicht, das praktisch nur aus dem Fresswerkzeug besteht, das zum Aufsammeln der Punkte nötig ist. Alles andere ist unwichtig und wird demzufolge ausgespart.
Das besondere Spielgefühl bei "Pac-Man" besteht in der Einbildung des Spielers, den vier Geistern mit viel Spielwitz unendlich oft ein Schnippchen schlagen zu können. Man benötigt lediglich eine gute Strategie und schnelle Reflexe. Für hohen Spielspaß sorgt die Vorstellung, dass man den Spielverlauf immer unter Kontrolle zu haben glaubt, und wird man doch einmal von einem Geist geschnappt, so sagt man sich: das hätte verhindert werden können. Doch vermutlich ist diese Vorstellung nur eine Illusion. Manchmal ist es wohl einfach nur Glück, wenn der Geist in die leere Gasse abbiegt, anstatt dem Gelbling unumgänglich in die Quere zu kommen.
Der Mensch hat also nur bedingt die Kontrolle über seinen eigenen Werdegang und wird in einem erschreckend hohen Ausmaß vom puren Zufall gelenkt. Willkommen in "Match Point". Wenn Woody Allen dieser - aus seinem Oeuvre bereits altbekannten - Philosophie eine dramatische Vierecksbeziehung im gehobenen Londoner Milieu erzählerisch ausbreitet, so wird schnell klar, dass die Rechnung von einer typischen Love-Story mit riskantem Verlauf und versöhnlichem Happy End nicht aufgehen kann. Vielleicht verzeiht man aus diesem Wissen heraus auch die Tatsache, dass "Match Point" bis auf die Tennismetapher im Prolog und die letzte Viertelstunde an Spielhandlung nichts weiter ist als ein Beziehungsdrama nach konservativem Muster. So hingegen entsteht nun zwischen den trivialen Dialogen über Beruf, Liebe, Familie und Schuld ein diffuses Gefühl von Suspense, das sich selbstverständlich am Ende mit Nachdruck in Erkenntnis einlösen wird.
Und wenn etwas an diesem Film als meisterhaft deklariert werden muss, dann ist es der fast schon bipolar gezeichnete Konkurrenzkampf zwischen der Liebe einerseits und dem persönlichen Erfolg (ob nun im Beruf oder wie bei Emily Mortimers Figur in der Familienplanung) auf der anderen Seite. Was "Match point" dezent, aber ausschlaggebend von gewöhnlichen Liebesdramen unterscheidet, ist die Ansicht, dass diese beiden Facetten der menschlichen Selbstverwirklichung nicht nur unvereinbar sind, sondern dass das Streben nach dem persönlichen Erfolg das grundsätzlich dominantere Chromosom ist. Das ist der Grund, warum es in unserer Metapher keine Mrs. Pac-Man gibt und Pac-Man nur ein Maul hat, wo bei einem kompletten Wesen eigentlich ein liebendes Herz Platz finden sollte.
Nun demontiert Allen mit dieser Struktur nicht nur sämtliche Mechanismen des Liebesfilms, er spricht der Liebe angesichts der Dominanz der simultan ablaufenden ideologischen - in diesem Fall beruflichen und familiären - Selbstverwirklichung des Menschen sogar jegliches Funktionieren ab.
Jonathan Rhys Meyers, Emily Mortimer und Scarlett Johansson sind als Darsteller in diesem schematischen Komplex darauf bedacht, den Facettenreichtum menschlicher Triebe zunächst in seiner beeindruckenden Vielfalt aufzuzeigen, um sie anschließend zugunsten eines einzelnen, sich mit Gewalt durchsetzenden Triebes zusammenbrechen zu lassen. Alle drei Akteure flüchten von einer optionalen Ausgangssituation zunehmend in eine emotionale Einbahnstraße, impulsiv agierend und irgendwann kollidierend mit einem der anderen Akteure. So entsteht das Drama, begünstigt durch die darstellerisch weitestgehend starke Befolgung der schauspielerischen Evolution in diesem Film, insbesondere durch Johansson, deren Schauspielqualitäten normalerweise vielleicht durch ihre Schönheit leicht überschätzt werden, die hier allerdings jeden Kritiker verstummen lassen sollte. Rhys Meyers hinkt dem etwas hinterher, wobei die Blässe und Unsicherheit seiner Rolle nicht mit seiner Leistung verwechselt werden sollte.
In der erwähnten Einbahnstraße regiert dann endlich König Zufall, und obwohl man sich in dem von Unvorhergesehenem überschütteten Twist-Gewitter des Finales zuerst noch in einem Guy Ritchie-Streifen wähnt, erreicht das Schicksal diesmal natürlich wesentlich mehr Meta-Ebenen. Es handelt sich eben um die formell längst zu beeindruckenden Routine gereifte Umsetzung der Philosophie eines Regie-Altmeisters. Mit jener Philosophie muss man nicht D'accord gehen, man muss das pessimistische Weltbild Allens nicht teilen, aber es erzeugt eine markante Signatur, ein seltenes Gut im Filmgeschäft, für das alleine man schon dankbar sein muss.
Letzlich ist mit wirklicher Überzeugung nur wenig zu bemängeln. Vielleicht der konservative, gemächliche, so manche Klientel vermutlich langweilende Aufbau, der aber ja seinen Grund hat. Oder das streitbare Zufallsprinzip und die daraus entstehenden Wertevorstellungen Allens, die jedoch nichts mit der Qualität von "Match Point" zu tun haben sollten. Wenn ich etwas kritisieren muss, halte ich es mit der für mich nicht hundertprozentig zufriedenstellenden Tennis-Metapher, die nur einen Teil dessen auszudrücken imstande ist, was der Film tatsächlich beinhaltet. So verbleibe ich beim mir adäquater erscheinenden Pac-Man. Wobei natürlich anzunehmen ist, dass in der High Society das Tennisspiel dem Computerspielautomaten als Freizeitbeschäftigung vorgezogen wird...