Ein Epos über Homosexualität und noch viel tiefer liegende Dinge - psychologischer und gesellschaftlicher Art, selbst kultureller Art. Es ist angesiedelt in einem Genre, das normalerweise unweigerlich aufkommenden Parodien schon vorausgriff - diesen Film konnte niemand mehr verarschen, denn kaum jemand, der Humor im Feinen mag, würde sich auf das Niveau herablassen, allen Ernstes ein seriöses Drama um zwei schwule Cowboys aufs Korn zu nehmen. Bezeichnenderweise war sich lediglich die “Scary Movie”-Franchise nicht zu schade, in ihrem vierten Teil einen geschmacklosen Verweis einzubauen.
Dennoch barg die auf Annie Proulx’ Kurzgeschichte basierende Story selbstredend viel Risiko- und Aufregerpotenzial. Alleine der Gedanke, schon der Hauch von der Idee glich einem Drahtseilakt sondergleichen. Zu groß die Wahrscheinlichkeit, sich an dieser Ausgangslage zu verheben; zu breit die Angriffsfläche. Würde das Resultat nicht glücken, die Kritiker hätten leichtes Spiel mit ihrem Verriss. Ein ganz leichtes Spiel. Besonders nach dem leicht misskonzipierten “Hulk”, dem seither letzten Werk des Regisseurs.
Es glückte schlussendlich aus einem Grund: Weil Ang Lee Ang Lee ist.
Nachdem jeder noch so scharfe Kritiker von “Brokeback Mountain” - freilich wird nicht jeder einen Kniefall vor der schwierigen Thematik ablegen oder sich den (berechtigten) Lobeshymnen der Mehrheit anschließen - eingestehen muss, dass das Werk nicht den von manchen befürchteten, von manchem Zyniker hingegen gar herbeigesehnten Schwächen anheim fiel, die in der Konzeption “Schwulendrama im amerikanischen Weste(r)n” begründet liegt, ist das leichte Spiel für den Rezensenten schnell vorbei. Vielmehr ist nun zu begründen, wie das nahezu Unmögliche gelang. Sind die Stärken eines Ang Lee-Films ohnehin unheimlich schwer zu greifen und noch schwerer zu erklären, weil sie sich tief unter der Oberfläche des Offensichtlichen befinden, vervielfacht sich diese Schwierigkeit mit Proulx’ kontroverser Vorlage zum Quadrat.
Im Grunde betritt Ang Lee keinesfalls neuen Boden und ist auch gar nicht mal so mutig. Dieser Eindruck kann sich nur dann bilden, wenn man mit Plakat, Inhaltsangabe und Trailer vertraut ist und glaubt, sich aufgrund dessen ein Urteil bilden zu können, kurz: Wenn man das Werk auf die einfache Formel “Schwulendrama im amerikanischen Weste(r)n” reduziert.
Tatsächlich schmiegt sich “Brokeback Mountain” jedoch nahtlos in die restliche Vita des Taiwaners ein und ist damit erschlossenes Land.
Lee inszeniert stets kalt und unpathetisch, was von Außenstehenden oder solchen, die nicht allzu sehr mit seinem Lebenswerk vertraut sind, als künstlich oder gar unglaubwürdig fehlinterpretiert werden könnte. Tatsächlich schafft der Regisseur mit dieser Vorgehensweise jedoch eine Sphäre, unterhalb derer Dinge gedeihen, die seinen Kollegen ihr ganzes Leben lang nicht gelingt: Er dringt unter die Oberfläche seiner Charaktere und macht sie für das Publikum begreifbar.
“Brokeback Mountain” ist nun das Resultat der glücklichen Fügung, dass der richtige Mann für das richtige Projekt engagiert wurde. Genau genommen dürfte die Kollaboration mit “Glück” aber wenig zu tun haben, weil davon auszugehen ist, dass Lee sich seine Projekte nach bestem Gewissen aussucht und schon im Vorfeld genau wusste, wohin die Reise führen würde. Ergebnis dessen sind Filme wie das Wuxia-Epos “Tiger & Dragon”, die Comicverfilmung “Hulk” oder eben das vorliegende Liebes- und Diskriminierungsdrama; Filme, die nicht nur durch die unterschiedlichen Genres auf den ersten Blick andersartiger nicht sein könnten, sondern auch in Disziplinen wie Pacing, Dramaturgie, Effekte oder Actiongehalt stark voneinander abweichen. Lee scheint ein Meister des Facettenreichtums zu sein, doch ineinander geflochtene rote Fäden ziehen sich wie ein DNA-Strang durch sein komplettes Lebenswerk. Sie alle thematisieren im Kern das Gleiche: die Sehnsucht des Menschen, aus der Maske auszubrechen, die ihm die Gesellschaft auferlegt hat.
Dahingehend ist die dargestellte Homosexualität nurmehr ein Katalysator eines universellen Anliegens des Regisseurs. Mit dem angenehmen Nebeneffekt selbstverständlich, dass “Brokeback Mountain”, vielleicht zusammen mit der Serie “Six Feet Under”, die wichtigste und effektivste Aufklärung über Homosexualität im neuen Jahrtausend bereithält. Nicht etwa, weil analytisch und plausibel erläutert werden würde, dass es keine Krankheit ist, schwul zu sein. Vielmehr deswegen, weil die Neigung zu gleichgeschlechtlichen Partnern in diesem Rahmen nur die äußere Erscheinung eines tiefliegenden Bedürfnisses eines jeden Menschen ist, egal ob schwul oder nicht: Der Wunsch, sich frei entfalten zu können, der Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz... in diesem speziellen Fall zudem der Wunsch nach Nähe und Geborgenheit. Wiederum: unabhängig von der sexuellen Ausrichtung des Partners. Das sind Dinge, die jeder Mensch nachvollziehen kann und deswegen schafft Ang Lee es endlich wieder, was ihm kurz zuvor mit “Hulk” teilweise verwehrt blieb: er lässt sein Publikum in die Herzen der Protagonisten schauen.
Dass dies überhaupt gelingt, ist den grandiosen Leistungen von Jake Gyllenhaal und Heath Ledger zuzuschreiben. Insbesondere letzterer profitiert von seiner ungemein komplex geschriebenen Rolle, die vom Drehbuch leider auch ein wenig bevorteilt wird, was Gyllenhaals Figur zum Teil extrem in die Defensive drängt, wenngleich auch sie durch und durch differenziert ausgefallen ist und das Zeug zu mehr Ausarbeitung gehabt hätte, insbesondere in den Szenen rund um seine Familie (und speziell in den Auseinandersetzungen mit seinem Schwiegervater). Andererseits wird Ledgers Ennis del Mar jedoch zu Recht in den Mittelpunkt gestellt, weil sich zwar beide Figuren in den Jahrzehnten der Handlung entwickeln, aber im Grunde genommen nur Ennis derjenige ist, der auf der Suche nach seiner Existenz ist, die sein Partner Jack Twist schon längst gefunden hat.
Erzählt in grandiosen Bildern, wird die Sehnsucht unter Verzicht auf jeglichen Pathos durch sie manifest - die Kälte der Berglandschaft ist omnipräsent und trägt die mörderischen Vorurteile der Gesellschaft bis in diese scheinbare Idylle hinein. Der Brokeback Mountain ist ein Gefängnis für die Seele der beiden Menschen und doch der einzige Ort, an dem sie zusammen sein können. Deswegen wünscht sich Jack, dass seine Asche mal dort verstreut werden soll. Er spürt die Fesseln nicht mehr, weil er sich zu seiner Existenz bekennt. Der ironische Dreh am Ende verleiht dem soziologischen Grundsatz von den ungespürten Fesseln jedoch folgerichtig einen bösartigen Turn, als die moralische Richtigkeit sanktioniert wird. Dies ist das eigentliche Drama der Geschichte, dessen Wurzeln jedoch schon längst begonnen haben, als die Geschichte beginnt.
Sieht man von einigen wenigen Ungleichgewichtungen bezüglich der Figurenschreibung im zweiten Abschnitt mal ab, kann sich Ang Lee mit einer meisterhaften und beinahe makellosen Erzählung rühmen, die begleitet von konkurrenzlosen Bildern einen weiteren Baustein zum großen Kern beitragen, der im Zentrum des Regisseurs steht. Und dennoch ist es nicht “nur” ein Baustein für eine größere Sache, sondern verfügt für sich gesehen über einmalige Qualitäten, aber: es ist eben trotzdem auch ein Baustein. Diese Vielschichtigkeit verdeutlicht, dass “Brokeback Mountain” nicht einfach nur die Liebe zwischen zwei Männern dokumentiert. Wir sind mitten im Herzen dieser Männer, schweben aber auch beobachtend über der Gesellschaft, die wechselwirkend auf ihre Mitglieder einwirkt. Das ist Ang Lee.